Gut, böse, richtig, falsch, klug, unklug

von Kenneth Anders

Lesedauer 5 Minuten
Quid est veritas - Nikloai Nikolajewitsch Ge (1890)
Quid est veritas – Nikloai Nikolajewitsch Ge (1890)

Ich bin ein Mensch, männlich, etwa 50 Jahre alt, großgezogen von meinen Eltern in der DDR, aufgewachsen mit einem Bruder. Das lässt sich sachlich feststellen. Kann man daraus etwas ableiten?

In der Ideologie der Identität wird uns gesagt: daraus folgt nahezu alles andere. Hautfarbe, Geschlecht, Generation, das entscheidet über die Art, wie wir die Welt erleben und uns in ihr verhalten. Zugegeben: Von meiner Familie wurde mir einiges mit auf den Weg gegeben, das meine heutige Sicht auf die Welt und meine Entscheidungen beeinflusst, aber nicht im Sinne eines Mechanismus, der mich bestimmt, sondern eher im Sinne eines Vermögens. Das sieht man daran, dass mein Bruder, der ja in der gleichen Familie aufwuchs, manche Dinge anders sieht oder entscheidet als ich. Es gibt Ähnlichkeiten, aber es gibt auch Unterschiede. Und auch bei anderen Geschwistern, die aus derselben Familie kommen, nehme ich wahr, dass sie doch oft sehr, sehr verschieden sind. Ich kann die Behauptungen der Identitätspolitik nicht bestätigen.

Ich habe auch keine Sympathie für das Reklamieren auf Werte. Oft sagen Menschen, dass sie bestimmte Werte haben, für die sie einstehen, oder denen sie verpflichtet sind. Ein Wert – was ist das? Ich bin nicht sicher, ob es so etwas im Sinne einer inneren Norm wirklich gibt. Der Wert ist wie ein Päckchen, man sieht es und kann es benennen, aber man weiß nicht, was wirklich drin ist. Man weiß nur, was draufsteht. Um anzuerkennen, dass etwas wichtig ist und handlungsleitend sein soll, muss man es zunächst wahrnehmen und selbst interpretieren. Liebe – schön und gut, aber was ist Liebe? Ehrlichkeit – ok, aber es gibt auch Höflichkeit und Klugheit. Demokratie – ja sicher, aber wer führt nicht alles im Munde, für die Demokratie zu sein? Die Wertepropheten behaupten substanzielle Inhalte, wo doch nur Etiketten sind. Oft habe ich das Gefühl, dass sie in die Päckchen Dinge hineinmogeln, die da nicht hingehören.

Im schönen Schein des Guten

Was also nehmen wir für gut, böse, richtig, falsch, klug oder unklug an? Diese Abwägungen sind nicht einfach zu treffen und ich habe im Verlaufe meines Lebens erfahren, dass man mit ihnen ziemlich einsam ist. Natürlich brauche ich Austausch, Kommunikation, Sprache, Geselligkeit. Aber es gibt auch eine stille Kammer, in der ich allein abwägen muss, wem ich vertraue und wem nicht, wann ich den Mund aufmache, wie ich zur Sprache komme und was ich im Zweifelsfall tun muss. Das Ergebnis dieser Abwägung lässt sich nur teilweise erklären. Denn sobald man es ausspricht, verändert es seinen Charakter. Es wird zu einer Rechtfertigung oder zu einer Aufforderung an den anderen. Man kann verstehen, was Demut ist und selbst versuchen, demütig zu handeln. Aber sobald man zu einem anderen sagt: Ich übe mich in Demut! wird es eine Geste, die den anderen in das eigene moralische Urteil hineinzieht. Der andere kommt in die missliche Lage, mir das abnehmen zu müssen oder es infrage zu stellen und im schlimmsten Fall auch noch sein eigenes Verhalten daran auszurichten oder wiederum dritte danach zu beurteilen. Auf einmal hat man es mit dem schönen Schein des Guten zu tun, nicht mehr mit dem Guten selbst.

Das ist keine neue Erfahrung. In der Philosophie weiß man schon lange, dass die Suche nach dem Guten ein einsames Geschäft ist. Und auch die ganz alltägliche Weisheit, wie sie sich in tausenden Jahren täglich neu im Nachdenken über das Tugendhafte herausbildet, landet immer wieder bei der Einsicht, dass man versuchen soll, selbst integer zu sein, aber darüber nicht so viel reden und schon gar nicht ständig das Verhalten der anderen nach Gesichtspunkten der Integrität bewerten sollte. Wer dennoch ständig die Tugend im Munde führt, öffnet ein Reich der Bigotterie (sofern noch religiöse Aspekte im Spiel sind) oder, allgemeiner, der Heuchelei. Auch das habe ich im eigenen Verhalten schon erlebt.

Die Widersprüchlichkeit des Lebens leugnend

Der Soziologe Niklas Luhmann hat diesen Umstand einmal sehr nüchtern auf den Punkt gebracht. In seinem Vortrag „Paradigm Lost“ schrieb er: „Unter Moral verstehe ich eine Kommunikation, die Informationen über Achtung und Missachtung mitführt“. Besser kann man es eigentlich nicht ausdrücken. Und es folgt daraus, dass die Moral in der Kommunikation mit spitzen Fingern angefasst werden muss.

Sobald wir anfangen, moralisch zu sprechen, wird die innere Abwägung an äußere Zeichen geheftet. Man verwendet zum Beispiel sprachliche Codes, mit denen man ausdrückt, dass man für das Gute ist und gegen das Schlechte. Das setzt voraus, dass einzelne Merkmale des Guten und Bösen freigestellt werden, wie ein Objekt in einem Grafikprogramm, sie werden zu beziehungslosen Symbolen. Die Abwägung, ob der jeweilige Kontext überhaupt stimmig ist, wird für überflüssig erklärt. Oder, um in dem Bild zu bleiben, das ich oben gebraucht habe: Man etabliert Päckchen, auf denen etwas draufsteht, aber niemand muss mehr prüfen, was eigentlich drin ist. Und man sagt, dass es fortan wichtig ist, mit solchen Päckchen zu handeln. Wenn das passiert, dient Moral als Kommunikationsform dazu, andere zu bewerten und sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Ist dieser Mechanismus einmal etabliert, wird er zur gesellschaftlichen Norm. Und alle, die diese Norm nicht einhalten, laufen Gefahr, missachtet zu werden.

Luhmann hat deshalb vor über dreißig Jahren geschrieben, dass es die Aufgabe der Ethik sein müsste, vor der Moral zu warnen. Die Moral, nicht mehr als einsame Abwägung sondern als akzeptierte Kommunikation betrieben, zerstört die Demokratie, weil sie die Widersprüchlichkeit des Lebens leugnet, eindeutige Zeichen aufstellt, zum Bekenntnis auffordert und dadurch den Widerspruch als Form der demokratischen Auseinandersetzung kriminalisiert.

Aber wo bleibt dann die Ethik, wenn sie vor der Moral warnt? Hat sie überhaupt noch eine Funktion?

Auf jeden Fall. Denn im Kontext der Ethik können wir darüber sprechen, was mit uns geschieht, wenn wir so oder anders handeln und so oder anders sprechen. Die Ethik ist also eine Möglichkeit der gemeinsamen Selbstreflexion. Im Gegensatz zur „einsamen“ Tugend ist sie auf Kommunikation geradezu angewiesen. Hier können Menschen ihre Erfahrungen im moralischen Dilemma miteinander teilen und sich darüber austauschen. Man kann auch darüber diskutieren, welche Folgen Gesetze oder Förderanreize auf das gesellschaftliche Handeln der Menschen haben. Und man kann der Politik ein Feedback geben zu den Auswirkungen ihres Tuns auf das soziale Miteinander.

Wem dient der Deutsche Ethikrat?

Der in unserem Land eingerichtete Ethikrat scheint dieses Verständnis leider nicht zu haben. Statt die Widersprüchlichkeit der Welt anzuerkennen und deshalb die Abwägung verschiedenster Güter zu organisieren, missversteht er die Ethik als eine Fachfrage. Die moralische Heuchelei der einzelnen transformiert er in eine Angelegenheit von Experten und verlangt dafür noch besondere mediale und politische Geltung. Deshalb sollte dieser Rat, meines Erachtens, unbedingt abgeschafft werden. Niemand hat das Recht, Fragen, die der ganzen Gesellschaft aufgetragen sind, an ein Expertengremium zu übertragen.

Wo bleibt dann aber das Ethische in der Gesellschaft?  Ich meine, ethisch ist die Abwägung selbst. Je weiter der Horizont ist, in den eine politische Maßnahme gestellt wird, je ehrlicher die zu erwartenden Folgen betrachtet werden, je weniger einzelne Zeichen für Gut und Böse genutzt werden, je mehr Verständnis für das Menschliche herrscht, umso besser wird die Abwägung. Würde ein Ethikrat eine solche Abwägung organisieren, wäre er nützlich. Aber davon kann keine Rede sein.

Was heißt das für den einzelnen? Sprich über Ethik im Sinne einer Reflexion der Folgen unseres Handelns für uns selbst. Und bleib mit Deiner Moral allein. Sprich mit Freunden nicht über Moral, sondern über Zweifel, Vertrauen, Entscheidungen und offene Fragen. Der Rest liegt im Herzen.

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Ein Kommentar

  1. Heute wird Moral als reine Machttechnik missbraucht. Bereits vor 100 Jahren hatte Max Weber die Verantwortungsethik der Gesinnungsethik gegenübergestellt. Zunächst war er der Ansicht, dass Gesinnungsethik in der Politik überhaupt nichts verloren hätte, später räumte er ein, dass sie in bestimmten Fällen doch eine gewisse Berechtigung hätte.
    Heute geht es nur noch um Gesinnungsethik. Wer die Folgen all der von angeblich “höchster Moral” geprägten Entscheidungen anspricht wird radikal aus dem Dialog ausgeschlossen. Es zeigt sich: wer die Definitionsmacht über die Moral im Staat inne hat kann jede Entscheidung treffen, ohne sie weiter begründen zu müssen oder gar die Folgen (Verantwortungsethik) einbeziehen zu müssen. Das ist ohne Frage totalitär, denn wo es keine Diskussion mehr gibt / mehr geben DARF, da geht es nur noch um Macht.

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