Von anständigen Bürgern

ein Kommentar von Camilla Hildebrandt

Lesedauer 5 Minuten
1bis19-Von anständigen Bürgern
Thomas Strobl auf dem Universitätsplatz Heidelberg 2017 FOTO © Sven Mandel

Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) meinte kürzlich: Seitdem eine allgemeine Impfpflicht diskutiert werde, stelle man bundesweit einen „deutlichen Anstieg des Versammlungsgeschehens“ fest. Weiter sagte er: Anständige Bürger beteiligen sich nicht an verbotenen Demonstrationen. Sie folgen auch Aufforderungen der Polizei und halten sich an Regeln.“ Anständig. Da fällt mir der Ratgeber für die gute, anständige Ehefrau von 1955 ein: Sie mögen ein Dutzend wichtiger Dinge auf dem Herzen haben, aber wenn er heimkommt, ist nicht der geeignete Augenblick, darüber zu sprechen. Lassen Sie ihn zuerst erzählen – und vergessen Sie nicht, dass seine Gesprächsthemen wichtiger sind als Ihre.“

Was der Bürger von heute denkt, ist folglich nicht wichtig. „Anständige“ Bürger und Bürgerinnen folgen den Aufforderungen der Polizei, der Politiker und Wissenschaftler. Eigenständiges Denken ist nicht erwünscht.

Was ist aber mit den Errungenschaften der Demokratie, festgehalten im deutschen Grundgesetz? Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt dazu: “Im politischen Sprachgebrauch werden als Demonstrationen insbesondere öffentliche Versammlungen verstanden, die, meist unter freiem Himmel, als Aufzüge oder Kundgebungen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu wecken und/oder ihre Unterstützung für bestimmte Forderungen unter Beweis zu stellen oder zu erreichen suchen. (…) Zudem wird das Demonstrationsrecht als ein Instrument zur Herstellung unmittelbarer, demokratischer Öffentlichkeit durch das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2 geschützt. Die Bedingung der Versammlungsfreiheit zum Zweck einer kollektiven Willens- und Meinungskundgebung lautet: “friedlich und ohne Waffen”.

Absichtsvolle Diskreditierung

Werden Demonstrationen verboten oder Demonstranten kriminalisiert, so wird dem Volk „ein Instrument zur Herstellung unmittelbarer, demokratischer Öffentlichkeit“ verwehrt.Der Bürger soll Folge leisten, nicht seine Meinung kundtun. Aktuell werden Demonstrationen immer wieder verboten, Begründung: die mögliche Ansteckungsgefahr.
Die Spaziergänger, die sich nun seit Wochen ohne Anmeldung zusammenfinden, werden willkürlich mit Rechtsextremen gleichgesetzt und als gewaltbereit diskreditiert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am 24. Januar 2022 bei einer Gesprächsrunde in Berlin: „Wer sich gegen unser Recht stellt und sich mit selbst erklärten Staatsfeinden und verfassungsschutzbekannten Rechtsextremisten gemein macht, der kann sich nicht mehr glaubwürdig auf Demokratie und Freiheit berufen“. Und: „Der ‘Spaziergang’ hat seine Unschuld verloren.“ Der Bundespräsident sagt, die Spaziergänger würden sich mit „selbst erklärten Staatsfeinden und verfassungsschutzbekannten Rechtsextremisten“ gemein machen. Daraus lässt sich ableiten: Demonstranten und Spaziergänger sind persona non grata (bzw. personae non gratae) und müssen bekämpft werden. Oder wie könnte man sonst die brutalen Angriffe auf Spaziergänger erklären, die sich mittlerweile häufen.

Protokoll einer Spaziergängerin vom 10. Januar 2022 in Berlin-Friedrichshain:

Gegen 18 Uhr treffen sich rund fünfzig friedliche Spaziergänger vor dem Kosmos in der Karl-Marx-Allee. Kurze Zeit später kommt die Aufforderung von einer Gruppe Polizisten, die Versammlung aufzulösen. Wir gehen aber weiter. In der Mühsamstraße stellen sich uns die gleichen Polizisten in den Weg, weisen darauf hin, dass es lächerlich sei, was wir machen, wir dürften nicht gemeinsam laufen. „Ich gehe jetzt hier lang.“ Polizist: „Aber nicht alle zusammen!“ Wir laufen trotzdem weiter, kreuzen die Petersburger Straße, ein Streifenwagen fährt vorbei. Nach ca. zehn Minuten ist keine Polizei mehr zu sehen. Plötzlich sehen wir rund 15-20 schwarz gekleidete Menschen.“


Bürger kämpfen gegen ihresgleichen, aufgrund einer potentiellen, von Volksvertretern und Medien evidenzlos erklärten Gefahr – zuerst der Ansteckung und jetzt des Rechtsradikalismus. Die Eckernförder Zeitung meldet:„Die “Antifaschistische Aktion” hat für Montag, 7. Februar 2022, um 16.45 Uhr vor der Holzbrücke zu einer Gegendemonstration gegen die “Spaziergänge” der Impfgegner aufgerufen. Rechte würden dort ihre Ideologien verbreiten.

Die Frau neben mir sagt: Das ist nicht die Polizei. Das ist die Antifa. Ich habe einen vom letzten Mal erkannt. Wir laufen zurück auf die rechte Seite der Straße, um ihnen auszuweichen. Dort ist noch eine Gruppe von ca. 8-10 schwarz gekleideten Leuten, die sich Masken aufziehen. Es sind auch Frauen dabei. Ich versuche Augenkontakt aufzunehmen und frage, was das soll. Keine Antwort. Sie nehmen mich gar nicht wahr, sondern sind fokussiert auf die größere Gruppe auf dem linken Fußgängerweg. Sie wirken fast militärisch.“

Potentielle Gefahr wird zur realen Gefahr erklärt

Dass Rechtsextreme vorhandene Plattformen oder Veranstaltungen für sich nutzen können und dies auch tun, ist außer Frage. Aber Kontaktschuld existiert nicht. Wenn ein Rechtsextremer oder mehrere bei einem Spaziergang zugegen sind, sind alle anderen nicht unmittelbar rechter Gesinnung. Sie machen sich auch nicht mit Extrem-Denkern gemein, nur, weil diese anwesend sind. Rechtes Gedankengut gibt es überall in Deutschland, in Parteien (nicht nur in der AfD), in Konzernen, im Privaten, in Sportvereinen. Ein offener Umgang mit Bürgern und Bürgerinnen radikaler Gesinnung und vor allem Aufklärung wäre notwendig. Stattdessen kommt der Kontaktschuld-Vorwurf: Schon die Befürchtung, dass sich eventuell ein gewaltbereiter Rechtsradikaler unter die Spaziergänger mischen könnte, macht diese zu Staatsfeinden.


„Dann geht es sehr schnell – extrem aggressiv stürmt der schwarz gekleidete Mob auf die Gruppe hinter uns zu. Sie trampeln laut und brüllen etwas wie: „Verpisst euch hier!“ Ich bin schockiert, bleibe stehen. Die „Spaziergänger“ werden angegriffen. Es sieht wie Handgemenge aus, es wird gebrüllt, die Gruppe wird von den schwarz gekleideten Leuten auseinandergetrieben und tatsächlich verjagt! Sie laufen hinterher, als sich die Gruppe zerstreut. Es ist keine Polizei zu sehen. Ich habe so etwas noch nie erlebt und mein vielleicht etwas naives Weltbild wurde wieder einmal erschüttert. Das Verhalten bewerte ich als menschenverachtend.“


Aktuell bilden sich bereits Gegendemonstrationen gegen die Spaziergänger, wie z.B. in Dresden. Die Welt schreibt am 23. Januar 2022:„Ihnen geht es darum Rechtsextremen etwas entgegenzusetzen“. Die Eventualität, dass sich andere bei einem Spaziergang mit Corona anstecken könnten, macht Spaziergänger zu Gefährdern. „Neue Allgemeinverfügung Landsberg, 04.02.2022: Maskenpflicht für „Spaziergänger“. Die Annahme, dass Spaziergänger handgreiflich werden könnten, macht sie zu Kriminellen. Das bedeutet: Potentielle Gefährder – Spaziergänger – können öffentlich bekämpft werden, ohne realen Tatbestand.

Von der Sprache zur Gewalt gegen Spaziergänger

Von wem geht die Gewalt aus? Die Bildzeitung schreibt am 01. Februar 2022: „Der Oberbürgermeister von Ostfildern verbietet per Verfügung unangemeldete „Spaziergänge“ gegen die Corona-Regeln und droht bei Zuwiderhandlung mit „Waffengebrauch“. Das Vergehen der „Spaziergänger“: Sie tragen an der frischen Luft keine Maske.“

Wenn Volksvertreter die Kritiker ihrer Politik zu „potentiellen Staatsfeinden“ erklären und ihnen mit Waffengewalt drohen, dann muss es ein probates und erlaubtes Mittel sein, denkt sich der Bürger. Denn besagte Volksvertreter wie der OB von Ostfildern Cristof Bolay (SPD) wurden doch demokratisch gewählt.

Wir bewegen uns zurück Richtung Mühsamstraße. Die drei Frauen und ich haben beschlossen, den anderen hinterher zu gehen, um zu gucken, wie es ihnen geht. Habe zuvor erfolglos versucht mit Freunden Kontakt aufzunehmen. Wir wussten nicht, ob es Verletzte gibt. Eine Gruppe der „Antifas“ kommt uns derweil entgegen. Wir beschließen, zu zweit weiterzulaufen, damit sie uns nicht als „Spaziergänger“ identifizieren. Einer von uns filmte den Angriff der Antifa. Als sie das bemerkten, ging eine regelrechte Hetzjagd auf den Filmer los.“

In einem Interview mit Felix Müller von der Mobilen Beratung Rechtsextremismus in der Berliner Zeitung vom 05. Februar 2022 heißt es: “´Wir sind das Volk´-Rufe seien ein Zeichen für das große antidemokratische Potenzial dieser Proteste. Es werde von einer sogenannten Corona-Diktatur gesprochen. „Diese Wahrnehmung“ so Müller, „wird dann mit der Losung ‚Friede, Freiheit, Selbstbestimmung` beantwortet, aber eben auch mit ‚Widerstand`“.Wenn tausende Menschen Woche für Woche auf die Straße gehen, um ihre Meinung kundzutun und `Wir sind das Volk` rufen, sind die dann antidemokratisch?

Welche Art des Zusammenlebens streben wir an

Ist das die neue Gesellschaftsordnung in Deutschland? Ein System, das sich als Demokratie bezeichnet, aber deren Volksvertreter die Grundrechte mit Füßen treten? Das Demonstrationsrecht ist „ein Instrument zur Herstellung unmittelbarer, demokratischer Öffentlichkeit durch das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2“. Genau so nehmen es Spaziergänger in Anspruch: „Wir wollen friedlich unsere Meinung kundtun“, sagt Andreas Hansche aus Berlin, „das ist unser Recht in einer Demokratie.“ Hansche hat an rund dreißig Spaziergängen und Demonstrationen teilgenommen und nicht ein Mal Gewalt durch die Teilnehmenden erlebt. „Ich bin gegen die Corona-Maßnahmen, da sie jeglicher Evidenz entbehren. Ich bin gegen die Einschränkung der Grundrechte und vor allem gegen die Impfpflicht. Eine Impfung schützt keinen anderen, nur mich selbst, das ist erwiesen. Ich lasse mich nicht zwangsimpfen, damit ich meinen Job nicht verliere oder meine gesellschaftliche Stellung. Das muss ich sagen dürfen, das muss eine Demokratie – wenn sie denn noch eine ist – aushalten. Es ist mein Recht, dies friedlich kundzutun.“

Am Rathaus Lichtenberg ist eine komplett andere Stimmung. Die Zivilpolizei bleibt an der Seite, es ist ein Mannschaftswagen der Polizei vor Ort. Ein Polizist geht ab und zu durch die Reihen der Leute, macht aber nichts. Etwa 30-40 Leute stehen vor dem Rathaus, trinken Bier und unterhalten sich. Alles friedlich.“

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