Sachbuch: «Die Tugendpächter (2023)»

Eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten

Durch die politische und kulturelle Linke geht ein Riss. Deutlich zum Vorschein kam er bereits während der Corona-Krise, als ein Teil sich im Namen der Solidarität nicht für Freiheitsrechte einstand, sondern für deren Einschränkung. Anstatt sich wie einst auf Arbeitsbedingungen, Löhne, Renten, Machtmissbrauch oder Kapitalismuskritik zu konzentrieren, folgt dieses Lager zunehmend einer woken Ideologie und biedert sich bei dem politischen Establishment an.

Dieses Abdriften von klassischen linken Werten hat letztlich zum Streit innerhalb der Partei Die Linke geführt, die sich seit Monaten selbst zerlegt. Auf der einen Seite stehen Leute, die in der Tradition der 68er-Bewegung stehen und sich für die Interessen der Arbeiterklasse einsetzen, und auf der anderen die „Neulinken“. Meist handelt es sich dabei um Menschen aus der Mittelschicht und mit einem akademischen Hintergrund, die zwar keine Existenznöte kennen, dafür aber sehr gerne moralisieren. „Die Tugendpächter“ nennt sie Catherine Liu, eine Professorin an der Universität von Kalifornien, die ihnen einen teils interessanten, aber auch ideologisch gefärbten Essay gewidmet hat. „Professional Managerial Class“ (PMC) nennt sie diese Gruppe der „Neuen Linken, auf Deutsch: Professionelle Managerklasse.

Parallelen zwischen USA und Deutschland

Hierzulande ist dieser Begriff kaum geläufig. In den USA existiert er jedoch seit 1977, als ihn die beiden Publizisten Barbara und John Ehrenreich prägten, um ein Segment zu beschreiben, das im klassischen marxistischen Denken als „Kleinbürgertum“ bezeichnet wurde. Diese Klasse besteht aus beruflich qualifizierten Angestellten, die zwar ebenfalls ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, aber dabei ihren Körper nicht schinden müssen. Das unterscheidet sie von der Arbeiterklasse. Sie seien insofern Manager, erklärt Liu in ihrem knapp 100-seitigen Essay, „als sie die in der Arbeitshierarchie unter ihnen stehenden Personen motivieren und führen müssen“. In Deutschland wird diese Klasse eher mit dem Begriff „linksliberal“ umschrieben. Trotz der unterschiedlichen Bezeichnung bleiben deren Grundzüge und deren Entwicklung gleich, ob jenseits oder diesseits des Atlantiks. Das macht Lius Essay so interessant. Obwohl die Professorin sich mit den Verhältnissen in den USA beschäftigt und vorwiegend die dort als „links“ geltende Demokratische Partei kritisiert, lassen sich ihre Ausführungen auf Deutschland übertragen.

„Die Ehrenreichs“, schreibt Liu an einer Stelle, „wiesen bereits 1977 darauf hin, dass die Werte und Weltanschauungen der PMC zunehmend die Politik des linken Flügels dominieren und die Prioritäten der Arbeiterklasse in der Demokratischen Partei verdrängen.“ Genau das lässt sich mittlerweile in Deutschland beobachten, nicht nur bei der Partei Die Linke, sondern auch bei der SPD und den Grünen. Deren Loyalität hat sich mit den Jahren von den Arbeitern zum Kapital verlagert. Das gilt für Deutschland genauso wie für die USA. „Die Liberalen“, wie Liu die PMC nennt und damit dem hiesigen Begriff sehr nahekommt, „haben tatenlos zugesehen, wie das Finanzkapital und die Unternehmensinteressen die öffentlichen Kassen plünderten.“ Liberal sei diese Klasse jedoch nur in eingeschränktem Maße, so die Autorin. Verteidigt werden lediglich die Freiheitsrechte der eigenen Gruppe und die der wirtschaftlichen Elite. Den „einfachen Leuten“ spricht die PMC sie jedoch ab.

Moral als Tarnung

Lius Kernthese lautet: Die Neue Linke verrät die Solidarität, tarnt sich aber mit Moral. Als Klasse rede die PMC lieber „über Vorteile als über Gleichheit, über Rassismus als über Kapitalismus, über Sichtbarkeit als über Ausbeutung“. Toleranz sei für sie die höchste säkulare Tugend. „Sie will den tugendhaften Sozialhelden spielen, aber als Klasse ist sie hoffnungslos reaktionär“. Damit bildet Liu zugleich die Verhältnisse in Deutschland ab und erinnert in ihren Aussagen ein bisschen Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“ aus dem Jahr 2016, in dem der Soziologe ein ähnliche Entwicklung in Frankreich beschrieben hat, wenn auch weniger in marxistischen Begriffen wie Liu.

In dieser ideologischen Färbung ihrer Aussagen zeigen sich zugleich die Schwächen des Essays. Bei aller Sympathie mit ihrem Einsatz für die Arbeiterklasse klingt ihre Verteidigung teilweise sehr dogmatisch und ein wenig anachronistisch. Das Ziel ihrer Kritik sei „eine Rückkehr zu sozialistischer Politik und zu sozialistischen Maßnahmen“, heißt es an einer Stelle. Das wirkt so geschichtsvergessen und überholt wie die Forderung, „eine sozialistische Zukunft aufzubauen“. Dafür müsse man einen „ständigen Kampf führen, um die politische Lähmung zu überwinden“. Dieses Pathos erinnert tatsächlich an die 68er-Jahre, ändert aber nichts daran, dass sich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nur die wenigsten ein sozialistisches System zurückwünschen. Mit ihm lassen sich die Probleme dieser Welt genauso wenig bewältigen wie mit dem tugendhaften Gestus der Klasse, die die Autorin in ihrem Essay kritisiert. Ein bisschen weniger Doppelmoral, Heuchelei und Bodenständigkeit würden schon reichen.

Absurde Aussagen zu Corona-Maßnahmen

In ihrer Polemik gegenüber der PMC wirkt die Autorin bisweilen genauso inkonsequent und ideologisch wie diese selbst. Das macht sich unter anderem dann bemerkbar, wenn Liu auf die Corona-Maßnahmen eingeht: „Anstatt sich für eine nationale Gesundheitsversorgung einzusetzen, bewirbt eine Phalanx zentristischer Experten individuelle Maßnahmen, wie das Tragen von Masken, als die neuen ‚Tugenden‘. Ja, wir sollten Masken tragen, aber wir sollten auch kostenlose Corona-Tests und Rückverfolgen von Kontaktpersonen fordern, genauso wie kostenlose Impfstoffe.“ Mit ihrer sozialistischen Brille scheint Liu den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.

Wieder wird das Problem in der fehlenden Unterstützung des Staates ausgemacht. Dass die ganze Corona-Hysterie weniger mit Gesundheit als mit Big Business zu tun hatte, erkennt die Autorin nicht. Vielleicht müsste sie Jens Spahns Buch «Wir werden einander viel verzeihen müssen» (https://1bis19.de/politik/sachbuch-wir-werden-einander-viel-verzeihen-muessen-2022/) lesen, um eine Idee davon zu bekommen, in welchem Maße große Konzerne und die politische Klasse an Tests, Masken und Impfstoffen verdient haben. In der harten Abrechnung mit der PMC zeigt sich Liu auf intellektuell wackeligen Füßen. Ihr Essay schwankt zwischen guten Ansätzen, durchaus richtigen Beobachten, aber auch teilweise absurden Aussagen und ideologisch gefärbten Nebelkerzen.

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< Die Tugendpächter > von Catherine Liu, 128 Seiten, Klappenbroschur, Westend-Verlag, Frankfurt 2023, 18,-€023, 22,- €

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