Teil 1: Die Figur des Verschwörungstheoretikers in der Extremismus- Forschung*
von Katja Leyhausen
Lesedauer 7 MinutenGerade habe ich von einer Familie im Bekanntenkreis gehört, dass sie ihre Tochter – 18 Jahre alt – diesen Winter nach einem positiven COVID-Test für zwei Wochen in ihr Zimmer verbannt haben. Das Essen wurde vor die Tür gestellt. Ich will lieber nicht wissen, ob diese Eltern jetzt vielleicht auf Friedensdemonstrationen gehen. Ich kenne Menschen, die sich bis vor kurzem kaum aus dem Haus trauten, sich aber jetzt dicht an dicht auf Demonstrationen drängen. Bis zum 24. Februar, als die russische Armee in die Ukraine einmarschierte, folgten sie dem Ruf von Regierung und Medien, und seit dem 24. Februar folgen sie wieder dem Ruf von Regierung und Medien. Es sind Freunde, und ich verstehe sie nicht.
Manchmal denke ich: Sie leben in einer anderen Welt, sie wohnen in einem ganz anderen Haus als ich. Ich bleibe mal in diesem Bild des Hauses. Es ist, als hätten sie sich eine Zwischenetage eingezogen zwischen oben und unten: Oben im Dachstübchen ist die schwierige Nachrichtenlage, ein Archiv von Texten und Dokumenten. Da ist es eng und man muss mühsam hinaufsteigen. Unten im Erdgeschoss findet das bodenständige Alltagsleben statt, wo wir aufgrund unserer Erfahrungen und Beziehungen ganz gut beurteilen können, ob es jemandem schlecht geht, ob man einem Kranken helfen oder im Kinderzimmer deeskalierend eingreifen muss. In Krisenzeiten muss man dauernd von unten nach oben und von oben nach unten laufen, um Lebenserfahrung und Theorie miteinander abzugleichen.
Realitätssimulationen im Zwischengeschoss
Aber es gibt diese Häuser mit Zwischengeschoss. Hier ist zusätzlich noch eine weitere Etage eingezogen, wo nicht kritischer Nachrichten- und Dokumentenvergleich oder Lebenserfahrung herrschen, schon gar kein Austausch, sondern zwingende Symbole. Da gab es doch diese Sätze, die im Zusammenhang mit Corona immer wieder gefallen sind: “Ich sah die Bilder von Bergamo, und da war doch klar, dass wir in den Lockdown gehen müssen. Ich will lieber vorsichtig sein, denn die Zahlen gehen wieder hoch!” Die Frage, was die Bilder von Bergamo überhaupt zeigen oder was steigende Meldeinzidenzen überhaupt bedeuten, wird von den Bewohnern der Zwischenetage bis heute nicht gestellt. Man macht einfach, was diese Symbole zwingend anordnen. Mächtige Medien und Politiker mussten nur immer wieder das Wort Solidarität benutzen, die Bilder von Bergamo und die Meldeinzidenzen – und schon sperrten Eltern ihre jugendlichen Kinder ein. Dafür berufen sie sich auf Bilder (weil Bilder authentisch sind und wahr), auf Zahlen (weil Zahlen objektiv sind und wissenschaftlich), auf moralische Fangwörter (denn uns verbinden ja Werte). Und dann exekutiert man Maßnahmen, die sich angeblich zwangsläufig daraus herleiten, die aber mit wissenschaftlicher Evidenz oder kluger Alltagseinsicht nichts zu tun haben. Es sind Realitätssimulationen, und mit ihnen lebt es sich auf dem Zwischengeschoss sehr bequem.
Nur Leugner wie wir treiben sich im ganzen Haus herum und fragen deshalb: Was sollen diese Masken noch mal? Und was soll eigentlich dieser Hühnerstall, den das Ordnungsamt und so viele Polizisten heute um uns herum mit Absperrgittern aufgebaut haben? Was sind das für Symbole? Welche Realität simulieren wir hier? Was ergibt sich daraus? Virensicherheit? Gedankenpolizei? Arroganz der Macht?
Die Figur des Verschwörungstheoretikers als Realitätssimulation
Nun, Hühnerstall und Maske zeigen: Auch wir Demonstranten werden zum Gegenstand von Realitätssimulationen mit zwingender Handlungsanweisung gemacht, nicht nur das Virus. Eine der wichtigsten von ihnen heißt: Demonstranten sind Verschwörungstheoretiker – und zwar immer dann, wenn sie die Regierung kritisieren. Denn sie unterstellen der Regierung böse Absichten, Pläne und heimliche Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie der EU und der WHO.
Die Verschwörungstheoretiker-Forschung boomt: Private Denkfabriken beteiligen sich daran, Parteistiftungen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung, staatliche Behörden wie die Bundeszentrale für politische Bildung und natürlich Universitäten, die dem Wortlaut unseres Grundgesetzes nach zwar in Forschung und Lehre frei sind, die aber de facto abhängig sind von den Drittelmitteltöpfen. Alle diese Akteure simulieren gute Absichten und Gemeinnützigkeit, und alle verdienen damit gutes Geld. Sie bekommen auch viel mediale Aufmerksamkeit. Alle paar Tage erscheint einer dieser Experten in einem der niedrigschwelligen Medienangebote, bspw. in den Hauptnachrichten von ARD und ZDF oder im Deutschlandfunk (wo man nur einschalten muss, um sich informiert zu fühlen) oder in einer Lieblingszeitung wie Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Die Zeit (die man morgens beim Capuccino gerne aufblättert). Mit den Schlagzeilen, die diese Experten dort platzieren, machen sie außerdem auf den Twitter-Accounts anderer gutgläubiger Multiplikatoren Karriere.
Um welche Forschungsrichtung geht es? Die Medien gehen direkt zu sogenannten Extremismusforschern, wenn sie sich über regierungskritische Demonstranten unterrichten wollen. Hier zwischen diesen Absperrgittern wird einem dabei besonders deutlich: Es ist eben doch etwas ganz anderes, ob man ein Huhn aus dem Stall zum Tierarzt bringt oder zum Koch, wenn man etwas erfahren will über Zustand und Verwendbarkeit des Huhns. Sogar die Aktion #allesaufdentisch – diese Interviews mit Wissenschaftlern und Fachleuten – wurde in den Medien von “Experten für Verschwörungsideologien” kommentiert (Augsburger Allgemeine 30.9.2021). Meistens machen sie sich noch wichtiger und nennen sich “Experten für Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus” (RND/epd 2.10.2021). Es sind Experten für das Böse. Sie erforschen, welche heimlichen Absichten und Netzwerke hinter einer Aktion wie #allesaufdentisch stecken und hinter regierungskritischen Demonstrationen. Sie setzen Wissenschaftler und Demonstranten mit gefährlichen Extremisten gleich, und dafür brauchen sie das Fangwort Verschwörungstheoretiker.
Klettern sie auf den Boden der Alltagseinsicht herunter, so viel sei vorweggenommen, dann wird es für sie ganz schwierig. Immer wieder geistert die bodenständige Frage durch die Medien: Wer sind eigentlich diese Leute da, die gegen Corona-Maßnahmen und Impfzwang demonstrieren? In einem Bericht über die Kasseler Demonstration vom 20. März letzten Jahres mit 20 000 Teilnehmern meinte der Bayrische Rundfunk: “Die Demonstranten waren bunt gemischt: Familien, Querdenker, Selbstständige, Verschwörungstheoretiker, Hippies und Impfgegner” (BR 20.3.2021) – wörtlich, in genau dieser Reihenfolge.
Kriminalisierung als Forschungszusammenhang
Ich bin Sprachwissenschaftlerin bzw. Linguistin und beschäftige mich mit dem Aufbau und Zusammenhang von Texten. Die textlinguistische Aufgabe ist es, nach dem roten Faden zu suchen, der solche Berichte über Familien, Querdenker, Selbstständige, Verschwörungstheoretiker, Hippies und Impfgegner zusammenhält. Dafür habe ich 40 Texte ausgewertet, die nach Befragung der Verschwörungstheoretiker-Forschung in den Massenmedien veröffentlicht wurden. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen: Der Zusammenhang liegt nicht in der Sache, nicht in der Information, noch nicht einmal in der negativen Bewertung und Diffamierung. Er liegt in der Kriminalisierung der Demonstranten und Maßnahmenkritiker. Man erkennt das durch eine Analyse der sprachlichen Handlungen. Fortlaufend rufen diese Experten in den Medien: Schließt sie aus Gesellschaft und Öffentlichkeit aus, brecht die Kontakte zu ihnen ab, vermeidet Diskussionen, verbietet ihnen, sich im Internet und auf der Straße zu äußern, und bestraft sie, wenn sie es trotzdem versuchen. Dafür brauchen sie sprachlich die Verben können, dürfen, wollen, sollen, müssen. Und vor allem brauchen sie, wie für einen Film, die Hauptfigur des Verschwörungstheoretikers. Ich zeige mal, wie sie die Realität dieser Filmfigur simulieren:
- Der Verschwörungstheoretiker, also der Demonstrant und kritische Wissenschaftler ist eine Figur, über die man sich nur empören oder lustig machen kann. Am liebsten befragen diese Experten und Journalisten, gleich am Anfang ihres Berichts, leichtgläubige Menschen aus ihren eigenen Reihen. Sie fordern sie sinngemäß auf: Nennen sie doch mal die absurdeste Behauptung, die sie jemals von einem Querdenker, Corona-Leugner, Impfgegner usw. gehört haben (Chrismon 27.05.2021). Den Sätzen, die dann zitiert werden, sieht man häufig an, dass diese Journalisten und Experten sie selbst frei erfunden haben – so platt sind sie. „Covid gibt es doch gar nicht“ ist eine dieser Behauptungen, eine einfallslose Übersetzung des Schimpfwortes Corona-Leugner. Aufgeregt wird dann festgestellt, dass das – was sie zur Not selbst erfunden haben – im Internet, auf Telegram und auf Demonstrationen verbreitet werden kann/darf, dass das immer noch erlaubt ist (RND 08.04.2021; Chrismon 25.06.21; Correctiv 28.06.2021; Der Standard, 24.09.2021).
- Dann wird vor diesen Personen gewarnt, denn “sie sind gefährlich” oder können gefährlich werden (SZ 11.05.2021; Chrismon 27.05.2021). In der Verschwörungstheoretiker-Forschung sind das selbstbewahrheitende Behauptungen. Wer schon in der Überschrift eines Berichts oder einer sogenannten Expertenstudie von “Impfgegnern” spricht, der stempelt die Kritiker von vornherein als radikal ab (ZDF heute 4.12.2021). Man denke an das Wortspiel mit dem “Spinatgegner”: Zu sagen, dass ein “Impfgegner/Spinatgegner sich radikalisiert/radikalisiert hat” oder “radikalisieren konnte”, das ist so viel, wie zu sagen, dass Frauen weiblich sind und Kinder noch nicht erwachsen. Vom Standpunkt der Logik her ist das eine Tautologie. Hier ist es die Wiederholung desselben kriminalisierenden Extremismus-Vorwurfs. Dazu kommen Spekulationen darüber, dass “demokratische Prozesse ins Wanken” gebracht werden sollen, dass diese Figuren auf Telegram mobil machen und immer mehr “Leute auf ihre Seite bringen” wollen, dass ”die Einführung einer Impfpflicht” bei ihnen “zu einer Verstärkung der Gewalt führen” kann (MDR 17.06.2021; web.de 23.08.2021; Der Standard, 24.09.2021; ZDF heute 04.12.2021; Der Standard 03.01.2022). Solche Berichte sind manchmal unfreiwillig komisch, wenn sich eine Expertin darüber empört, dass die Demonstranten ihr das Wochenende in ihrem ruhigen Stadtviertel verderben (Foreign Policy 13.09.2021), oder dass sie sich beim Familientreffen wieder auf eine endlose Diskussion mit einem Querdenker einlassen muss (Chrismon 25.06.21). Dabei würde sie viel lieber Fotos vom letzten Ski-Urlaub angucken! Auch damit spinnen die Berichterstatter am roten Faden der Kriminalisierung. Denn durch solche persönlichen Belästigungen wird die Empörung angestachelt, und die Warnung: Vorsicht! Diese Leute stören! Es kommen dann
- übergriffige Ratschläge, wie man mit den Störern umgehen soll oder darf/kann (falls man noch ethische Vorbehalte hat), auch im privaten Bereich (t-online 04.05.2021; Chrismon 27.05.2021). Da heißt es, ich zitiere: “Setzen sie Grenzen, geben sie ein klares Signal, Manipulation im positiven Sinne ist erlaubt, Loben etwa” ist “sehr hilfreich im Umgang mit Verschwörungsgläubigen.“ Man soll ihnen sagen: Ich finde das ganz toll, dass du dich so ernsthaft um Informationen bemühst! Und schließlich heißt es: „Natürlich dürfen sich Kontakte auch verändern” (Chrismon 25.06.21). Das steht in einem Magazin der evangelischen Kirche. Sie fordert zu Manipulation auf, zu Diskussions- und Kontaktabbruch – sogar im engsten Freundes- und Familienkreis. Im weiteren Textverlauf wird die Erziehung zum Guten und zum Wahren auf den öffentlichen Bereich ausgedehnt. Die Berichte malen ein schmutziges “Milieu” von Demokratiefeinden, in das man ganz schnell “abrutschen/abgleiten” kann und gegen das man etwas unternehmen muss (Tagesschau 01.10.2021; RND/epd, 02.10.2021). Es wird bspw. getitelt: “Eine Rentnerin geht dahin, wo es schmutzig ist”, und darauf folgt die Heldengeschichte einer Frau, die auf Twitter nach verdächtigen Postings fahndet, um sie anzuzeigen. Jeder solle diesen Corona-Leugnern ein kräftiges “Nie wieder! ins Gesicht rufen” (Chrismon 25.06.21). Dieser bekannte geschichtliche Vergleich des “Nie wieder!” – also: Nie wieder Faschismus! – ist mit der bekannten Doppelmoral nur diesen Experten erlaubt. Sie benutzen ihn für die medienwirksame Kriminalisierung der Maßnahmenkritiker. Vollendet wird die Kriminalisierung schließlich, indem
- die befragten Extremismusexperten erzählen, bei welchen Verbrechen Polizei und Staatsanwaltschaft bereits versagt haben. Dazu berichten sie vom Tankstellen-Mord in Idar-Oberstein, von der Stürmung des Capitols in Washington oder einem Fackelaufmarsch vor der Wohnung eines Politikers (Spiegel 21.09.2021; Der Standard, 24.09.2021; Tagesschau 01.10.2021; ZDF Frontal 05.10.2021; RND 27.10.2021). So wenig diese Verbrechen und Delikte mit der Corona-Maßnahmen- und Impfkritik auch zu tun haben: Von diesen Experten werden sie als “Beleg/Ausdruck” dafür gewertet, dass sich ihre Lieblingsfigur des Verschwörungstheoretikers “radikalisiert”. Und einen solchen “Beleg” wiederum nehmen sie als Anlass dafür, aktiv auf die Strafverfolgungsbehörden zuzugehen, sie, wie sie sagen, direkt anzusprechen (DLF Kultur 30.03.2021; t-online 04.05.2021; Jungle World 30.09.21). Die Experten erstellen Twitter-Profile, die sie als potentielle Täterprofile interpretieren. Die Behörden sind schon darauf vorbereitet. Sie wissen, was sie tun müssen (Der Standard, 24.09.2021; RND 27.10.2021): Wenn Familien, Querdenker, Selbstständige, Verschwörungstheoretiker, Hippies und Impfgegner demonstrieren – wie es der Bayrische Rundfunk berichtete – dann sorgen die Behörden mit Masken-, Abstands- und Hühnerstallsymbolik für das, was sie “Phänomenübergreifende Extremismusprävention” nennen.
Die Bilder von Bergamo und die Meldeinzidenzen zeigten uns also, wie gefährlich das Virus ist – und was wir dringend tun müssen. Jetzt zeigt uns die Forschung an dieser kriminologischen Figur des Verschwörungstheoretikers, wie gefährlich Demonstranten und Maßnahmenkritiker sind – und was Gesellschaft, Staatsgewalt und Familien dringend mit ihnen tun müssen. So erklärt sich die aggressive Stimmung an den Rändern der Demonstrationen und die Gewalt von vermummten Schlägertrupps, von denen Demonstranten angegriffen werden. So erklären sich die Schlachtfelder an den häuslichen Kaffeetischen, Ehescheidungen sogar, und auch die starrköpfigen Reaktionen der allermeisten Richter, bei Polizei und Kirche, die Diskussionsverweigerung in den Schulen, an den Universitäten.
* Rede, gehalten am 12.März 2022 auf einer Veranstaltung der Offenen Gesellschaft Kurpfalz