Wahrheit und Wahn

Anmerkungen zu Albert Bourlas „elektronischer Pille“

ein Gastbeitrag von Thierry Simonelli

Lesedauer 12 Minuten

1bis19 - Wahrheit und Wahn
Paranoia – by courtesy of © Flood G

In einem Video vom 25. Januar 2018, das während einer Konferenz des World Economic Forums aufgezeichnet wurde und sich mit der Transformation der Gesundheit im Zeitalter der vierten industriellen Revolution (“Transforming Health in the Fourth Industrial Revolution”) befasste, erklärt Albert Bourla, der CEO von Pfizer, eine neue pharmazeutische Technologie, die damals erst kürzlich von der FDA (der US-amerikanischen Behörde für Lebensmittel und Medikamente) zugelassen worden war: „Die FDA hat die erste elektronische Pille zugelassen, wenn ich sie so nennen darf. Es handelt sich um einen Biochip, der sich in der Tablette befindet und der, sobald man sie eingenommen hat und sie sich im Magen auflöst, ein Signal sendet, dass man die Tablette eingenommen hat. Stellen Sie sich die Anwendungen dieser Technologie vor …“.

Zwei Vorstellungswelten

Es war klar, dass diese Aussagen früher oder später von verschwörungstheoretischen Kritikern aufgegriffen würden. Denn auch “Impfgegner” und andere “Verschwörungstheoretiker” wollen sich von den möglichen “Anwendungen dieser Technologie” eine Vorstellung machen. Tatsächlich behaupten einige von ihnen, dass Covid-Impfstoffe Mikrochips oder RFID-Transponder („elektronische Implantate“) enthalten könnten, die es den Kontrollbehörden ermöglichen, den Gesundheitsstatus von Personen zu überprüfen.

Aber was ist davon zu halten, wenn diese Kritiker Aussagen wie die von Bourla benutzen, um auf die revolutionären Vorstellungswelten aufmerksam zu machen, die in den Tech-Konzernen und im Weltwirtschaftsforum bezüglich der Anwendungsmöglichkeiten solcher Technologien zirkulieren? Schließlich kennt man diese Experten: Verschwörungstheoretiker glauben fälschlich, dass sich bestimmte Gruppen mit ihren konvergierenden Machtinteressen jenseits der Öffentlichkeit im Geheimen absichtlich zusammenfinden, um diese Interessen gegen gesellschaftliche Widerstände durchzusetzen, und dass sie damit auch Erfolg haben (können). Verschwörungstheoretiker verbreiten Fake News, um solche offiziellen Darstellungen wie die von Bourla zu disqualifizieren. Mikrochips und digitale Identität zur Bevölkerungskontrolle: Sind das also abwegige Ideen, geleitet von schlechten Absichten und kranker Fantasie?

Paranoide Wahnvorstellungen und wissenschaftliche Systeme

In diesem Zusammenhang denkt man unweigerlich an den klassischen Aufsatz über „Beeinflussungsapparate“ von Viktor Tausk, einem Neurologen und Psychoanalytiker der ersten Generation. Tausk hat 1919 eine Analyse der Störung, die man heute wohl als Paranoia (oder vielleicht paranoide Persönlichkeitsstörung) bezeichnen würde, veröffentlicht. Die Paranoia ist bekanntlich durch eine spezifische Art von Wahnbildung gekennzeichnet: den Verfolgungswahn.

In einer der ersten historischen Analysen dieser Wahnform durch die französischen Psychiater Paul Sérieux und Joseph Capgras (1909, also zwei Jahre vor Sigmund Freuds erster psychoanalytischer Theorie der Paranoia), erscheint der Verfolgungswahn als wesentlich auf die Aktivität einer Realitätsinterpretation gegründet. Paranoide Wahnvorstellungen erscheinen nicht notwendigerweise als verrückt: Da sie sich gleichzeitig auch auf Realität und Fakten stützen, ist der Wahn solcher Vorstellungen und Gedanken nicht immer leicht und manchmal – auch für psychiatrische und psychologische Experten – gar nicht ersichtlich.

Im Gegensatz zur paranoiden Schizophrenie kommt die Paranoia ohne Halluzinationen und Persönlichkeitsspaltung aus. Paranoide Symptome erscheinen hier als systematische Rekonstruktion der Welt mittels Auslegungen, die gelegentlich die Züge einer gut organisierten Rationalität und Logik tragen. Ein Merkmal, das auch vielen Verschwörungstheorien gemein ist, wie es der Politologe und Verschwörungsexperte Emmanuel Taïeb weiß: „Unter diesem Aspekt ist Verschwörungstheorie nicht irgendeine analytische Irrationalität, sondern eine praktische politische Erklärung der sozialen Welt.“

Der Unterschied zwischen Paranoia, offensichtlicher Verschwörungstheorie und kritischer Sozialwissenschaft wird dadurch erheblich erschwert, das muss auch der Professor in seiner Encyclopædia Universalis unter dem Stichwort “Verschwörungstheorie/Conspirationnisme” zwangsläufig zugeben. Denn genauso wie Verschwörungstheorien kritischen Sozialwissenschaften zum Verwechseln ähnlich sehen, können auch kritische Sozialwissenschaften nahtlos in Verschwörungstheorien übergehen.

Dennoch weiß der Experte klar zwischen Wissenschaft und Paranoia zu unterscheiden: „Der Übergang solcher Arbeiten zu einer verschwörungstheoretischen Logik findet statt, wenn die Analyse davon ausgeht, dass mächtige Absichten niemals auf gesellschaftliche Hindernisse stoßen, und behauptet, dass die verborgenen Machenschaften bestimmter mehr oder weniger sichtbarer Akteure immer die erwarteten Auswirkungen haben. Oder wenn sie heterogenen Gruppen mit oft gegensätzlichen Interessen (Eliten, Minderheiten, Banken, multinationalen Konzernen, Lobbys, Medien usw.) oder sogar sozialen Kategorien, die für die Zwecke einer Sache konstruiert werden, ohne dass sie eine Umsetzung in der Realität hätten (die “1 Prozent”) ein Einverständnis und eine konvergierende Macht unterstellt.“

Paranoide Beeinflussungsapparate …

Viktor Tausk hat mit seinem „Beeinflussungsapparat“ eine typische Formation der rationalen Wahnbildung isoliert: Manche Menschen mit paranoiden Wahnvorstellungen stellen sich vor, unter dem Einfluss von Apparaten zu stehen, die ihnen „Gedanken und Gefühle rauben, und zwar durch Wellen oder Strahlen oder mit Hilfe okkulter Kräfte […].“ Solche Apparate werden von Feinden manipuliert, und „es soll uns nicht wundern, dass der feindliche Apparat von solchen Personen bedient wird, die dem objektiven Betrachter als Liebesobjekte erscheinen müssen: von Freiern, Liebhabern, Ärzten“ (Tausk, S. 49).
„Die Kranken vermögen seine Konstruktionen nur andeutungsweise anzugeben“, schreibt Tausk. Gewöhnlich besteht er aus Hebeln, Rädern, Drähten und Batterien. Aber gebildete Kranke „bemühen sich, mit Hilfe der ihnen verfügbaren technischen Kenntnisse die Zusammensetzung des Apparates zu erraten und es zeigt sich, dass mit dem Fortschritt der Popularität der technischen Wissenschaften nach und nach alle im Dienste der Technik stehenden Naturkräfte zur Erklärung der Funktionen des Apparates herangezogen werden“ (Tausk, S.9).

… und reale Beeinflussungsapparate

Im Zeitalter der vierten industriellen Revolution scheint nichts naheliegender, als dass der Beeinflussungsapparat die Form einer elektronischen Pille, eines Chips oder eines subkutanen Transponders annehmen muss. Ähnlich wie es einer von Tausks Patienten dachte, der den Großteil seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbrachte, würden also auch Alfred Bourlas Pillen dazu führen, dass Menschen „von elektrischen Strömen durchflossen werden, die auf dem Boden durch [unsere] Beine fließen“. Besser noch: von elektrischen Wellen, die durch die Luft fließen und von den mystischen Antennen unserer Mobiltelefone, WiFi-Geräte, Router und Modems aufgefangen und weitergeleitet werden können.

Die Wahnvorstellung ist gar nicht so weit von der Realität entfernt, wie man annimmt. Diese Technologien existieren tatsächlich, auch wenn ihr Einsatz ausdrücklich für Menschen mit „psychischen Erkrankungen“ vorgesehen ist – insbesonders im Fall von ‚Abilify‘, einem atypischen Neuroleptikum – und auch, wenn ihr beispielhafter Einsatz, der amerikanischen Bundesbehörde für Lebensmittel und Arzneimittel zufolge, zunächst auf den psychiatrischen Pflegebereich beschränkt bleibt. Es handelt sich um eine reale Wahnvorstellung zum Wohle des psychisch kranken Menschen. Folgt man den Ausführungen der FDA und Herrn Bourlas, dann ist die elektronische Pille kein Gerät zur Beeinflussung oder Entwendung von Gedanken und Gefühlen. Sie dient lediglich der Überwachung der „medication adherence“ (beabsichtigt, freiwillig) oder der „medication compliance“ (unbeabsichtigt, unfreiwillig), d. h. der Einhaltung oder Befolgung der verschriebenen Behandlung durch den Patienten.

Wie man den Wahn durch technologischen Fortschritt heilt

Man muss die Ironie des Fortschritts ermessen: Um Paranoide zu heilen, werden – im Zuge der vierten industriellen Revolution – Geräte erfunden, die de facto das verwirklichen, wovon die armen Verfolgten bisher nur fantasierten. Die elektronische Pille soll den Patienten von seiner Wahnvorstellung heilen, überwacht und beeinflusst zu werden, und sie tut dies, indem sie ihn auf dem Wege unsichtbarer Übertragungssignale aus dem Innern seines Körpers überwacht. Sie gewährleistet die vorgeschriebene Medikamenteneinnahme, so dass es für den Patienten unmöglich wird, sich seinen Neuroleptika zu entziehen.

Man erinnert sich an die denkwürdigen Szenen aus Miloš Formans Film “Einer flog über das Kuckucksnest”. Arzt oder Krankenhaus wissen immer, was der resistente Patient getan und gedacht hat. So werden die imaginären „unsichtbaren Fäden“ oder die „Telepathie“ der irrationalen Wahnvorstellung durch die subtilen „Fäden“ der rationalen Internetnetze in der Realität ersetzt. Die imaginäre Beeinflussung und der wahnhafte Gedankenklau werden mit den Apparaten des realen Fortschritts verwirklicht. Und umgekehrt kann der Kranke als geheilt gelten, weil sich die Umgebung seinen Wahnvorstellungen anpasst.

Noch mehr fortschrittliche Ideen im paranoiden Weltsystem

Aber die Ironie des Fortschritts geht noch weiter. Ähnlich wie Paranoide und Verschwörungstheoretiker kann sich nämlich der so gebildete wie rationale Herr Bourla bei seinem Auftritt vom 25. Januar 2018 noch viele andere „faszinierende“ Anwendungsmöglichkeiten für seine neuen Überwachungsapparate vorstellen. In dem erwähnten Interview stellt er sich unter anderem folgende Anwendungsmöglichkeiten vor: Versicherungsgesellschaften könnten ihre Kunden überwachen und gegebenenfalls ihre Versicherungspolicen anpassen, medizinische Leiter könnten ihre Patienten potenziell auch außerhalb des Krankenhauses in ihrem Privatleben überwachen. Sie könnten das, ohne diese weitreichende „Gesundheitsvorsorge“ dem Patienten gegenüber auch nur zu erwähnen.

An Fantasie mangelt es ihm nicht: Mit der elektronischen Pille brauche man keine Sportuhren mehr in den Fitnessstudios und keine altmodischen Blutabnahmen. Die Pille bietet eine integrierte Lösung, die sich auf Medikamentengehorsam, sportliche Aktivität und Blutbild in Direktübertragung über den gesamten Gesundheits- und Impfstatus bis hin zur Bankkarte und elektronischen Identität erstreckt. Damit das alles funktioniert, brauche man nur noch „die richtige Art von Hardware und Infrastruktur“. Der Beeinflussungsapparat der vierten industriellen Revolution nimmt systemische Züge an, die den paranoiden Weltsystemen in nichts nachstehen.

Panoptische Überwachungsfantasien

Logisch ist allerdings, dass Bourla seinen Zuhörern versichert, die elektronische Pille werde niemals zur permanenten Überwachung genutzt. Nur bei Bedarf und sporadisch würden Informationen eingeholt. Die um die neuen Technologien ergänzten und optimierten Personen würden die meiste Zeit unbeobachtet und unüberwacht ihre Privatsphäre genießen können. Nicht jeder Patient oder Bürger müsse überwacht werden, schon gar nicht durchgehend Tag und Nacht. Man braucht also die Pille nur manchmal – immer nur dann, wenn es darauf ankommt. Das beruhigt Patienten und Bürger, denn sie haben ja nichts zu verstecken!

Für diese punktuelle Überwachung (Überwachung nur, wenn nötig) hatte sich der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham, einer der wichtigsten Denker des politischen Liberalismus, ein imaginäres Gefängnis ausgedacht. Als neues Kontrollsystem entwarf er ein Gefängnis namens Panopticon (etymologisch: „alles sehen“), dessen Prinzip auch für die Gesellschaft im Ganzen gelten kann. Die eingesperrten Personen sind hier in nach innen offenen Einzelzellen untergebracht, die dann ihrerseits in einem konzentrischen Kreis um einen Wachturm herum angeordnet sind, der die Aufseher unsichtbar lässt. Die Häftlinge sind somit potenziell jederzeit überwacht, auch wenn diese Überwachung de facto nur zu bestimmten Zeiten stattfindet.

In der Internetgesellschaft und Welt der „vernetzten Objekte“ kann man problemlos eine unverhoffte Verwirklichung von Benthams Prinzip der allgemeinen Überwachung sehen. Bislang war diese Überwachung für die meisten Menschen vor allem auf den gezielten, intelligenten Verkauf von Produkten und Dienstleistungen durch die einvernehmliche und theoretisch transparente Nutzung persönlicher Daten beschränkt.

Was die neue Technologie der elektronischen Pillen nun anbietet, besteht dann lediglich in einem Folgeschritt: Auch der menschliche Körper wird den „vernetzten Objekten“ hinzugefügt. Gemäß der Definition der Internationalen Telekommunikationsunion könnte der Körper, ebenso wie unsere Gedanken – vernetzt durch unsere Computer und Mobiltelefone – Teil der „globalen Infrastruktur für die Informationsgesellschaft werden, die durch die Vernetzung von (physischen oder virtuellen) Objekten mithilfe bestehender oder sich entwickelnder interoperabler Informations- und Kommunikationstechnologien fortschrittliche Dienste ermöglicht.“

Totalitäre Herrschaft braucht keine reale Überwachung, sie braucht nur einen Geist der Überwachung
Alles-Sehen und Allwissenheit, die bislang dem metaphysischen Wissen eines Gottes vorbehalten waren, können zu einer neuen Art von Macht führen: zur totalitären Macht. Michel Foucault kommentierte in Überwachen und Strafen (Foucault 1993, S. 202): „Daraus ergibt sich der Haupteffekt des Panoptikums: beim Häftling einen bewussten und dauerhaften Zustand der Sichtbarkeit herbeizuführen, der das automatische Funktionieren der Macht gewährleistet”, da “die Perfektion der Macht dazu führt, dass die Aktualität ihrer Ausübung nicht mehr notwendig ist.“

Das überwachende Alles-Sehen erzeugt nicht nur eine materielle, sondern vor allem auch eine psychologische Befindlichkeit bei der beobachteten Person: den permanent und bewusst erlittenen Zustand, sichtbar zu sein. Das Panoptikum wird so zu einer „Maschine […], die ein Machtverhältnis schafft und aufrechterhält, das von demjenigen, der es ausübt, unabhängig ist; kurz gesagt, dass die Gefangenen in einer Machtsituation gefangen sind, deren Träger sie selbst sind“ (Foucault 1993, S. 203). In diesem Zusammenhang schrieb Bentham (1791, S. 6-7, 8): „Die Inspektion ist das einzige Prinzip, um Ordnung zu schaffen und zu erhalten, aber eine Inspektion neuer Art, die eher die Vorstellungskraft als die Sinne anspricht, die Hunderte von Menschen in die Abhängigkeit von einem einzigen Menschen bringt und diesem einen Menschen eine Art universeller Präsenz innerhalb seiner Domäne verleiht. […] Der unsichtbare Inspektor selbst herrscht wie ein Geist; aber dieser Geist kann bei Bedarf sofort den Beweis für eine tatsächliche Anwesenheit erbringen.“

Benthams Gefängnisse wurden im 18. Jahrhundert wirklich gebaut. Sie ersetzten – wie Michel Foucault in Überwachen und Strafen gezeigt hat – die brutalen Hinrichtungspraktiken. Träumen also die großen wirtschaftlichen und staatlichen Architekten der zukünftigen Welt doch von einer neuen, panoptischen Macht? Ist die neue elektronische Transparenz eine Macht, die unter anderem von der Pandemie profitiert hat, um Weichen für genau diejenige Herrschaft zu stellen, die der Fortschrittsvision der Vordenker des Weltwirtschaftsforums entspricht?

Böse Absichten und das Projekt des Überwachungskapitalismus

Das ist viel zu weit hergeholt, versichern die rationalen Fortschrittsdenker. Denn genau solche Annahmen tragen den Stempel des Verfolgungswahns, der den gemeinen Verschwörungstheorien regelmäßig zugrunde liegt und sie mit der Paranoia verbindet. Die Verschwörungstheorie, so Emmanuel Taïeb in der Encyclopædia Universalis (s.o.), „ist eine Weltanschauung, die behauptet, dass der Lauf der Geschichte nicht das Ergebnis nationaler politischer Aushandlungen und (in ihrem Ausgang) ungewisser menschlicher Handlungen ist, sondern dass er in Wirklichkeit einheitlich durch die geheime Aktion einer kleinen Gruppe von Menschen hervorgerufen wird, die ein Projekt zur Kontrolle und Beherrschung der Bevölkerung verwirklichen wollen“ (S. 1).

Geht es nach dem Experten, dann sind es die Verschwörungstheoretiker, die zweifelhafte Absichten verfolgen, wenn sie nämlich solche Fake News wie die über Herrn Bourlas elektronische Pille verbreiten. „Verschwörungstheoretische Fake News erscheinen als Werkzeuge, die darauf abzielen, eine bestimmte politische Lesart eines Ereignisses durchzusetzen […] und diejenigen Lesarten zu disqualifizieren, die als ‚offiziell‘ erscheinen“ (S.13)

Offiziell aber erklärt sich das Weltwirtschaftsforum geradezu zum Gegenpol einer Überwachungsgesellschaft (Ferreira 2021). Anders als die Verschwörungstheoretiker meinen, ist für diese Ingenieure der neuen industriellen Revolution (wie für Bentham) das panoptische Alles-Sehen einzig und allein auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen ausgerichtet. Die wirtschaftlichen und politischen Mächte, die an diesem Fortschritt arbeiten, sind ausschließlich von den drei großen Prinzipien des benthamschen Wohlfahrtsstaats bestimmt: Wohlstand, Sicherheit und Gleichheit. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die philanthropische Technologie der „Steigerung des menschlichen Wesens“ (Human Enhancement Technologies, HET).

Durch die Vernetzung der menschlichen Körper mit „Systemen künstlicher Intelligenz“ sollen die Menschen optimiert werden. Sofern die notwendige Infrastruktur dafür geschaffen wird, ist der Fortschritt für die allgemeine Entwicklung der Menschheit und für eine bessere allgemeine Gesundheit garantiert. Und wer würde es sich nicht wünschen, Gesundheit, Wohlstand, Sicherheit und Gleichheit von der Entscheidungsmacht großer Privatfirmen und Staaten gesichert zu wissen, die alles sehen und alles über uns wissen, ohne dabei noch von demokratischen Aushandlungsprozessen gestört zu werden?

Honni soit qui mal y pense! – kann man mit Shoshana Zuboff denken, die das Projekt der überwachten Gesellschaft und totalitären Macht auf den Begriff des „Überwachungskapitalismus“ gebracht hat (Zuboff 2015 und 2019):
„Diese neue Macht übt ihren Willen mit Hilfe digitaler Instrumente aus. Sie schickt nachts niemanden zu uns nach Hause, um uns in den Gulag oder ins Lager zu bringen. Sie droht uns nicht mit Mord oder Terror. […] Diese neue Macht ist das, was ich eine instrumentäre Macht nenne. Sie übt ihren Willen aus der Ferne aus, sie kommt heimlich, still und leise zu uns. Und wenn wir jemals wissen, dass sie da ist, kann sie uns sogar mit einem Cappuccino und einem Lächeln begrüßen“ (Zuboff 2021).

Die offizielle Wahrheit der Faktenchecker

Wer wie Shoshana Zuboff den Männern und Frauen des WEF nicht glauben und sich auch vom Experten für Verschwörungstheorie nicht überzeugen lassen möchte, der hält sich am besten an die Objektivität, Wahrheit und Wissenschaftlichkeit der Faktenchecker und Desinformationsdekodierer. Denn Faktenchecker wie USA Today, Politifact, Handelszeitung sind die höchste Instanz bei der Unterscheidung von Wahrheit und Wahn: Sie unterstützen die offiziellen Erklärungen des WEF und entlarven die disqualifizierende Unterstellung von Kontrollabsichten ein für allemal als böswilligen Unfug und Verschwörungswahn. Ihre Argumente beruhen – vorläufig noch ohne elektronische Neuroleptika – auf 5 zentralen Aussagen:

  • Die Technologien und Anwendungen der „elektronischen Pillen“ und der Injektionen von Mikrochips und Transpondern gingen der Covid-Pandemie zeitlich voraus (die Durchsetzung von Kontrolle konnte damals wie auch in Pandemiezeiten keine Absicht sein).
  • Bourla hat 2018 nie behauptet, dass er diese Technologie in die Covid-Impfstoffe von 2020 integrieren werde (die Durchsetzung von Kontrolle konnte damals wie in Pandemiezeiten keine Absicht sein).
  • Mikrochips werden in der aktuellen Liste der Inhaltsstoffe von Covid- Impfstoffen nicht erwähnt (die Durchsetzung von Kontrolle kann keine Absicht sein).
  • Wenn die Injektion und Einnahme von Mikrochips tatsächlich möglich ist und bei bestimmten medizinischen Techniken und Verfahren tatsächlich angewendet wird, heißt das nicht, dass sie automatisch auch bei Impfstoffen gegen Covid angewendet wird (die Durchsetzung von Kontrolle kann keine Absicht sein).
  • Und ohnehin sind es ausschließlich “Impfgegner, Trump-Anhänger, Verschwörer, Querdenker und Schwurbler”, die Impfungen mit Mikrochip-Injektionen in Verbindung bringen (die Durchsetzung von Kontrolle kann keine Absicht sein).

Der letzte Beweis für die unternehmerische Wahrheit des Herrn Bourla

Einen besonderen Platz an der vordersten Front der Garanten für objektive Fakten belegen die Überprüfer der internationalen Nachrichtenagentur Associated Press. Denn hier holt sich ein großer Teil der „professionellen Presse“, wie Professor Taïeb sie gerne nennt, die Grundlagen für ihre wahre Wahrheit. Glücklicherweise haben sich die AP-Prüfer auch mit der elektronischen Pille und dem Erklärvideo des Herrn Bourla beschäftigt:
Verschwörungstheoretische Behauptungen werden dabei nicht zitiert und belegt, dafür jedoch in Abrede gestellt.

Die neue Technologie der elektronischen Pillen gehöre Pfizer gar nicht. Denn tatsächlich wurde sie von der Otsuka Pharmaceutical Co. und Proteus Digital Health entwickelt. Ebenso erinnern die internationalen Prüfer daran, dass Bourla 2018 keine Pläne bekannt gab, eine im Jahr 2020 entwickelte Technologie für eine 2019 entdeckte Krankheit einzusetzen. Als repräsentative Expertin für die unternehmerische Wahrheit zitiert AP eine offizielle Pfizer-Sprecherin, Jerica Pitts, die die offizielle Wahrheit bestätigt, dass es ihres Wissens nach keine Beweise für Mikro-Chips in Pfizer-Impfstoffen oder Pillen gäbe.

In jedem Fall, so betonen die Prüfer der AP weiter, habe sich Albert Bourla in dem fraglichen Video ausschließlich für die Überwachung der Medikamentenadhärenz von Patienten interessiert. Die möglichen „Anwendungen“, die der enthusiastische Pfizer-Manager dort ohne zu zögern erwähnt, könnten vernachlässigt werden, da keine einzige dieser wörtlich aufgezählten Anwendungen in den Bereich des Pfizer-Impfstoffs fällt. Q.E.D.
Weder Alfred Bourla noch andere Vertreter des Weltwirtschaftsforums haben 2018 behauptet, dass der neue Überwachungskapitalismus auf dem Wege irgendeiner Pandemie oder irgendeines Impfstoffs in der Zukunft durchgesetzt werden würde.

Schlucken wir die beruhigende Pille des Guten!

Das human enhancement, die private und öffentliche Gesundheitsüberwachung, die elektronische Gesundheitsvorsorge der Zukunft, die allgegenwärtige Kontrolle durch große Aktienfirmen und Staaten und die Erstellung der Infrastruktur für die Anbindung des Menschen an KI-Systeme haben also in Wahrheit allesamt nichts mit der Covid-Pandemie im Allgemeinen oder mit irgendwelchen Impfstoffen im Besonderen zu tun.
Glauben wir also den medialen Fakten-Experten, überwinden wir unsere paranoiden Ängste und verschwörungstheoretischen Triebe. Vertrauen wir auf die nächste wissenschaftlich-industrielle Revolution. Zweifeln wir nicht: Es wird die Revolution des Wohlstands, der Sicherheit, der Gesundheit und des Glücks für alle sein.

Literatur:
Associated Press (AP) NEWS (2022, mai 23): Video shows Pfizer CEO at Davos in 2018 talking about another company’s pill. https://apnews.com/article/fact-check-Pfizer-CEO-Davos-256352183903

Bentham, J. (1791). Mémoire sur un nouveau principe pour construire des maisons d’inspection, et nommément des maisons de force. Imprimerie Nationale, Paris

Brémaud, N. (2018). Contribution à l’histoire du délire d’interprétation. L’information psychiatrique, 94 (9), 766-776

Ferreira, A. (2021). The age of surveillance capitalism: The fight for a human future at the new frontier of power, von Shoshana Zuboff. Journal of Urban Affairs, 1-3

Foster, J. B., & States, R. (2014, 1. Juli). Surveillance Capitalism. Monthly Review. https://monthlyreview.org/2014/07/01/surveillance-capitalism/

Foucault, M. (1975/1993). Surveiller et punir : Naissance de la prison (Gallimard)

Gross, Seraina (23. Mai 2022): WEF-Video von Pfizer-Chef Albert Bourla geht viral : Doch der Ausschnitt ist alt und bedient Verschwörungstheorien. Handelszeitung (online)

Pschyrembel Online: https://www.pschyrembel.de/

Ropert, Pierre (2014): La société de surveillance de Foucault.

Sérieux, Paul & Joseph Capgras (1909): Les folies raisonnantes. Le délire d’interprétation.

Tausk, Viktor (1919): “Über die Entstehung des Beeinflussungsapparates in der Schizophrenie”, Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, 5, 1919, S. 1-33.

Tusseau, G. (2004). Sur le panoptisme de Jeremy Bentham. Revue Française d’Histoire des Idées Politiques, 19(1), 3‑38.

Zuboff, S. (2015). Big other : Surveillance capitalism and the prospects of an information civilization. Journal of Information Technology, 30(1), 75-89.

Zuboff, S. (2019). The Age of Surveillance Capitalism (Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus). Profile Books

Zuboff, S. (8. September 2021). “Surveillance capitalism and democracy”. Vortrag am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft zu Berlin

IUT-T. (Juni 2012). « Présentation générale de l’Internet des objets »

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Ein Kommentar

  1. […] auf unseren Seiten publiziert wurde, hat Thierry Simonelli diese deutsche Fassung des Artikels auf 1bis19 – Magazin für demokratische Kultur erstveröffentlicht. Wir bedanken uns herzlich beim Team von 1bis19 für eine herzliche und […]

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