Dietrich Brüggemanns Roman «Materialermüdung 2022»

eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten

Es ist ein ungewöhnlicher Titel, den Dietrich Brüggemann für sein literarisches Erstlingswerk gewählt hat. «Materialermüdung» klingt sperrig und kreativ zugleich. Was damit gemeint ist, erfahren die Leser recht schnell. Die Wortschöpfung erklärt, warum Industrieprodukte nach einer gewissen Zeit den Geist aufgeben. Im Fachjargon wird die begrenzte Haltbarkeit von deren technischen Bestandteilen als Obsoleszenz bezeichnet. Heutzutage führen die Hersteller diesen Prozess aus marktstrategischen Gründen bewusst herbei, weshalb man von geplanter Obsoleszenz spricht. Dieser Begriff zieht sich wie ein Leitmotiv durch Brüggemanns Roman und zielt keineswegs nur auf Produkte ab, sondern schließt im allegorischen Sinne auch die sozialen Beziehungen ein.

Maya, eine der drei Protagonisten, spricht diesen Umstand direkt aus. Ihre Mutter, heißt es an einer zentralen Stelle, „besaß einen Mixer, einen Toaster und eine Kaffeemühle aus den 1960er Jahren, die noch tadellos funktionierten. Heute ging alles nach ein paar Jahren kaputt, und dann musste man neue Sachen kaufen. Maya hatte Bilder von endlosen Müllhalden gesehen, auf denen sich der Elektroschrott stapelte. Was hier vor sich ging, erschreckte sie zutiefst, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass sich hier ein Prinzip durch die ganze Gesellschaft zog. Elektrogeräte, Kleidungsstücke, Handys und Möbel, aber auch Freundschaften und Liebesbeziehungen – nichts war mehr auf Dauer angelegt. Es hielt ein paar Jahre, ging dann kaputt und konnte nicht repariert werden.“

Dass auch ihre Beziehung zu Jacob am Ende enorme Zerfallserscheinungen zeigt, ahnt Maya zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Genauso wenig weiß sie zu diesem Zeitpunkt, welche Zerreißproben das Verhältnis zum gemeinsamen Freund Moses überstehen muss. Im Laufe des Romans kommt es zu zahlreichen Konflikten, in die die drei Protagonisten verwickelt werden. Brüggemann lässt in der Plotentwicklung erkennen, dass er das dramaturgische Handwerk beherrscht und es als literarischer Erzähler genauso zur Geltung bringen kann wie als Filmemacher. Seine Figuren navigieren einen Herbst lang durch die Irren und Wirren eines Lebens zwischen Kulturszene, Social Media und dem ruppigen Miteinander auf deutschen Straßen, wobei sie sowohl einzeln als auch als Gruppe so manche Herausforderung meistern müssen.

Authentisches Bild der gegenwärtigen Gesellschaft

Während Moses sich auf die Suche nach seiner Schwester begibt und sich dafür auf Twitter anmeldet, Jacob als Filmmusiker reüssieren möchte, arbeitet Maya zusammen mit einem Theaterkollektiv an einem Stück, in dem es – und hier schließt sich der Kreis – um geplante Obsoleszenz geht. „Wir gehen kaputt“, schreibt sie in einem kreativen Moment in ihr Notizbuch. „Ihr geht kaputt. Die Welt geht kaputt. Eure Beziehungen gehen kaputt. Unsere Liebe geht kaputt. Das Stettiner Haff geht kaputt. Die Weltesche Yggdrasil geht kaputt. Das Ozonloch geht kaputt. Das Geld geht kaputt. Dein Handy geht kaputt. Dein Gehirn geht kaputt. Alles, was du kaufst, geht kaputt. Macht aber nix. Kann man nicht reparieren, aber neu kaufen. Besuchen Sie den kaputten Wegwerftheaterabend des Kollektivs IMPENETRANZA#62C, und wenn der Abend kaputtgeht, dann müssen Sie sich leider einen neuen kaufen, so sind die Regeln nun mal. Dieser Text geht jetzt leider auch kapt tutu tertigJknf969eut09ü=/j’“

Am Ende des Romans befällt die geplante Obsoleszenz die ganze Welt, was sich darin zeigt, dass Fahrzeuge, Gebäude und Straßen Symptome einer Materialermüdung aufweisen. Was hier surreal anmutet, erweckt schließlich den Eindruck, als wäre es Inhalt des inszenierten Theaterstücks, womit Brüggemann eine quasi metafiktionale Ebene in seinen Roman einbaut. Während der Autor die Abenteuer seiner Figuren bis zu diesem Zeitpunkt erzählerisch darstellt, zeichnet er zugleich ein authentisches Bild der gegenwärtigen Gesellschaft – und von dem, was in ihr schiefläuft. Maya, Jacob und Moses bewegen sich in einem woken Milieu und jonglieren mit Begriffen wie „Mansplaining“ oder „narrative rape“. Der kritische Ton ist unübersehbar. Er bezieht sich vor allem auf den übersteigerten Moralismus einer Generation, die sich selber einen ausgeprägten Sinn für soziale Ungerechtigkeit attestiert, ihn aber anderen abspricht – und in diesem Kulturkampf radikale Züge zeigt.

Leben im digitalen Raum

Es ist ein breites Themenspektrum, das Brüggemann in diesem Zusammenhang abgrast. Es geht um Identitätspolitik und Sprachregelungen, um Gendersprache, Veganismus und Cancel Culture. In diesen Phänomenen werden die Wurzeln für die Verrohung der Gesellschaft gesehen, genauso wie in der überbordenden Digitalisierung. „Alles, was das Leben lebenswert macht“, heißt es an einer Stelle, „also Freundschaft, Liebe, Kunst, Gemeinsamkeit, gibt es nur noch als Simulation im Netz. Liebe passiert auf Tinder, Freundschaft auf Facebook, private Kommunikation auf Whatsapp, politische Debatte auf Twitter, Waren des täglichen Bedarfs auf Amazon, Unterhaltung auf Netflix, Teilhabe an der Welt auf Instagram. Das einzige, was wir noch in der echten Welt tun, ist aufs Klo gehen.“

Der Rückzug in den digitalen Raum hat zu einer irrationalen wie derben Diskussionskultur geführt, lässt sich der Subtext in einer These wiedergeben. An vielen Stellen wird erkennbar, dass in den Roman Erfahrungen eingegangen sind, die Brüggemann während der Corona-Krise gemacht hat. Als er und über 50 weitere Kollegen aus der Filmbranche mit der Aktion #allesdichtmachen Kritik an der harten Maßnahmenpolitik der Regierung äußerten, schlug ihnen und ganz besonders Brüggemann eine Welle der Empörung entgegen. In den Leitmedien wurden regelrechte Hetzartikel geschrieben, um den Regisseur öffentlich zu diskreditieren. Zu dieser Zeit intensivierte Brüggemann seine Aktivitäten auf Twitter und musste am eigenen Leibe erleben, wie schmutzig und manipulativ die Diskussion werden kann.

Applaus von der falschen Seite

Diese Debattenkultur bildet der Autor in seinem Roman ab, indem er unter anderem den Hang zu Kontaktschuldargumenten thematisiert. Moses, der auf Twitter nach Informationen über seine Schwester sucht, lernt in diesem sozialen Medium unter anderem, dass Personen schnell diskreditiert werden, wenn sie Applaus von der falschen Seite bekommen. Den gleichen Vorwurf erhoben Leitmedien und die woke Twitter-Community, um die Teilnehmer der #allesdichtmachen-Aktion in die rechte Ecke zu schieben und somit in Verruf zu bringen. „Wenn also in der deutschen Öffentlichkeit jemand etwas äußerte, das als rechts verstanden werden konnte“, heißt es an einer Stelle, „dann wurde er von einem Mob aus tausenden Möchtegern-Sophie-Scholls gesteinigt. Damit war sichergestellt, dass die Geschichte sich niemals wiederholen würde.“

Obwohl «Materialermüdung» im Kern als eine Geschichte über Liebe, Freundschaft und Familie daherkommt, fängt der Roman den Zeitgeist ein. Brüggemann macht das ohne viel Pathos und verzichtet darauf, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Vielmehr werden die Ereignisse aus einer Beobachterperspektive dargestellt, oftmals sehr objektiv und gelegentlich überaus humorvoll. Es ist ein gelungenes Debüt, das auf verschiedenen Ebenen überzeugt: sprachlich, handwerklich und intellektuell. Wer sich auf die Lektüre einlässt, taucht zwar in eine verkommene Welt ein, wie sie sich gerade realiter präsentiert, erhält aber eine Antwort darauf, wo der Ort für Kraftressourcen liegt, die notwendig sind, um nicht den Mut zu verlieren.

1bis19 - Dietrich Brüggemanns Roman «Materialermüdung 2022»
< Materialermüdung> von Dietrich Brüggemann, 480 Seiten, Hardcover, Edition W / Westend Verlag, Frankfurt 2022
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