Die sektiererische Demokratie des Libanon

Gast-Beitrag von Ahmad Leila, freier TV-Journalist, Moderator und Filmemacher aus Beirut, Libanon

Übersetzt aus dem Arabischen

Lesedauer 3 Minuten

Die sektiererische Demokratie des Libanon

Wir haben das Stadium des Zusammenbruchs erreicht!
Ein Satz, den wir auf den Lippen eines jeden Bürgers und Einwohners im Libanon hören. Die Währung hat ihren Wert verloren, seit der Dollarkurs auf 15.000 libanesische Pfund gestiegen ist. Die Preise spielen verrückt, die Kaufkraft ist gesunken und die Gehälter werden bedeutungslos.

Dieser wirtschaftliche Zusammenbruch begann 2019, als die Landeswährung mehr als 78% ihres Wertes verlor. Die Bürger machten die libanesische Regierung und die Parteien dafür verantwortlich, da sie diejenigen sind, die während der letzten 30 Jahre die Korruption in den staatlichen Institutionen gefördert haben.

Laut dem Korruptions-Indikator von Transparency International rangierte der Libanon im Jahr 2018 auf Platz 138 von 180 Ländern. In Bezug auf Korruption im öffentlichen Sektor erhielt der Libanon 28 von 100 Punkten. Das macht ihn zu einem der korruptesten Länder in der Region.

Demokratische Aufteilung der Regierungsebenen nach Konfessionen

Der Libanon gilt als eines der demokratischsten in den arabischen Ländern. Er verfügt über ein parlamentarisches System, das Präsidenten und Regierung wählt. Aber wenn man tief in das herrschende System hineinschaut, merkt man, dass dieses System von Familien und religiösen Parteien beherrscht wird. Es wurde nach dem Bürgerkrieg durch das sogenannte Taif-Abkommen eingeführt. Es verlangt, dass Muslime und Christen gleich repräsentiert sind, so dass das Parlament zwischen diesen beiden religiösen Gruppen aufgeteilt ist. Auf diese Weise sind die drei großen politischen Ämter des Landes nach Konfessionen aufgeteilt worden. Der Parlamentssprecher ist ein schiitischer Muslim, der Ministerpräsident ein sunnitischer Muslim und der Präsident der Republik ein maronitischer Christ. Und das, obwohl so etwas in der libanesischen Verfassung nicht vorgesehen ist.

Diese Aufteilung erstreckte sich später auch auf die staatlichen Institutionen. So ist der Befehlshaber des Heeres ein Maronit, der Innenminister ein sunnitischer Muslim, der Direktor der Inneren Sicherheitskräfte ein sunnitischer Muslim und der Direktor des militärischen Geheimdienstes ein schiitischer Muslim. Es gibt auch Quoten für kleinere religiöse Gruppen und Minderheiten wie die Drusen, orthodoxe Christen und Armenier. Inzwischen werden sogar die meisten Beamtenstellen zwischen Parteien und religiösen Gruppen aufgeteilt.

Diese Aufteilung hat zu einem Regierungssystem geführt, bei dem keine Partei allein Entscheidungen treffen kann, sondern sich mit allen einigen muss, um entscheidende Gesetze zu erlassen. Auch die wirtschaftlichen Vereinbarungen sowie Quoten bei Projekten und staatlichen Angestellten sind unter den regierenden religiösen Parteien aufgeteilt worden. Das ist möglich, weil die libanesischen Parteien inzwischen mächtiger sind als der Staat, mächtiger als die Verfassung und die Justiz. Und Korruption ist der gemeinsame Nenner dieser Parteien. Diese sektiererische Spaltung, die politische Patt-Situation und die Konsens-Formel für jegliche politische oder wirtschaftliche Lösung haben Interventionen ausländischer Mächte möglich gemacht, die religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Natur sein können.

Ausländische Interventionen

Der Libanon wurde immer als unter französischem Einfluss stehend betrachtet, da Frankreich das Land war, das nach dem Zweiten Weltkrieg das Völkerbundmandat für den Libanon bekam. Mit dem wachsenden Einfluss der USA, des Iran, der Golfstaaten und Syriens wurde die libanesische Politik jedoch auf diese Länder insbesondere auf Saudi-Arabien und den Iran beschränkt. Dies spiegelt sich in der sektiererischen Zersplitterung zwischen Sunniten und Schiiten im Libanon wider.

Saudi-Arabien unterstützte seine sunnitischen Verbündeten, die von der Hariri-Familie repräsentiert werden, während der Iran die Hisbollah finanziell, militärisch und sicherheitspolitisch unterstützt. Diese Einmischung drohte zu einem Bürgerkrieg zwischen diesen beiden religiösen Gruppierungen zu führen.

Notwendiger Wandel

Die Realität hat gezeigt, dass die derzeit praktizierte libanesische Politik das Land in eine Sackgasse geführt hat. Und dass in diesem Land keine politischen oder wirtschaftlichen Reformen möglich sind, ohne eine grundlegende Änderung der Herrschaftsform nach so vielen Jahren der religiösen Spaltung. Deshalb hat sich das libanesische Volk am 17. Oktober 2019 im ganzen Land gegen die herrschenden Parteien erhoben und den Sturz der Regierung und die Durchführung von Parlamentswahlen nach einem fairen Wahlgesetz gefordert. Es folgten monatelange Straßensperren und Angriffe von Anhängern der schiitischen Amal-Bewegung, der Hisbollah und anderer Parteien auf die Demonstranten in der Innenstadt von Beirut. Die Regierung von Saad Hariri trat zurück.

Es wurde eine neue Regierung unter Hassan Diab gebildet, die wiederum nach der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen im August 2020 zurücktrat, bei der mehr als 200 Menschen getötet und Tausende verletzt wurden.

Die Sackgasse, in der sich mögliche Reformen im Libanon befinden, bringt das Land in eine sehr kritische Lage, was die Zukunft betrifft. Denn jede politische Blockade im Libanon hat sich als große Gefahr für die Sicherheit erwiesen. Angefangen mit dem Bürgerkrieg (1975-1990, Anm. Redaktion), über die Ermordung des sunnitischen Ministerpräsidenten Rafik Hariris bis hin zu anderen Attentaten*.

Steuern wir also auf ein völliges Chaos zu, das ein Ausweg für eine radikale Lösung wäre? Oder steuern wir auf eine regionale und internationale politische Intervention zu, um den Libanon und seine Sicherheit zu erhalten?

* Anfang Februar 2021 wurde der schiitische Verleger und Regimekritiker Lokman Slim erschossen (Anm. der Redaktion)

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