ein Kommentar von Eugen Zentner
Lesedauer 5 MinutenDie Impfpflicht steht kurz vor der Tür. Dabei beteuerte man noch bis kurz nach der Bundestagswahl, dass der oftmals verniedlichte „Pieks“ eine freie Entscheidung bleiben werde. „Allgemeine Impfpflicht kommt nicht infrage“, zitierte beispielsweise die Stuttgarter Zeitung den Kanzleramtschef Helge Braun am 22. November. Nur fünf Tage später sagte er das genaue Gegenteil, wie das Radaktionsnetzwerk Deutschland prompt berichtete, „CDU-Vorsitzkandidat Braun: Impfpflicht wohl nicht vermeidbar“, lautete die Überschrift. Eine ähnliche Kursänderung lässt sich in der Berichterstattung über die Wirksamkeit der Impfstoffe feststellen. „Immunität gegen Corona hält wahrscheinlich Jahrzehnte“, titelte die Bild-Zeitung noch am 6. August diesen Jahres. Eine Überschrift Ende November klang dann schon nicht mehr so optimistisch: „Impfstatus soll nach sechs Monaten ablaufen“.
Kann man sich auf die medial verbreiteten Informationen überhaupt noch verlassen, wenn sie innerhalb kurzer Zeit ihre Geltung verlieren? Handelt es sich nicht eher um Desinformation? Wenn zwei Meldungen offensichtlich konträr zueinanderstehen, muss eine von ihnen falsch sein. In der dialektischen Bewegung hebt die neue die alte gewissermaßen auf, bis ihr das gleiche Schicksal widerfährt. In der Zwischenzeit fristet sie ein Dasein als Tatsache, zumindest in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, die – wenn auch unbewusst – einer Falschmeldung auf den Leim geht. Desinformation, früher als planmäßige Irreführung bezeichnet, gehört heute zum Journalismus wie der Wunsch, Haltung zu zeigen. Die Vertreter der Zunft verbreiten sie täglich – ob vorsätzlich, fahrlässig oder frei von Schuld.
„Alle Formen der Desinformation finden in unseren Medien statt“, schrieb der Publizist Wolf Schneider in seinem Buch «Unsere tägliche Desinformation», das bereits 1984 erschienen ist. Seitdem hat sich die Situation kaum verbessert – im Gegenteil. Noch nie kursierten so viele Falschnachrichten wie heute. Man ist geneigt, von einer Inflation an Desinformation zu sprechen. Dass das keine Übertreibung darstellt, belegt die Arbeit des Netzaktivisten Argo Nerd. Auf Twitter stellt er regelmäßig Schlagzeilen nebeneinander, die sich unmittelbar widersprechen – oftmals in ein und demselben Nachrichtenblatt. „Impfstoff laut Biontech bei drei Dosen immer noch effektiv gegen Omikron“, hieß es beispielsweise am 8. Dezember im Tagesspiegel. Nur zwei Tage später ließ die gleiche Zeitung diese Meldung verlauten: „Biontech-Chef wirbt wegen Omikron für schnelle vierte Impfung.“
Narkotisierende Wirkung von Desinformation
Die schnelle Kursänderung mag neuen Erkenntnissen geschuldet sein, ändert aber nichts daran, dass am 8. Dezember Desinformation verbreitet wurde. Wer sie für Wahrheit gehalten hatte, richtete nach ihr möglicherweise seine Entscheidungen aus, schmiedete Pläne und setzte sie in einen Kontext zu anderen Informationen, die den eigenen Wissenshorizont prägen. Nur zwei Tage später hatten diese Gedankenkonstrukte keine Basis mehr und lösten sich genauso schnell auf, wie sie entstanden waren. Das Spiel könnte von vorne beginnen – mit den neuen Informationen. Aber hat man dazu noch Lust – nach solchen Erfahrungen? Wenn sich Nachrichten in so kurzer Zeit überholen, sich als Desinformation entpuppen und an Bedeutung verlieren, sinkt folgerichtig die Bereitschaft, sie in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Wer kann garantieren, dass die Meldung vom 10. Dezember zwei Tage später nicht ebenfalls ihren Informationswert verloren hat?
Je häufiger Zeitungsleser diese Erfahrung machen, desto schneller stumpfen sie ab. Und genau das ist das Ziel von Desinformation. Sie soll Verwirrung stiften und kritisches Bewusstsein unterminieren. Deswegen kommt sie in Krisenzeiten besonders häufig zum Einsatz, wenn es darum geht, Fehler zu kaschieren, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und Maßnahmen durchzusetzen. Sobald sich nur ein Hauch von Kritik regt, wird die Dosis erhöht, um Verstand und Sinne wirkungsvoll zu narkotisieren. Auf diese Art benebelt, schwanken wir seit nun über 20 Monaten durch diese Lebenswelt, ohne ein sicheres Gefühl entwickelt haben zu können, ob die durch Medien an die Oberfläche gespülten Phänomene real sind. Manipulierte Statistik-Daten, Intensivbetten-Lügen, Maskenskandale, PCR-Test-Korrekturen, perfide Impfstoffversprechen: Nur die allerwenigsten können im Wust der überbordenden, widersprüchlichen und überholten Informationen den Überblick behalten. Wer ist in der Lage, die zahllosen Narrative in eine vernünftige Ordnung zu bringen? Wer vermag sie zu analysieren, um sich ein stabiles, argumentativ schlüssiges Gedankengerüst daraus zu errichten?
Vor diesem Problem stehen nicht nur Zeitungsleser, sondern auch Journalisten selbst. Von Berufs wegen müssen sie sogar noch mehr Nachrichten rezipieren, und aus ihnen Informationen herausfiltern, die neu erscheinen und berichtenswert sind – alles unter Zeitdruck. Dabei stoßen die Journalisten ständig auf Aussagen, Verlautbarungen und Erklärungen, die gestern noch als unumstößlich galten, sich aber schon heute als falsch erweisen. Der Effekt der kognitiven Dissonanz tritt so häufig auf, dass er gar nicht mehr wahrgenommen wird. Das Narkotikum Desinformation hinterlässt bei ihnen die gleiche Wirkung, weshalb sie ebenfalls abstumpfen und unkritisch werden. Es ist ein Akt der Entlastung, der den Beruf erträglicher macht. „Allzu viele Journalisten haben sich an das Gebräu gewöhnt, das Politiker und Interessenten ihnen kredenzen“, beschreibt Schneider den Effekt, „ja etliche scheinen es alles in allem genießbar zu finden. Sie lassen sich einwickeln von den PR-Agenturen aus Politik und Wirtschaft, sie übernehmen deren Begriffe und Behauptungen – kurz: Sie weigern sich, von ihrem Verstand Gebrauch zu machen, bis zum nackten Verstoß gegen die Logik und zur fahrlässigen Komplizenschaft mit professionellen Lügnern.“
Journalisten als Opfer
Denn Desinformation werde von einem Kartell aus Politikern, Funktionären, Öffentlichkeitsarbeitern und Pressesprechern betrieben: „Sie tun das ihnen Mögliche, die Presse in ihren Dienst zu nehmen und sie nur insoweit mit der Wahrheit zu bedienen, als sie dem jeweiligen Mitglied des Kartells nicht schädlich ist.“ Damit spricht Schneider einen weiteren heiklen Punkt an, den sein mittlerweile verstorbener Kollege Jürgen Roth bestätigte: Journalisten werden benutzt. „Hinter der Verbreitung falscher Informationen und Nachrichten stehen keine Einzelpersonen“, liest man in seinem ebenfalls 1984 erschienen Buch «Dunkelmänner der Macht», „sondern in der Regel Teile von Nachrichtendiensten“. Und diese arbeiteten wiederum im Auftrag politischer Kräfte.
Roth hat sich in Deutschland als Investigativjournalist einen Namen gemacht und recherchierte mehrere Jahrzehnte über Korruption, organisiertes Verbrechen und Machtstrukturen. Was er schon in den frühen 1980er Jahren beschrieb, tritt in der heutigen Zeit immer deutlicher zutage: „Nun geht die Bevölkerung in demokratischen Ländern davon aus, dass zumindest die Informationen über die politische Großwetterlage, Terrorismus, Ost-West-Beziehungen, Krieg und Frieden, den Tatsachen entsprechen. Wer glaubt denn schon, dass selbst hier Informationen gefälscht werden, um ein Klima des Kalten Krieges zu schaffen oder eine Stimmung vorzubereiten, in der die schweigende Mehrheit alle Maßnahmen der herrschenden Politiker abdeckt?“ An dieser Aufgabe, so Roth, arbeiteten viele mit: „Journalisten, Geheimdienste, sogenannte wissenschaftliche Institute und natürlich die Politiker selbst“.
Die Verbreitung von Desinformation ist seit jeher ein Herrschaftsinstrument. Sie wird so professionell betrieben, dass Leitmedien mittlerweile selbst offensichtliche Widersprüche und Ungereimtheiten als Tatsachen verkaufen können, ohne dass ein Großteil der Gesellschaft Skepsis äußert. „Es ist so bequem, unmündig zu sein“, schrieb der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren in seinem Berühmten Essay «Was ist Aufklärung?». Das wissen die Produzenten von Desinformation ganz genau, weshalb sie nicht aufhören werden, sie immer und immer wieder in Umlauf zu bringen. Sie werden weiterhin auf ihre narkotisierende Wirkung setzen. Wer ihr nicht zum Opfer fallen will, muss sich von der Autorität der Leitmedien lösen und sich seines eigenen Verstandes bedienen. Doch vorher muss er aus dem betäubenden Nebel befreit werden – und sei es durch einen kalten Entzug.