Jahreswechsel-Nachlese mit Segelschiff

Eine Tagebuchseite von Katja Leyhausen

Das kollektive „Tagebuch“ dient der Dokumentation und Selbstreflexion der zivilgesellschaftlichen Arbeit für Meinungsfreiheit in einer Zeit, wo dieses und andere Grundrechte gefährdet sind: Wer erinnert sich nicht an ein Gespräch oder einen schriftlichen Austausch über die Coronapolitik, bei dem er besonders verzweifelt war über Aggressionen, Mauern, Predigten oder im Gegenteil überrascht darüber, dass plötzlich eine Tür aufging, eine Frage berücksichtigt oder ein Argument angehört wurde. Und an welcher Stelle in der Auseinandersetzung war es möglich, etwas von den Gefühlen, Motiven, Begründungen der anderen Seite nachzuvollziehen und vielleicht gemeinsam weiterzuentwickeln? Welche Situationen und Medien der Kommunikation sind überhaupt geeignet, um in einen Kontakt mit Andersmeinenden zu kommen? Zeichnen sich bei solchen Erlebnissen Entwicklungen im gesellschaftlichen Diskurs ab? Dieser Ort im Magazin ist offen für alle kommunikativen Erfahrungen – Erfahrungen, die einschlägig sind, weil sie etwas über den Stand der Debattenkultur und Meinungsfreiheit in unserem Land aussagen.

Weihnachten ist die Zeit der Einkehr. Gesprächsfetzen der letzten Monate tauchen wieder auf, und ich ziehe den Schluss: Ich habe nie so deutlich erfahren wie in diesen Pandemiezeiten, dass Menschen völlig mit dem übereinstimmen, was sie an Medien konsumieren. Sie sind Menschen in ihrer Wirklichkeit wie ich ein Mensch bin in der Wirklichkeit meiner Familie, Freunde und Mitstreiter – unserer Gespräche, Informationsportale, Quellen- und Medienkritik. Alles, was folgt, hat sich genau so zugetragen. Nur die Verallgemeinerungen füge ich hinzu:

Phrasen

Menschen wiederholen die Phrasen der Hofberichterstattung aus dem Öffentlichen Rundfunk, und sie tun das an den offensichtlich unpassendsten Stellen. Das macht mir Sorgen. Zuletzt telefonierte ich mit einer lieben Verwandten in meiner Heimat im Osten der Republik. Sie brach in Tränen aus, weil ich mich gegen die staatliche Impfpropaganda gerade bei Kindern aussprach. Was war der Grund für die Tränen? “Katja, – es würde mir das Herz brechen, wenn ich mit ansehen müsste, dass du noch weiter auf die rechte Seite abdriftest!” Wie? Was? Im Osten wurde erst durch den Kalten Krieg und Mauerbau, und dann noch einmal besonders heftig durch Wende und Wiedervereinigung ein tiefer Graben gerissen. Dieser Graben zwischen DDR-Nostalgikern, die einen immer noch schöneren Sozialismus mit einem starken Staat wollen, und denen, die das nicht wollen, zwischen vermeintlich links und rechts also, ist bis heute unbearbeitet. Die Propaganda stützt sich erfolgreich darauf, und das sage ich meinen Landsleuten auch: Lasst euch nicht noch mehr gegeneinander aufhetzen!  

Widersprüche

Meine Gesprächspartner von jenseits der Medienmauer können ihre eigenen Widersprüche auch nicht im Ansatz erkennen. Das könnte unterhaltsam sein, wenn es nicht so ernst wäre. Dieses Mal verlief das Telefongespräch auf Französisch, was der Sache eine wahrhaft pandemische Note verlieh:

  • Katja, – meine drei Enkelkinder hatten alle Covid-19. Ils ont tous eu la Covid19!”
  • Ah bon? Eh alors, comment ça c’est passé? Ach ja, und wie ist es ausgegangen, was ist mit ihnen passiert? Haben sie die Krankheit gut überstanden? Geht es ihnen wieder besser?”
  • Ja, ja, das schon. Aber stell dir mal vor. Es gibt Eltern, die lassen ihre Kinder nicht impfen, die geben ihnen kein Antibiotikum, wenn sie schwer krank sind, nichts!

Ich dachte, ich hätte etwas falsch verstanden. Ich frage zurück:

  • Aber sie waren doch nicht schwer erkrankt, oder?
  • Nein, das waren sie nicht. Aber der ganz Kleine, der hatte gerade eine Pleuritis!

Ich denke wieder, ich habe etwas falsch verstanden und frage:

  • Ja, dann war das Kind doch schwer an Covid19 erkrankt?”
  • Nein, das hatte eine andere Ursache. Aber wenn es meine Kinder wären, ich würde sie sofort gegen Covid19 impfen lassen!”

Ich fasse zusammen: Der Großvater, der sicher selbst ein gewisses Risiko trägt und gute Gründe für den Selbstschutz haben mag, sieht keinen Unterschied zu seinen Enkelkindern. Er fürchtet sich davor, dass sie sich mit Covid infizieren, als wäre das die Begegnung mit dem Leibhaftigen. Diese Begegnung haben sie offenbar völlig unbeschadet überstanden, es war nicht der Leibhaftige. Etwas anderes ist passiert: Der Kleinste in der Familie erkrankte vermutlich, wie viele Kinder mit ihrem durch Lockdowns beschädigten Immunsystem, an einem anderen Virus, vielleicht dem RS-Virus (RSV). Er erkrankte sogar schwer. Der Großvater könnte daraus den Schluss ziehen, dass die Regierung unverantwortlich gehandelt hat: Dass sie das Risiko von Covid19 für die Kinder völlig überschätzt und die Lockdown-Risiken für die Kleinen gar nicht berücksichtigt hat. Im Grunde müsste er sich einer Initiative wie 1bis19 anschließen, um zu protestieren. Stattdessen findet er es logisch, dass Kinder ausgerechnet gegen diejenige Infektion “geimpft” werden, die ihnen in aller Regel nichts anhat, mit einem “Impfstoff”, der kaum erforscht ist. Als ob das alles nicht genug wäre, sagt er mir noch auf dem Höhepunkt des Gesprächs: “C’est irrationnel ce que tu dis là! Katja, du bist komplett irrational!” Die Wirklichkeit der tödlichen Seuche spielt sich in seinem Kopf ab; er konnte das Gespräch nur mit Bitterkeit beenden.  

Horror, Herrschaft, Feiern

In ihrer Phantasie lassen Menschen richtige Horrorfilme ablaufen. Das kann ich mit meiner meist unaufgeregten Art gar nicht einholen. Ein Mann im besten Alter, aus unserer Verwandtschaft: “Wenn ich jetzt einen Autounfall habe und dann einen Lungenriss, dann möchte ich ein Intensivbett mit Beatmung.” Wie soll man da reagieren? Hat der Mann jemals zuvor über die Wahrscheinlichkeit nachgedacht, einen Lungenriss zu riskieren, wenn er in sein Auto steigt? Neben ihm sitzt einer, ungefähr im selben Alter, der mir fröhlich sagt: “Katja, wenn die Mehrheit will, dass ihr euch impfen lasst, dann macht das doch einfach”. Diese freundliche Mischung aus Naivität und privater Herrschaftsanmaßung kann ich nur quittieren mit der wörtlich gemeinten Rückfrage: “Jetzt bist du wohl ganz verrückt geworden, mein Lieber?” Immerhin sitzen wir alle und feiern gemeinsam einen Geburtstag, und darüber freue ich mich aufrichtig.

Eine Verschwörungstheorie

Kluge Freundinnen kleben mir im Gespräch falsche Etiketten auf, die zu dem, was ich sage, gar nicht passen. Das übersteigt mein Fassungsvermögen und macht mich sprachlos. Als ich zu einer langjährigen Freundin am Telefon sage, Politiker seien – gerade in Krisenzeiten – am Machterhalt interessiert und blieben lieber bei ihren falschen Lockdown- und Impfversprechen und bei ihren Schuldzuweisungen, als Fehler einzugestehen, sagt sie mir: Nein, aus der Kommunalpolitik, die sie gut kenne, wisse sie genau: So würden Politiker “niemals handeln”. Wörtlich. Und gleich darauf, ohne dass ich noch irgendetwas hinzugefügt hätte, wörtlich: “Das ist mir viel zu verschwörungstheoretisch, Katja”. Sie macht es sich leicht mit der Verschwörungstheorie. Sicher wollte sie etwas anderes sagen, und es fehlten ihr nur die Worte. Wir einigen uns darauf, dass es ihr heute gesundheitlich nicht so gut geht und wir das Gespräch an dieser Stelle beenden. Ob wir es je weiterführen?

Unser italienisches Restaurant kommentierte einmal, völlig unakademisch und mit einem breiten Lachen: “Die Ungeimpften sind schuld, ach ja? Das ist doch alles – wie sagt man auf Deutsch – Gehirnwäsche!” Auch die Weisheit der arbeitenden Klasse zeigte sich schon zu Wendezeiten. Denn es waren nicht die Angehörigen der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, die 1989 auf die Straße gingen, um die Planwirtschafts-Lügner zu verjagen.

Ärzte – evidenzbasiert

Sogar Ärzte reden sich die Folgen der verfehlten Gesundheitspolitik schön. Das lässt mich hysterisch auflachen. Die Gynäkologin sagte mir im November: “Ja, mit der Versorgung wird es langsam eng. Einige Medikamente für meine Patientinnen bekomme ich nicht mehr geliefert, z.B. Impfungen gegen Blasenentzündung. Das Frankfurter Nordwest-Krankenhaus schließt jetzt seine Geburtsstation am Wochenende, wegen Personalmangel. Sie wollen nur noch Kaiserschnitte durchführen von Montag bis Freitag, weil sich das besser planen lässt. Das Krankenhaus Sachsenhausen ist gerade komplett geschlossen. Aber” – und das provoziert bei mir unwillkürlich ein hilflos-kehliges Geräusch – “es ist doch ganz gut, dass wir jetzt alle mal ein bisschen kürzer treten”.

Sag mal, Herdenimmunität durch Impfung ist doch bei diesem mutationsfreudigen Erkältungsvirus eine Illusion, oder?”, frage ich einen mir gut bekannten Arzt im Ruhestand. Er ignoriert die unmissverständliche Frage. Das macht mich ratlos. Meine Diskussionsbeiträge bleiben ungehört: “Die STIKO Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige strotzt vor Widersprüchen. Lies doch mal bitte!” Ich hatte ihn explizit gebeten, den Text mit mir gemeinsam zu lesen, damit wir ihn beide besser verstehen – Arzt und Sprachwissenschaftlerin. Doch er liest nicht, so sieht es aus. Er entgegnet nur vornehm: “Katja, das möchte ich nicht kommentieren. Ich halte mich an die evidenzbasierte Medizin” – die ihm aber offenbar keine Antwort auf meine einfachen Fragen ermöglicht.

Mich erinnert das an die Art Diskussionsverweigerung, die ich vor der Hygiene-Krise nur ein einziges Mal erlebt habe: von einem Pegida-Anhänger, der sich damals als Inhaber einer mittelständischen Firma und wohnhaft in der Idylle eines Weinberges auf dasselbe vornehme Schweigen zurückzog. Es war 2018: Wir aßen gerade in einem Restaurant zu zweit von meinem Teller, weil die Küche sein Essen zu kochen vergessen hatte. Da sagte er mir auf den Kopf zu: “Wir leben in einer Diktatur. Das ist meine Meinung, aber darüber rede ich nicht mit dir, Katja”.

Beide, Arzt und Unternehmer, residieren in einem argumentationsarmen Populismus, und sie haben vor diesem Weinberg eine unüberwindliche Mauer errichtet. Die ärztliche Zusammenfassung meiner Gesprächsversuche überraschte mich zusätzlich: “Katja, du hältst dich für offen, aber du bist einseitig, und außerdem habe ich Angst vor dem Antisemitimus der Corona-Leugner”. Meine Verzweiflung war am Ende so groß, dass ich meinen allerletzten Beitrag für ihn mit dem Hinweis schmückte: “Vorsicht, was ich dir jetzt über Kinderimpfungen sage, ist offen rassistisch! Bitte unbedingt ignorieren!”

Straßenverkehr

Dann ein Lichtblick: Schon vor Monaten gab es die Gelegenheit für ein Gespräch mit der Nachbarin auf der Straße. Sie hat sich Zeit genommen, das rechne ich ihr hoch an. Dabei hat sie mir im Laufe von 20 Minuten genau 3 Mal zustimmen müssen. An einen Punkt erinnere ich mich:

  • Long-Covid kann in solch angstbesetzten Zeiten viele Ursachen haben”, sage ich, “nicht nur virale, auch psychische.”
  • Ja, Katja, da gebe ich dir recht”.
  • Siehst du: Du hast doch vorhin gefragt, was wir bei 1bis19 wollen. Wir wollen ein Ende der Panikmache.”

Aus diesem lebhaften, aber bis zum Schluss freundlichen Gespräch ging ich mit der trügerischen Idee, dass es einen Kommunikationskanal geöffnet haben könnte. Weit gefehlt: Seither wechselt die Nachbarin die Straßenseite, sobald sie mich erblickt. Habe ich sie überfahren? Das kann ich nicht glauben, denn sie ist eine starke Persönlichkeit, die ihre Sache gut vertreten kann. Dieses Ausweichen – sie hat es gar nicht nötig.

Kitsch von Professoren

Bei einem Freund beklagte ich kurz vor Weihnachten gesellschaftliche Spaltung und boshafte Verleumdungen. Das ging leider nur per Mail. Ich habe mit ihm bis heute kein einziges Corona-Gespräch führen können, denn auch er verweigert die Diskussion hartnäckig, immer mit der gönnerhaften Bemerkung: Wir wissen doch, dass wir unterschiedlicher Meinung sind und Freunde halten das aus. Er hielt es in den Lockdowns mit seinem Wohlstand und Sicherheitsbedürfnis ganz ohne Frage sehr gut aus, während ich die Kinder und Jugendlichen sah und deren Situation gar nicht gut aushielt. Ich halte gönnerhafte Herrschaftsanmaßung sowieso überhaupt nicht gut aus.

Der Freund ist schon etwas älter und sieht – wie ich in früheren Zeiten – sehr gerne fern. Hingegen würden er und seine Frau aus ökologischen bzw. ideologischen Gründen niemals auch nur ein einziges Video aus dem Netz streamen. Als Reaktion auf meine Klage und zum Beweis seiner modernen Informiertheit schickte er mir deshalb per Mail-Anhang einen Kommentar aus FAZ-Online: “Das Gerede von der Spaltung” sei “politischer Kitsch”. Zur hochoffiziell geschürten Pogromstimmung bekam ich also noch einen Eimer persönlicher Häme hinterher geschüttet. Ins Gefängnis würde er mir vermutlich Knallfrösche und Glückskekse schicken. War das ein Freund? Professor ist er an einer staatlichen Universität, und ein Gourmet. Ihm schmeckt, was er in den regierungstreuen Hauptnachrichten an colorierten Fertiggerichten serviert bekommt – sogar, wenn sie für seine Freunde völlig unverdaulich sind. Wie sollen wir denn bitte jemals wieder einen authentischen Lammbraten zusammen essen?

Weihnachten auf hoher See

Über die Weihnachtsfeiertage habe ich mir einen eigenen Filmschmaus genehmigt: Ich habe mich mit den Marcel-Pagnol-Verfilmungen von und mit dem einzigartigen Daniel Auteuil getröstet, der in ein und demselben Blick lachen und weinen kann zugleich, sich Sorgen machen und Hoffnung geben, streng sein und hilflos – alles zugleich. Die Filme spielen bekanntlich in der Provence. Es ist ein Fest der Sinne und der Schauspielkunst, der präzisen Dialoge und einer verwurzelten Menschlichkeit: Vom gemeinsamen Heimathafen Marseille aus schickt die schwangere Fanny ihren Marius als Matrosen auf die hohe See hinaus. Denn Marius liebt die Ferne und die Freiheit genauso wie die Nähe zu dieser Frau, und Fanny ist eine ganz Kluge. Sie lässt ihn gehen, damit er aus freien Stücken zurückkehren kann. Unsere durchmoralisierte Welt würde, hyperventilierend, ganz sicher allen beiden den Prozess machen: Die Frau ist unemanzipiert, der Mann ist toxisch. Vielleicht bin ich auch bloß so selbstgerecht wie der alte Provenzale, der nach der ersten Trauer über die entehrte Tochter seine ganze Sorge allein darauf verwendet, jemand könnte ihm als Familienoberhaupt seinen neugeborenen Enkelsohn wieder streitig machen – der Vater womöglich, der das Kind am Ende doch in die Obhut nimmt. Ich habe mein Leben, das leider schon ein ganzes sein könnte, darauf geachtet, mich nicht von mir selbst zu entfremden. Weil das in unserer Gesellschaft extrem schwierig ist, habe ich auf vieles verzichten müssen dafür. Soll ich jetzt im reifen Alter damit aufhören – nur, weil es noch viel schwieriger wird? Ganz sicher nicht. Auch im neuen Jahr will ich auf schäumendem Gewässer weiter meine Segel spannen für Freiheit, Dialog und Menschlichkeit. Und ich hoffe weiter, dass ich noch jemanden mitnehmen kann: Ich bin ein ganzes Segelschiff.

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