Einer Demokratie unwürdig – EU-Wahlrecht und die kläglichen Reformbemühungen

eine Analyse von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten
1bis19 - Einer Demokratie unwürdig – EU-Wahlrecht und die kläglichen Reformbemühungen
Alcide de Gasperi (1953)
Der italienische Ministerpräsident (1945-1953) Alcide de Gasperi war einer der treibenden Kräfte zur Gründung der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), 
des Vorläufers der Europäischen Union.

Teil 3 der kritischen Analyse zu den Mängeln und Fehlentwicklungen unseren freiheitlich-demokratischen Grundordnung heute – Teil 2 hier Teil 1 hier

Die Europäische Union (EU) gewinnt gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten immer mehr an Bedeutung und Souveränität, weist aber weiterhin gravierende Mängel in Sachen Demokratie auf. Sie zeigen sich insbesondere bei der Wahl des Europäischen Parlaments, obwohl seit 2002 Reformvorschläge vorgebracht werden. Sie beziehen sich unter anderem auf ein größeres Mitspracherecht der Bürger, die mehr Einfluss auf die Spitzenpositionen in der Europäischen Union bekommen sollen.

Bislang war es gängige Praxis, dass nicht sie entschieden haben, an wen der Posten des Kommissionspräsidenten geht, sondern die Funktionäre innerhalb der EU-Institutionen. Anders als beispielsweise in Deutschland tritt dieses Amt nicht unbedingt der Spitzenkandidat der Gewinnerpartei an, wie die letzte Wahl zeigte, als sich eigentlich Manfred Weber vom Bündnis EVP durchsetzte, aber am Schluss Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin wurde.

Ein weiterer Mangel besteht darin, dass transnationale bzw. gesamteuropäische Listen fehlen. Die Bürger eines Mitgliedstaates können lediglich eine Stimme für eine nationale Partei abgeben. Als problematisch gilt zudem die fehlende Einheitlichkeit des Wahlsystems, weil die Mitgliedstaaten die Europawahl unterschiedlich ausgestalten. Große Unterschiede ergeben sich bei der Sperrklausel.

Während rund die Hälfte der Mitgliedstaaten überhaupt keine Prozenthürde hat, setzten die restlichen Länder die Schwelle mal höher, mal niedriger an. Die Wahl selbst findet nicht am gleichen Tag statt, sondern meist zeitversetzt. Die Stimmabgabe per Brief ist nur in einigen Mitgliedstaaten möglich. Gleiches gilt für das passive Wahlrecht ab 18 Jahren.

In einigen EU-Staaten können die Kandidaten erst ab 21 Jahren antreten, in Italien sogar erst ab 25 Jahren. Ähnliche Unterschiede gibt es beim Wahlalter. In Deutschland, Österreich und Malta etwa können Bürger schon ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben, in den restlichen Ländern in einem höheren Lebensstadium.

Gesetzesvorschlag für eine Wahlrechtsreform

Im Mai letzten Jahres hat das Europäische Parlament einen Gesetzesvorschlag für eine Wahlrechtsreform eingebracht, mit der jene Mängel beseitigt werden sollten. Der Vorschlag sieht unter anderem eine Stärkung des Spitzenkandidatenprinzips vor, damit der Posten des Kommissionspräsidenten an den Spitzenkandidaten der Gewinnerpartei geht. Zudem soll eine Zweitstimme eingeführt werden, mit der die Bürger über länderübergreifende Wahllisten europäische Kandidaten wählen dürfen. Die Erststimme ermöglicht hingegen die Wahl der Abgeordneten in den Wahlkreisen der Mitgliedstaaten. Dabei will das Europäische Parlament für geografische Ausgewogenheit sorgen und schlägt vor, die Mitgliedstaaten je nach Bevölkerungszahl in drei Gruppen einzuteilen. Auf den länderübergreifenden Listen sollen die Kandidaten aus diesen drei Gruppen proportional vertreten sein.

Weil beim letzten Urnengang in manchen Ländern keine einzige Frau gewählt wurde, möchte das Europäische Parlament gegen das Geschlechtergefälle vorgehen. Es schlägt deshalb Quoten oder verbindliche Listen nach dem Reißverschlusssystem vor, sodass sie abwechselnd nur weibliche und nur männliche Kandidaten enthalten.

Was die Sperrklausel betrifft, hat das Europäische Parlament im Gesetzesentwurf die Prozenthürde bei 3,5 Prozent angesetzt, zumindest für Wahlkreise mit mindestens 60 zu vergebenen Sitzen. Das Wahlalter soll hingegen auf 16 Jahre gesenkt werden. Als einheitlichen Tag der Stimmabgabe schlägt das Europäische Parlament den 9. Mai vor, wobei die Mitgliedstaaten ihn zum Feiertag erklären sollten. Um das Verfahren zu überwachen, soll eine neue Wahlbehörde eingerichtet werden. Sie müsste dann auch darauf achten, dass die Mitgliedstaaten die neuen Vorschriften einhalten.

Nationale Regierungen torpedieren die Wahlrechtsreform

Über die Wahlrechtsreform wurde anschließend im Europäischen Parlament abgestimmt. 323 Abgeordnete votierten für den eingereichten Vorschlag, 262 dagegen. 48 enthielten sich. Und dennoch sieht es so aus, als würden die erwähnten Änderungen bei der anstehenden Europawahl im Juni 2024 nicht umgesetzt werden. Derartige Aktualisierungen unterliegen in der EU einem besonderen Beschlussverfahren. Nachdem das Europäische Parlament einen Vorschlag einbringt, muss der Rat der Europäischen Union den Text einstimmig annehmen, wobei zuvor Änderungen möglich sind.

Bevor die Wahlrechtsreform also in Kraft treten kann, bedarf es einer Genehmigung durch alle 27 EU-Mitgliedstaaten. Deren Regierungen sind jedoch geteilter Meinung. Das haben bereits frühere Reformversuche gezeigt, als sich nicht wenige Mitgliedstaaten gegen die Änderungen aussprachen – so auch in diesem Jahr.

Die größte Ablehnung erfährt das Vorhaben, den Wählern die Möglichkeit zu geben, ihren bevorzugten Kandidaten für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission anzugeben. Nur ein Land unterstützt diese Initiative, während fünf zunächst weitere Diskussionen fordern und 14 dagegen sind. Die meisten nationalen Regierungen ziehen es somit vor, dass die Entscheidung im Kreis der politischen Elite getroffen wird, so wie 2019, als Ursula von der Leyen plötzlich den Posten der Kommissionspräsidentin bekam, obwohl sie zuvor nicht einmal kandidiert hatte.

Reformvorhaben praktisch begraben

Nicht besser fällt das Ergebnis im Hinblick auf transnationale Wahllisten aus. Lediglich drei Länder sind dafür, während sieben weitere Diskussionen fordern und 11 Staaten sich dagegen aussprechen. Unstimmigkeit herrscht zudem bei der Senkung des Wahlalters. Sieben Länder möchten es auf 16 Jahre festlegen. Genauso viele fordern weitere Diskussionen.

Zehn nationale Regierungen sehen die Senkung des Wahlalters kritisch. Eine ähnlich schwache Zustimmung genießen eine Abgeordnetenkandidatur ab 18 Jahren sowie die Möglichkeit einer Briefwahl, auch für EU-Bürger in Drittstaaten. Die größte Zustimmung erfährt noch der Vorschlag, eine gemeinsame Sperrklausel zu bestimmen. Rund 17 Länder sprechen sich dafür aus.

In einer funktionierenden Demokratie sollte es eigentlich ein Unding sein, dass sich die Regierung einmischt, wenn das Parlament sein eigenes Wahlrecht regelt. Doch genau das passiert auf EU-Ebene. Zwar gibt es Korrekturbemühungen, doch die hören sich nicht wirklich überzeugend an. Französische Behörden etwa schlagen einen Kompromiss zu transnationalen Wahllisten vor, die mit den nationalen Listen verbunden werden sollen.

Noch unglaubwürdiger mutet die Ankündigung der amtierenden spanischen Ratspräsidentschaft an, die Wahlrechtsreform voranbringen zu wollen – allerdings nur auf Grundlage der Umfrage. Doch die hat ergeben, dass die wichtigen Bestandteile überwiegend abgelehnt werden. Damit ist das Reformvorhaben praktisch beerdigt, zumal nach der Sommerpause keine Veränderungen mehr möglich sind.

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