Wahlrechtsreform zur Reduzierung der Abgeordnetenzahl – Ein parteipolitisches Kalkül

ein Kommentar von Eugen Zentner

Lesedauer 5 Minuten
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Der amerikanische Staatstheoretiker Alexander_Hamilton – Portrait von John Trumbull (1806)

Teil 2 der kritischen Analyse zu den Mängeln und Fehlentwicklungen unseren freiheitlich-demokratischen Grundordnung heute – Teil 1 hier

Mit 736 Sitzen gilt der Bundestag derzeit als das größte Parlament weltweit – zumindest unter den demokratischen Staaten. Zwar fiel die Zahl in den letzten Legislaturperioden niedriger aus, aber immer noch umfangreicher als die gesetzlich angestrebte Größe von 598. Grund für die stetige Überschreitung sind die sogenannten Überhangmandate und Ausgleichsmandate.

Nach deutschem Wahlrecht entscheidet die Zweitstimme darüber, wie viele der vorgesehenen 598 Sitze im Bundestag jeweils einer Partei zukommen. Mit der Erststimme geben die Wähler hingegen ihre Präferenz für einen einzigen Kandidaten aus einem Wahlkreis ab. Wer am Ende die meisten Stimmen bekommt, gewinnt und zieht mit einem Direktmandat in den Bundestag ein. Erhält eine Partei mehr Direktmandate, als ihr eigentlich über die Zweitstimmenergebnisse zustehen, entstehen Überhangmandate.

Genau das will die jetzige Ampelkoalition ändern. Mit Beginn der Legislaturperiode Ende 2021 setzte sie sich das Ziel, den Bundestag dauerhaft auf 630 Sitze zu verkleinern. Am 17. März brachten die Regierungsparteien schließlich ihre Reform zur Reduzierung der Abgeordnetenzahl durch. Diese sieht vor, dass jede Partei künftig nur noch so viele Sitze erhält, wie ihr nach dem Zweistimmenergebnis zustehen. Auf diese Weise soll das Verhältniswahlrecht gestärkt werden, lautet das Argument. Zwar sollen in den Wahlkreisen weiterhin Direktkandidaten gewählt werden. Sie erhalten jedoch nur dann ein Mandat, wenn sich das mit dem Zweitergebnis deckt. Die bisherigen Überhangmandate fallen somit weg.

Grundmandatsklausel entfällt

Das soll auch für die sogenannte Grundmandatsklausel gelten. Von ihr profitierten bislang Parteien, die zwar die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwunden, aber mindestens drei Direktmandate gewonnen haben. Sie waren demnach mit diesen Kandidaten im Bundestag vertreten. Diese Regelung kam bei der letzten Bundestagswahl der Linkspartei zugute. Sie kam auf einen Zweistimmanteil von 4,9 Prozent, konnte aber mit drei Direktmandaten in Fraktionsstärke in das Parlament einziehen. Von Überhangmandaten hingegen profitierte bei der letzten Bundestagswahl die CSU. Sie gewann fast alle Wahlkreise in Bayern und erhielt am Ende elf Sitze mehr, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zugestanden hätten.

Angesichts dieser Gegebenheiten ist es wenig verwunderlich, dass Kritik an der Wahlrechtsreform vor allem von diesen beiden Parteien kommt. Die Linke hat Angst um ihre politische Existenz, und die CDU/CSU will nicht ihren Vorteil in Bayern verlieren. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kritisierte daher, dass eine Partei künftig in einem Land alle Wahlkreise gewinnen könne, ohne dass ein Kandidat in das Parlament einziehe. Hinter der Wahlrechtsreform vermutet die CDU/CSU die Absicht, die Opposition zu verkleinern. Die in der Ampelkoalition vertretene SPD spricht hingegen von einer „klaren Systementscheidung“ die darin bestehe, dass Parteien, die mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen erringen, auch an der Sitzverteilung teilnehmen.

Weiterer Zerfall der Volkssouveränität

Die Argumente lassen den Verdacht entstehen, dass die jeweiligen Parteien, ob sie sich nun für oder gegen eine Wahlrechtsreform aussprechen, eher parteipolitische Interessen verfolgen, anstatt einen demokratischen Fortschritt anzustreben. Dabei enthält die Wahlrechtreform tatsächlich mehrere Makel. Der durch sie ermöglichte Wegfall von Direktmandaten forciert den Zerfall der Volkssouveränität, die in dem gegenwärtigen System ohnehin schwach ausgeprägt ist.

Denn Direktkandidaten verdanken ihr Mandat den Wählern und nicht den eigenen Parteien, die nur Mitglieder auf die vorderen Listenplätze setzen, die dem Fraktionszwang unterliegen und nicht mit eigenständigen Entscheidungen abweichen. Sie repräsentieren tatsächlich das Volk und werden, wenn sie dessen Erwartungen nicht erfüllen, bei der nächsten Wahl in dem jeweiligen Wahlkreis mit dem Stimmzettel abgestraft. Daher fühlen sich direkt gewählte Abgeordnete dem Volk eher verpflichtet und agieren zumindest ein Stück weit unabhängiger als solche, die ihr Mandat einem sicheren Listenplatz verdanken.

Weitaus gravierender an der Wahlrechtsreform ist jedoch die Absicht, den Einzug einer Partei in den Bundestag allein von der Fünf-Prozent-Klausel abhängig zu machen. Diese dient von Anfang an als probates Mittel, vor allem kleine und neue Parteien auszuschalten. Das zeigte sich bereits bei den parlamentarischen Beratungen für das Wahlgesetz zum zweiten Deutschen Bundestag, als sich eine Mehrheit eigentlich schon auf die Absenkung der Sperrklausel auf drei Prozent einigte.

Doch plötzlich schwenkte die FDP um, in der Hoffnung, die noch kleineren Parteien auszustechen und als einziger Koalitionspartner der CDU/CSU übrig zu bleiben. Am Ende wurde die Sperrklausel nicht gesenkt, sondern sogar verschärft: Die fünf Prozent mussten in der Folge nicht nur in einem Bundesland, sondern im ganzen Bundesgebiet erlangt werden.

Eine weitere Verschärfung auf Betreiben der FDP erfolgte 1956, als nicht mehr ein Direktmandat erforderlich wurde, um in den Bundestag in Fraktionsstärke einzuziehen – sondern drei. Die Wahlrechtsreform vom 17. März schwächt nun auch diese Möglichkeit, indem sie die Ausschlusswirkung der Sperrklausel stärkt. Wenn jede Partei künftig nur noch so viele Sitze erhalten soll, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, werden gerade in der gegenwärtigen Krisenzeit, in der viele Bürger mit den etablierten Parteien unzufrieden sind, gleichsam vorbeugend vor allem neuen Parteien Steine in den Weg gelegt. Weil diese in der Regel klein anfangen, wachsen sie nur allmählich heran, indem sie zunächst in einem Bundesland Fuß fassen und dann schrittweise in den anderen. Die Fünf-Prozent-Klausel bezieht sich aber auf die ganze Republik, weshalb Anstrengungen wie das Werben um Mitglieder, das Besetzen von politischen Themen und das Erschließen von Wählerschichten auf mehrere Bundesländer verteilt werden müssen – ein enormer Kraftakt.

Psychologische Vorwirkung der Sperrklausel

Mit der alleinigen Ausrichtung des Wahlrechts auf die Sperrklausel entsteht ein weiterer Effekt, der dem demokratischen Prozess schadet. Bleibt eine Partei unter den fünf Prozent, kommen deren Stimmen den Parlamentsparteien im Verhältnis ihrer Größe zugute, auch denen, die die Wähler möglicherweise zutiefst ablehnen. Davon geht eine psychologische Wirkung aus: Aus Furcht vor solchen Konsequenzen geben manche Bürger ihre Stimme nicht den kleinen Parteien, auch wenn sie diese eigentlich wählen würden. Dann entscheiden sie sich innerhalb der Parlamentsparteien eher für das kleinere Übel. Eine Partei, deren Anhängerschaft im Volk eigentlich mehr als fünf Prozent beträgt, fällt aufgrund der psychologischen Vorwirkung der Klausel dennoch zum Opfer. Die Wahlrechtsreform vom 17. März trägt so zur Zementierung des politischen Systems bei, das sich immer mehr zu einer „geschlossenen Gesellschaft“ entwickelt.

Nun ist die Größe des Parlaments tatsächlich ein Problem und birgt Nachteile. Sie zeigen sich unter anderem in den höheren Kosten. Für das laufende Jahr 2023 sind zum Beispiel 150 Millionen Euro mehr eingeplant als noch 2019. Eine sehr große Zahl an Volksvertretern stellt jedoch nicht nur eine finanzielle Belastung dar, sondern erschwert auch die parlamentarische Arbeit, weil der Abstimmungsaufwand etwa in Arbeitsgruppen und Ausschüssen steigt und die Effektivität abnimmt. Diese Gründe bringt die Ampelkoalition an, um ihre Wahlrechtsreform zu verteidigen. Das Problem des zu großen Parlaments ließe sich aber auch anders lösen: Man könnte lediglich die vorhergesehenen 598 Sitze reduzieren, die bisherige Überhangmandate-Regelung und die Grundmandatsklausel aber beibehalten. Der Bundestag würde in Zukunft kleiner ausfallen als bislang, ohne dass kleine und neue Parteien ihrer Chancen beraubt werden würden.

Einen wirklichen demokratischen Fortschritt würde die Einführung der sogenannten „offenen bzw. freien Listenwahl“ darstellen. Die Wähler hätten dann einen direkten Einfluss auf die Reihenfolge der Bewerber auf den Landeslisten, womit die Freiheit des Mandats wieder an Bedeutung gewänne. Denn Abgeordnete, die ihr Mandat weniger der Partei als den Bürgern verdanken, agieren unabhängiger und lassen sich nicht so leicht in die Fraktionsdisziplin einbinden. Doch an dieser Neuerung scheint die Ampelkoalition nicht interessiert zu sein.

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