Sachbuch «Wir werden einander viel verzeihen müssen (2022)»

Eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 6 Minuten
Jens Spahn 20.07.2020 – Foto © Raimond Spekking – CC BY-SA 4.0 (Bildausschnitt)

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“ – mit diesen Worten sorgte der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn im ersten Pandemie-Jahr bundesweit für Furore. Sie klangen wie ein Eingeständnis, dass viele der ergriffenen Corona-Maßnahmen ein Fehler waren. Nach der anfänglichen Aufregung verpuffte die Diskussion, und Spahn hielt sich mit Erklärungen zu seiner Aussage zurück, sodass die Öffentlichkeit nicht erfuhr, was zu verzeihen wäre. Neue Hoffnungen schürte er mit seinem Buch, dass die kontroverse Aussage im Titel trägt. Wer glaubt, der CDU-Politiker würde darin deutlicher werden oder gar den Maßnahmenkritikern entgegenkommen, bleibt nach der Lektüre enttäuscht zurück. Die Veröffentlichung dient ausschließlich dazu, die enorm fragwürdigen Entscheidungen zu rechtfertigen und Spahns ramponiertes Image aufzupolieren. 

Auf knapp 300 Seiten werden jene Narrative und Floskeln aufgewärmt, die schon die ganze Krisenzeit über die Seiten der Leitmedien füllten. Es habe sich um eine „dynamische Entwicklung“ gehandelt, die schnelles Handeln erforderte. Die Politik sei darauf bedacht gewesen, hierzulande solche Bilder wie in Italien zu vermeiden. Mit dem Wissen von heute hätte man damals wahrscheinlich anders entschieden. Aber dieses Wissen sei zu dem Zeitpunkt nun einmal nicht vorhanden gewesen. Spahn (oder sein Ghostwriter?) rekapituliert in teilweise langatmigen Ausführungen die Geschehnisse gerade in der Anfangszeit der Corona-Politik und wird nicht müde, die Situation zu dramatisieren. Die „Jahrhundertkrise“ habe „viel Leid, Krankheit und Tod über die Welt gebracht“. Die Maßnahmen seien notwendig gewesen, so das Mantra, und „die überwältigende Mehrheit“ habe sie mitgetragen. 

„An und mit Corona gestorben“ – rhetorische Taschenspielertricks

Einem Dramaturgen gleich zeichnet Spahn die Krisenbewältigung als Erfolgsgeschichte, als hätte es die vielen gesellschaftlichen Verwerfungen nicht gegeben. „Wir haben zusammengehalten“, heißt es etwa. „Wir haben gezeigt, dass wir als Gemeinschaft in schwerer Zeit bestehen können. Wir haben bewiesen, dass wir solidarisch sind.“ Er selbst tritt als besonnener wie fleißiger Held auf, der anpackt und umsichtig nach Lösungen sucht; der nachdenkt und sorgsam abwägt. Dabei wollte er in dem Buch eigentlich auch eigene Fehler zugeben, wie er im Vorwort schreibt: „Wo lag ich falsch, was würde ich heute anders, besser machen? Die Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern muss man allerdings mit der Lupe suchen. Wenn Spahn sie dann tatsächlich erwähnt, dann klingt das Eingeständnis so harmlos wie an dieser Stelle: „Im Nachhinein hätte ich manches besser und transparenter kommunizieren können. Etwa den Prozess des Abwägens, auch das Nicht-Wissen, um nur zwei Beispiele zu nennen.“ Unsicherheit, schlussfolgert Spahn, sollte man transparent machen, „ohne aber die Bevölkerung übertrieben zu verunsichern.“ 

Derlei Floskeln zeigen, dass der ehemalige Gesundheitsminister an seiner Kommunikations- und Ausdrucksweise im Prinzip nichts geändert hat. Maßnahmenkritiker bezeichnet er im Buch weiterhin als „Corona-Leugner“, „Impfgegner“ und „Verschwörungstheoretiker“. Genauso krampfhaft hält er an Begriffen wie „an oder mit Corona gestorben“ fest. In Deutschland sollen es „über hundertfünfundvierzigtausend Menschen“ gewesen sein, so Spahn: „Eine unfassbar hohe Zahl.“ Dass dieses schwammige Etikett als Instrument dazu diente, die Situation zu dramatisieren und die Maßnahmen zu rechtfertigen, bleibt unerwähnt. Dabei fällt seine Verwendung genau in den Bereich der Fehler, über die Spahn reden sollte. Denn alle Menschen sterben „mit“ irgendwelchen Viren. Würde man diesbezüglich zwei Jahre lang eine Statistik führen, wäre die Zahl mindestens genauso hoch, wenn nicht höher. Relevant ist einzig, ob jemand an dem Virus verstarb. Der Zusatz „mit“ erweist sich daher als völlig unbrauchbar und dient lediglich dazu, die Zahlen in die Höhe zu treiben. 

Ein „zu genauer Test“

Dass die „mit Corona“ Verstorbenen in die Statistik Einzug gefunden haben, geht unter anderem auf den PCR-Test zurück, der durchaus auch mal positiv anschlägt, wenn die Personen gar nicht infektiös sind. Spahn hat es sogar selber zugegeben, als er in einem Interview mit der Bild sagte: „Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nachher durch zu umfangreiches Testen – klingt jetzt total … müssen erstmal um zwei Ecken denken – durch zu umfangreiches Testen zu viel Falschpositive haben. Weil die Tests ja nicht hundert Prozent genau sind, sondern auch ’ne kleine, aber eben auch eine Fehlerquote haben.“ Diese Aussage fiel dem damaligen Gesundheitsminister auf die Füße, da er praktisch zugab, dass die Massentestung jene „unfassbar hohe Zahl“ bewirkte.

Im Buch geht Spahn auf dieses Interview ebenfalls ein, will darin aber keinen Fehler erkennen, sondern schießt gegen seine Kritiker und verteidigt das PCR-Verfahren mit sprachlicher Akrobatik. Der Test habe tatsächlich eine „paradoxe Schwäche“, so sein Wortlaut: „Er ist zu gut, zu genau. Das heißt in einfachen Worten, er zeigt manchmal noch Tage, selten auch noch Wochen, nachdem man nicht mehr infektiös ist, ein positives Testergebnis.“ Mit solchen Phrasen wird Spahn als klassischer Vertreter seiner Zunft erkennbar, der im typischen Politikersprech eine verquere Logik rhetorisch überdeckt. Wenn ein Test positiv anschlägt, obwohl die getestete Person nicht infektiös ist, dann erweist er sich nicht als „zu genau“ – sondern als „ungenau“. Und dann ist er nicht „zu gut“, sondern nicht gut genug – weil er falsche Ergebnisse liefert. Wenn er aber falsche Ergebnisse liefert, dann ist er für diagnostische Zwecke ungeeignet. 

Filmreife Erzählung

Spätestens hier verliert Spahn bei seinem Rehabilitierungsversuch jedwede Glaubwürdigkeit und lässt kurze Zeit später erkennen, dass es in der Corona-Krise möglicherweise eher um ökonomische Interessen ging. Indizien dafür liefert unter anderem eine Episode, in der die Dräger AG, ein Hersteller für Beatmungsgeräte, die Hauptrolle spielt. Spahn erzählt sie so: „Als Stefan Dräger und ich einige Tage später in meinem Büro zusammensaßen, berichtete er mir, wie stark die Nachfrage nach Beatmungsgeräten bereits gestiegen war. Eigentlich sei seine Jahresproduktion für 2020 schon unter Vertrag, die im Folgejahr auch mehr oder weniger. Meine Erwiderung war, dass ich ihm jetzt auf die Schnelle nur mit der Kraft der mündlichen Zusage eines Bundesministers erklären könne, dass die Bundesrepublik Deutschland bis zu zehntausend seiner Geräte abkaufen würde. Aber wir bräuchten sie bald: Ob es nicht doch irgendeinen Weg gäbe?“

Wie es nach diesem filmreifen Cliffhanger weitergeht, wird wohl niemanden überraschen: „Er überlegte. ‚Okay. Wir versuchen es.‘ Er müsse dafür quasi ab morgen seine Produktion umstellen, mehr Personal einplanen, neue Maschinen bestellen.“ Das Finale ist dann so bewegend wie ein Hollywood-Streifen: „Bald danach wurde die ganze Welt bei ihm vorstellig, Regierungs- und Staatschefs, selbst der König der Niederlande, riefen bei Stefan Dräger persönlich an, um an Beatmungsgeräte zu kommen.“ Nicht weniger dramatisch liest sich die Geschichte von der Masken-Not. Sie beginnt so: „Der Mangel an medizinischen Schutzmasken war riesig, die Preise durch die Decke gegangen. Ein Centprodukt schien so wertvoll geworden zu sein wie Gold. Der Grund war einfach: Die Nachfrage explodierte.“ Könnte dieser Effekt vielleicht mit dem „zu genauen Test“ zusammenhängen, der die Zahlen in die Höhe trieb, eine ungeheure Panik schürte und dadurch einen Run auf Masken auslöste? Könnte diese Nachfrage vielleicht künstlich erzeugt worden sein?

Geschichte mit Happyend

Als geübter Geschichtenerzähler liefert Spahn die Auflösung indirekt, verpackt in eine spannende Handlung: „Einige Chefs größerer deutscher Konzerne hatten auf verschiedenen Wegen ihre Bereitschaft zur Unterstützung angedeutet.“ Gerne hätte man erfahren, wie diese „verschiedenen Wege“ aussahen, doch geübte Rezipienten dürften solche Lücken sicherlich selber füllen können und müssten wissen, dass es im Politikbetrieb nicht unüblich ist, dass bei solch gewichtigen Funktionären gerne mal Lobbyisten großer Konzerne vorstellig werden, um mit einem Augenzwinkern „ihre Bereitschaft zur Unterstützung“ anzudeuten.

Doch wie geht die Geschichte weiter? „Vor diesem Hintergrund“, erzählt Spahn weiter, „rief ich die Vorstandsvorsitzenden von Unternehmen wie BASF, Bayer, Daimler, Otto, Lufthansa oder Volkswagen an und fragte sie, ob sie mit ihren Unternehmen die Bundesrepublik Deutschland und das deutsche Gesundheitswesen bei der Beschaffung von medizinischer Schutzausrüstung unterstützen könnten. Sie konnten – und dafür bin ich bis heute sehr dankbar.“ Das Happyend ist perfekt, und die Zuschauer können mit einem Wohlgefühl aus dem Kino gehen. Doch einige von ihnen denken weiter über den Film nach und fragen sich, ob er nicht etwaige Logikfehler enthält: Wie konnten solche Deals so schnell und unbürokratisch über die Bühne laufen? 

Never waste a good crisis

Spahn wäre kein Meister der Inszenierung, hätte er auch diese Ereignisse nicht sorgfältig motiviert: „‘Never waste a good crisis’ – dieses berühmte, auf den ersten Blick vielleicht etwas zynisch anmutende Zitat drückt aus, dass in jeder Krise auch die Chance zu Veränderung steckt. Wenn die Not groß ist, ist der Druck zu handeln und zu entscheiden hoch. So können in einer Krise Entscheidungen getroffen und Veränderungen begonnen werden, die zu normalen Zeiten nicht denkbar gewesen wären oder deren Umsetzung viel mehr Zeit in Anspruch genommen hätte. Zu teuer, zu schwierig, zu Geht-halt-nicht. Jetzt, in der Pandemie, war vieles plötzlich möglich.“

Was lässt sich aus dieser wundervollen Parabel lernen? Man braucht einen „zu genauen“ Test, der eine Gesundheitskrise suggeriert, in der gesetzliche Reglements ausgehebelt und „Entscheidungen getroffen“ werden können, die zu normalen Zeiten undenkbar sind. Zugleich erzeugt der magische Test eine künstliche Nachfrage nach einem Produkt, an dessen Produktion große Konzerne beteiligt werden. Et voilà: ihre Kassen füllen sich – und wahrscheinlich die der beteiligten Politiker. Aber auch das ist eine dramaturgisch geschickt gewählte Leerstelle. Für diese Geschäftspraktik gibt es einen Begriff: Organisierte Kriminalität. Wer sich darin üben möchte, findet in Spahns Buch eine formidable Handreichung – wenn auch verklausuliert. Wirkliche Eingeständnisse von Fehlern sucht man hingegen vergebens.

»Wir werden einander viel verzeihen müssen« von Jens Spahn, Olaf Köhne und Peter Käfferlein,
304 Seiten, Hardcover, Penguin Randomhouse Heyne Verlagsgruppe, München 2022, 22,-€

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