eine Analyse von Eugen Zentner
Lesedauer 4 MinutenTeil 4 der kritischen Analyse zu den Mängeln und Fehlentwicklungen unseren freiheitlich-demokratischen Grundordnung heute – Teil 3 hier – Teil 2 hier – Teil 1 hier
Die Bürger und das politische Establishment entfremden sich zusehends. Dabei müsste dem Demokratieverständnis nach zwischen ihnen ein festes Band bestehen. Die Bürger wählen Abgeordnete, die sie vertreten und Entscheidungen treffen, die sich am Allgemeinwohl orientieren. Das ist die Theorie.
In der Praxis verfolgt das politische Establishment jedoch zunehmend eigene Interessen oder die des großen Kapitals. Die Sorgen und Nöte der Bürger scheinen ihnen wachsend egal zu sein, wie sich besonders während der Corona-Krise zeigte. Allerdings hatte sich schon davor ein markantes Muster herauskristallisiert: Wer mit den Entscheidungen des politischen Establishments unzufrieden ist, wird gesellschaftlich an den Rand gedrängt – durch Diffamierung, Zersetzungsmaßnahmen und Strafverfolgung.
Das führt zum Vertrauensverlust. Dass die Bürger sich nicht mehr auf das politische Establishment verlassen können, ist einer der zahlreichen Gründe für deren gegenseitige Entfremdung. Wenn die Entscheidungsträger in den Parteien und Ministerien jede Kritik kriminalisieren, bekommt das besonders dann ein Geschmäckle, wenn sie selber nicht nach den Regeln spielen. Die letzten Jahre legen davon Zeugnis ab. Sie waren geprägt von Verfehlungen und Fehlern, von Täuschung und Lügen, von Betrug, Skandalen und Affären. Konsequenzen werden selten gezogen. Zu Rücktritten kommt es kaum, und wenn, dann allenfalls aus machtpolitischen Erwägungen. Das erschüttert das Vertrauen der Bürger in deren Repräsentanten, zumal diese fachliche Kompetenz vermissen lassen. Bestes Beispiel dafür ist der gegenwärtige Bundeswirtschaftsminister, der nicht einmal zu wissen scheint, dass Insolvenz und Verkaufseinstellung zwei Seiten derselben Medaille darstellen.
Durchregieren als politische Praxis
Der Vertrauensverlust basiert auch darauf, dass seit der Kanzlerschaft Angela Merkels das Durchregierung zur Methode geworden ist. Das Parlament, das Haus der Volksrepräsentanten, hat kaum noch etwas zu sagen. Die Entscheidungen werden im Kanzleramt hinter geschlossenen Türen getroffen. Die Beschlüsse kommen dann in den Bundestag, wo sie die Abgeordneten lediglich abnicken. Das ist klassische Politik von oben, autoritär und undemokratisch. Gleichwohl beschleicht den Bürger das Gefühl, dass die Regierung trotz ihrer Alleingänge die Lage nicht im Griff hat. Sie verfolgt kein Programm mehr, sondern reagiert auf Krisen – die sie oftmals selber verschuldet hat.
Um Probleme zu lösen, setzt das politische Establishment verstärkt Experten ein. Die Bürger selbst werden nicht gefragt. Dadurch wächst das Gefühl, dass die politischen Entscheidungsträger sich nicht für sie interessieren und gar nicht wissen wollen, welche Lösungsvorschläge sie haben. Diese sollen eher in sogenannten Expertenkommissionen ausgearbeitet werden. Doch die sind demokratisch nicht legitimiert. Deren Mitglieder werden nicht vom Volk gewählt, sondern von der Regierung einberufen. Dementsprechend einseitig fallen die Entscheidungen aus. Die Expertenkommissionen liefern der Regierung lediglich eine Steilvorlage für politische Maßnahmen, die sie anschließend damit rechtfertigen, dass diese auf Fachwissen basiere. Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld bezeichnet diese Praxis als politischen Scientismus.
Interessen der Konzerne im Vordergrund
Anstatt den Blick auf die Wünsche und Sorgen der Bürger zu richten, orientiert sich das politische Establishment eher an den Interessen der Konzerne. Das ist ein weiteres Element der Entfremdung, die dadurch gesteigert wird, dass das große Kapital das Ruder übernimmt. Große Unternehmen setzen Regierungen unter Druck, indem sie etwa drohen, bei zu hohen Steuern oder ungünstigen rechtlichen Bedingungen den Standort zu wechseln. Mittlerweile ist es nicht ungewöhnlich, dass deren Anwaltskanzleien die Gesetzestexte selber schreiben. Diese Praxis fern ab demokratischer Prozesse erzeugt ihm Bürger Ohnmacht, weil ihm bewusst wird, dass er keinerlei Einfluss auf die Politik hat. Dem Bürger ist aber daran gelegen mitzugestalten, zum Beispiel bei Fragen, wie eine effiziente und funktionsfähige Verwaltung aussehen könnte. Doch diese wird seit Jahren schwerfälliger.
Gleichzeitig schrumpft der öffentliche Sektor und richtet sich an den Maßgaben der Privatwirtschaft, in einer Weise, dass von ihm keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr ausgehen. Wenn es eine Beteiligungsmöglichkeit gibt, dann allenfalls auf der Kommunal- und Landesebene. Der Bund, die Europäische Union oder internationale Organisationen erscheinen hingegen als politische Sphären, die außerhalb direkter Einflussmöglichkeiten liegen. Bürgerdemokratie ist darauf angewiesen, dass es öffentlich gestaltbare Räume und Institutionen gibt. Doch die gibt das politische Establishment aus den Händen des Staates und überlässt sie supranationalen Organisationen, Konzernen, NGOs oder großen Stiftungen.
Schwindende Loyalität
Ein weiteres Element der Entfremdung lässt sich in der schwindenden Loyalität ausmachen. Jede freie Regierungsform bedarf einer starken Identifikation seitens der Bürger. Doch die kann erst gar nicht entstehen, wenn patriotische Gesinnungen als nationalistisch diskreditiert werden. Wer heute Sympathie mit deutschen Tugenden oder deutscher Kultur zeigt, landet schnell in der rechten Ecke. Die Betroffenen verspüren dann erst gar keinen Wunsch, sich für das Gemeinwesen einzusetzen.
Die Folgen sind Gleichgültigkeit, Rückzug und Verweigerung, wie sich in der sinkenden Wahlbeteiligung zeigt. Selbst der Urnengang als Minimum demokratischer Partizipation erscheint den Bürgern sinnlos, zumal Wahlversprechen ohnehin nicht eingehalten werden. Die Hoffnung auf Verbesserung schwindet. Stattdessen greifen Frustration und Ärger um sich. Das politische Establishment reagiert darauf, indem es sich von den Resignierten weiter abwendet, weil von ihnen keine Stimmen zu holen sind. So entsteht ein Teufelskreis der Entfremdung, der nur dann durchbrochen werden kann, wenn die Bürger wieder das Gefühl bekommen, gehört zu werden. Momentan sieht es jedoch nicht danach aus, als wollte das politische Establishment ihnen sein Ohr schenken.