Der brave Applaus des Publikums

Teil 1v3: Phantasie und Öffentlichkeit

von Katja Leyhausen

Lesedauer 13 Minuten
Publikum © Pexels

„Was mir vorschwebt, ist ein Theater, das den Menschen wieder Freude gibt […]. Ich fühle es, wie es die Menschen satthaben, im Theater immer wieder dasselbe Elend wiederzufinden […], ich glaube an ein Theater, das dem Schauspieler gehört […]. Ich werde an meine Schauspieler die höchsten Ansprüche stellen“ (Max Reinhardt: Theater wie es mir vorschwebt (1901), zitiert nach Brauneck (Hg.) 1988, 135).

Applaus des Publikums

Unter dem Titel „Der Griff nach den Grundrechten“ führte der Verein 1bis19 Ende September eine öffentliche Veranstaltung durch. Zum Vortrag geladen waren Ulrike Guérot, Sandra Kostner, Norbert Häring und Carlos Gebauer, denen 150 Zuhörer gegenübersaßen. (Die Mitschnitte sind hier zugänglich.) Aus den Reihen des Vereinspublikums gab es im Nachhinein euphorische Zustimmung zur Veranstaltung: Man habe ein Gemeinschaftsgefühl miteinander erlebt und auch mit den vier medienbekannten Referenten, die sogar etwas aus ihrem persönlichen Leben erzählt hätten. Nach zwei bis drei Jahren schwierigster Basisarbeit auf der Straße und im Vereinsleben selbst, inmitten der Corona-Verbotspolitik und der anstrengenden Auseinandersetzungen mit Polizei und Behörden hieß es erstmals, jetzt sei man stolz, Mitglied bei 1bis19 zu sein. Auf der anderen Seite gab es auch Kritik, insbesondere von Gästen, die nicht Mitglied sind, und die hieß: Es sei viel zu wenig Widerspruch und kein Platz für streitige politische Diskussionen vorhanden gewesen; die konkrete Arbeit des 1bis19-Vereins sei nicht sichtbar geworden. Im Abendunterhaltungs-programm des öffentlich-rechtlichen Talk-Show-Fernsehens applaudiert das Publikum den Regierungsexperten; bei 1bis19 applaudiert es seinen eigenen Experten. Sieht man einmal davon ab, dass an diesem Septemberabend den vier verdienten Journalisten, Publizisten, Wissenschaftlern, die im Mainstream lieber gecancelt werden, als Akt des politischen Widerstands ein öffentlicher Auftritt ermöglicht wurde, dann laufen Lob und Kritik des 1bis19-Events auf ein und dieselbe abschließende Bewertung hinaus: Es handelte sich alles in allem um eine ziemlich unpolitische Veranstaltung. Dabei sollte doch für eine aktive Vereinstätigkeit geworben werden!

Begegnung mit Fremden

Der 1bis19 e.V. ist nicht die einzige Organisation von Maßnahmen- und Agendakritikern, die gegenwärtig nur braven Applaus produziert. Ihre öffentlichen Aktivitäten unterliegen denselben historischen Bedingungen wie das verwöhnte Talk-Show-Publikum der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten mit seinem harmonischen Konsum der immer gleichen, regierungsfreundlichen Meinungen. Konflikte über öffentliche Angelegenheiten werden nicht ausgetragen, was einem Desinteresse an der Lösung der Probleme gleichkommt. Ich beziehe mich auf die Diagnose, die der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett 1974 in seiner Analyse des Fall of Public Man (dt. 142004 Verlust und Ende des öffentlichen Lebens) publizierte: Das öffentliche Leben mit dem politischen Streit ist mühselig geworden. Die Foren des öffentlichen Lebens verfallen und dienen stattdessen als „Keimzellen“ einer „intimen Gesellschaft“ (Sennett 1974/142004, 334). Diese Entwicklung musste man schon mehrfach in der Geschichte beobachten: Die Bürger Roms waren nach dem Augusteischen Zeitalter der anstrengenden res publica (öffentlichen Angelegenheiten) überdrüssig. Damals schlossen sie sich lieber „einer Sekte wie dem Christentum“ an, als diese unbequemen und langweiligen Aufgaben zu übernehmen, die zu einer „Pflicht- und Formsache“ geworden waren, so Sennett (ebd. 15 f.). Seit der frühen Neuzeit spielt der Begriff der Öffentlichkeit in Europa wieder eine tragende Rolle; spätestens seit der Frankfurter Schule (durch Adorno, Plessner, Habermas) ist er zu einem Schlüsselbegriff der Politischen Soziologie geworden. Öffentlich heißt heutzutage derjenige Raum, der prinzipiell für alle zugänglich ist und der daher drei Funktionen erfüllt: 1. den offenen Streit über öffentliche Angelegenheiten auf offenem Forum 2. die Integration aller und 3. die Kritik und Kontrolle der Regierenden (Imhof 2013, 86).

Sennett (1974/142004, 31 u.ö.) spricht (in der deutschen Übersetzung) von der „öffentlichen Sphäre“ bzw. „dem öffentlichen Raum“. Anders als für andere politisch interessierte Soziologen ist für ihn nicht die Forums- und Streitfunktion die vorderste, sondern die Integrationsfunktion. Die ideale Verkörperung eines öffentlichen Raums der Begegnung und Integration sieht er in der europäischen Großstadt, besonders in Paris und London zur Zeit um 1750, als beide Städte (in unterschiedlicher Weise) ein Bevölkerungswachstum und eine innere geographisch-städtebauliche Umstrukturierung erfuhren. Der Stadtsoziologe Sennett definiert: Öffentlich sind Orte, an denen „Fremde einander regelmäßig begegnen“ können (ebd. 33). Insbesondere „die Stadt ist eine Siedlungsform, die die Begegnung einander fremder Menschen wahrscheinlich macht“, mit ihrer „heterogenen Bevölkerung“ (ebd. 60 f.). Fremd bedeutet hier unbekannt (unknown), nicht Außenseiter (alien, ebd. 73). Es geht gerade nicht darum, Außenseitern gegenüberzustehen, sondern mit Fremden umzugehen, deren Herkunft, Familie, Beruf und persönliche Geschichte man nicht einordnen kann – sie mögen dieselbe Zugehörigkeit und Identität haben wie man selbst. Bei Sennett liest man die positive Bewertung dieser Möglichkeit als eine glückliche Chance mit; er hat einen emphatischen Begriff von dieser Öffentlichkeit. Als Stadtsoziologe war er schon 1974 definitiv gegen die Provinzialisierung der Stadt durch kleine, quasi-private Nachbarschaften. Denn durch Segregation verlieren die Stadtbewohner „den Kontakt zueinander“ und damit ihre Kultur und Zivilisation (Sennett 1974/142004, 178).

Was die bürgerliche Öffentlichkeit einmal gewesen ist

Auf ca. 450 Seiten entwirft Sennett einen roten Faden der Entstehung und Entwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit. Die Entwicklung heißt: Im Ancien Régime vor 1789 bildete sich in den europäischen Großstädten zusammen mit der aufstrebenden sozialen Gruppe desBürgertums, also derjenigen Berufsgruppe, die mit nicht-feudalen Handels-, Finanz- und Verwaltungstätigkeiten betraut war, eine moderne Form der Öffentlichkeit heraus. Die Frage hieß damals wie heute: Wie kann man sich gegenseitig, da man nichts voneinander weiß, „die Ehre […] erweisen, ohne persönlich zu werden“ ? (Sennett 1997/142004, 72, 90) Woran soll man sich in der Kommunikation miteinander ausrichten? An welche gemeinsame Erfahrung, welches Wissen knüpft man an? Sennett meint: Die Bürgerlichen hatten damals durchaus ein großes Selbstvertrauen, denn sie wussten: Sie waren, ökonomisch und gesellschaftlich gesehen, „die neuen Leute“. Aber sie wussten noch nicht, was sie für Leute waren. Sie hatten also die Aufgabe, ihrem Leben in der Öffentlichkeit – auf der Straße, im Café, im Theater – eine Form zu verleihen (ebd. 84, 92).

Diese Aufgabe bestand auch noch im 19. Jahrhundert. Man kann den Horizont von Paris und London aus noch erweitern bis nach Frankfurt zur Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche 1848/1849. Auch in den Protokollen dieser Parlamentsdebatten sieht man (wie Sennett es in Paris und London sah): Bürgerliche Öffentlichkeit war der Versuch, mit „Würde […] einer ungemein harten, chaotischen Gesellschaft eine Form abzutrotzen“ (ebd. 25). Selbst in der Hitze der heftigen Auseinandersetzungen zwischen den zerstrittenen Parteien wusste man noch, dass „mit öffentlichen Angelegenheiten […] nur auf der Basis von nicht-personalen Bedeutungen umgegangen“ werden „kann“ (ebd. 18). In der Paulskirche tagten damals nicht weniger als 808 Abgeordnete. Pathetisch sagten sie immer wieder von sich, sie redeten im Namen der Würde dieser Versammlung oder zur Ehre der deutschen Nation. „Wir stehen hier für die Nation – wir stehen hier als Nation“, hieß es immer wieder. Als Abgeordneter von ganz rechts sprach man im Namen der Majestät von Adel und Monarchie, als Abgeordneter von ganz links sprach man für die Ehre der Arbeiter und kleinen Leute. Als am 1. August 1848 die Abschaffung der Adelsprivilegien auf der Tagesordnung stand, bildete die Standesehre das ausdrückliche Hauptthema der Diskussion: Die bürgerliche Ehre wurde gegen die Adelsehre gesetzt, und sogar – wortwörtlich – „der Bauernstolz“ (Reden 1848/49, II 1300). Doch auch in dieser Debatte beriefen sich die Abgeordneten auf die Ehre der deutschen Nation. Die radikal linke Seite wollte nicht nur die Privilegien, sondern auch die Adelsnamen und -titel abschaffen. Um die nationalliberale bürgerliche Fraktion auf ihre Seite zu bringen, meinte sie, namensrelevante Titel wie Fürst von oder Gräfin von seien „ein Unrecht“ und „eine Beleidigung gegen die Nation“. Die konservative Seite entgegnete darauf: Wer diese Adelsbezeichnungen abschaffen wolle, der würde zugleich „die Ehre“ der deutschen Geschichte zur Disposition stellen. Denn „die Ehren der Namen […] sind seit Jahrhunderten mit unserer Geschichte verbunden, und ein Glanz der Geschichte zugleich“ (ebd. 1300). Zwischen den beiden Positionen vermitteln sollte die Freiheit: „Ehren wir die Freiheit dadurch, dass wir die Privilegien aufheben […]. Ehren wir die Freiheit aber auch darin, dass wir unsere legislatorischen Rechte nicht missbrauchen, Rechte zu nehmen, die keines anderen Rechte kränken“ (ebd. 1303). Die Ehre der deutschen Nation und Geschichte und der Freiheit waren in dieser Debatte nicht nur Sachargumente, sondern sie vermittelten den Abgeordneten eine sichere Distanz. Sie bewahrten sie davor, sich mit lauter persönlichen Übergriffen um ihre eigene Ehre und Standesehre zu streiten – was ja naheliegend gewesen wäre.

In der Debatte über das allgemeine Wahlrecht im Februar/März 1849, in deren Ergebnis die allgemeine, direkte und geheime Wahl beschlossen wurde, ging es ebenfalls fortlaufend um die Würde höherer Ideale. Die progressive Linke musste für das Wahlrecht der Fabrikarbeiter, Handwerksgesellen, Tagelöhner, Dienstboten kämpfen, denn es wurde von den Konservativen ernsthaft in Frage gestellt, ob diese Berufsgruppen wohl „ehrenwert“, „zuverlässig“ und „charakterfest“ genug seien, um beim Vollzug der Wahl „ihre Unabhängigkeit wohl zu bewahren“ (Reden 1848/49, VII 5233): Diese Berufsgruppen seien ökonomisch abhängig; sie hätten deshalb keine „Selbständigkeit“ der Gesinnung, sie würden ihre „politische Überzeugung immer unterordnen“ (ebd. 5249). Es musste also die Ehre dieser kleinen Leute verteidigt werden, und dafür hieß es nicht nur: „Meine Herren, […] ehren sie die Arbeiter“, sondern: „Ehren Sie die Arbeit […], ehren sie die Arbeiter!“ (ebd. 5249). Zugleich wurde, mit rhetorischem Geschick, das Argument der ökonomischen Abhängigkeit gegen den Gegner gewendet, um gleiches Wahlrecht für alle einzufordern. Die Professoren wollten weiterhin nur die „ökonomisch unabhängigen classen“ zur Wahl zulassen? Dabei könne doch schließlich jeder sehen, wie sich die Professoren selbst gerade noch zu dieser Klasse dazu zählten, obwohl sie als Beamte im Staatsdienst nur Almosen empfingen. Es gäbe „schmachvolle Beweise der Servilität in den höheren classen“ (ebd. 5256) – und trotzdem durften sie wählen!

Die Rededuelle in der Paulskirche waren voller Übergriffe, Provokationen und Frechheiten, so nannte man das damals. Aber indem sich die Abgeordneten fortwährend im Namen höherer Ideale – der Würde der deutschen Geschichte und Nation, der Würde der Arbeit, der Freiheit oder der Nationalversammlung – selbst und gegenseitig disziplinierten, wussten sie prinzipiell noch, dass jeder Einzelne von ihnen am Rednerpult etwas Wichtigeres verkörperte als nur seine eigenen politischen Leidenschaften, persönlichen Vorlieben und Verletzlichkeiten. Beleidigungen konnten sie abwehren, weil es ihnen zumeist noch gelang, sie nicht persönlich zu nehmen. Sie hielten sich die Empörung und Emotionalität regelrecht vom Leibe, um in der Versammlung sprach- und handlungsfähig zu bleiben. Das nennt Sennett einen urbanen „bürgerlichen Kosmopolitismus“ (Sennett 1974/142004, 181).

Der öffentliche Raum ist leer

Sennett beschreibt allerdings eine Entwicklung: Er vergleicht die Zeit von 1750 einerseits und das 19. Jh. andererseits miteinander, besonders das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts: Jetzt wollte man auf der Bühne der Öffentlichkeit den charismatischen politischen Führer sehen, der nichts als seine klare Überzeugung in Reinheit verkörpert, nach dem Vorbild des Künstlers, der seine eigene unvergleichliche Genialität authentisch zur Darstellung bringt. Von immer weniger Akteuren wurde diese Bühne mehr und mehr dazu missbraucht, sich wie in einem Ausstellungsraum als einzigartige Persönlichkeit zu präsentieren. Die Zuschauer auf den Rängen, die in der Frankfurter Paulskirche noch eine laute, aktive Rolle gespielt hatten, nahmen nun eine nur noch passiv beobachtende und schweigende Position ein. Sie wurden äußerlich immer teilnahmsloser und überließen es den wenigen Bühnendarstellern, zu artikulieren, was sie selbst für politisch, gesellschaftlich, ästhetisch relevant hielten. Am Ende des Jahrhunderts wurden die Zuschauerräume schließlich vollständig abgedunkelt. Schweigend blickte die Masse auf die erleuchtete Bühne. Das ehedem so lebendige Paris verkam zu einer „Stadt des passiven Spektakels“ (Sennett 1974/142004, 166). Der Austausch mit Fremden, von denen man nichts weiß und mit denen man nichts teilt, außer den raum-zeitlich jeweils präzise umrissenen Moment der Begegnungssituation, schlief ein.

Was war passiert? Im 18. Jh. wurde, durch die mühsame Arbeit am öffentlich-unpersönlichen Ausdruck, nicht nur der öffentliche Raum geschützt, sondern auch die private Welt der Gefühle. Privat- und Öffentlichkeitssphäre entstanden in Abhängigkeit voneinander; eine dieser Sphären bildete das notwendige Korrektiv für die andere (Sennett 1974/142004, 125; 133). Damals wurde der authentische Ausdruck der eigenen Innerlichkeit und aller „Vorgänge des Seelenlebens“ zum Kennzeichen des privaten Umgangs. Der Öffentlichkeit sowie der „öffentlichkeitsorientierten Sprache“ blieb die eigene Gefühlswelt „unzugänglich“ (ebd. 123). Doch am Ende des 19. Jhs. hatte sich ein Prozess der Psychologisierung der Öffentlichkeit vollzogen: Äußere Erscheinungen wurden mehr und mehr zu „Signalen des individuellen Charakters, des privaten Empfindens und der Persönlichkeit“ (ebd. 191). „Eine psychomorphe Welt“ entstand, die ganze Gesellschaft wurde als „riesiges psychisches System“ aufgefasst (ebd. 16). Die Kleidung bspw. signalisierte nicht mehr den hierarchischen Platz in der Gesellschaft (wie noch um 1750), sondern wurde zum „Ausdruck des Selbst“ (ebd. 193). Geselligkeit in der Öffentlichkeit braucht Distanz, doch der Raum wurde nur noch für „gegenseitige Selbstoffenbarung“ missbraucht. „Intimes Erleben“ wurde zum „Allzweckmaßstab“ (ebd. 21), und jede Art von „Gemeinschaft“ zum „Produkt gegenseitiger Selbstentblößung“ (ebd. 17). Seitdem ist der öffentliche Raum „leer“ (ebd. 27).

Öffentlichkeit ist eine Frage der Vorstellungskraft und Phantasie

Man hat Sennett eine Idealisierung der Vergangenheit vorgeworfen und ihn ironisiert: So kosmopolitisch sei die Öffentlichkeit auch im 18. Jh. nicht gewesen; statt Verfall habe es nur geschichtliche Veränderungen gegeben. Beschäftigt man sich allerdings mit anderen Theorien der Öffentlichkeit, dann bauen viele von ihnen auf solche Verfallserzählungen auf, auch wenn sie bspw. wie diejenige von Jürgens Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ heißen. Augenscheinlich ist die Theorie der Öffentlichkeit meistens die Kritik daran, dass sie heutzutage nicht mehr funktioniert. Eine lebendige öffentliche, gesellschaftlich-politische Sphäre ist also eine Angelegenheit der Vorstellungskraft.

Im Zentrum der Analyse Richard Sennetts stehen daher (in der deutschen Übersetzung) die Wörter Imagination, Phantasie, Vorstellungskraft, Glaubhaftigkeit. Sennetts Methode besteht im Wesentlichen darin, zeitgenössische Beobachtungen über Theater, Stadt und Öffentlichkeit auszuwerten, er betreibt keine sozialgeschichtlich-empirische Statistik. Er erzählt, insbesondere anhand der Schauspieltraktate des französischen Aufklärers Denis Didérot, welche Vorstellungen man sich im 18. Jh. vom öffentlichen Umgang mit Fremden machte, und diese Vorstellungen haben ihrerseits Idealisierungen enthalten. Es war immerhin die Epoche der Aufklärung mit der utopischen Idee von der Perfektibilität des Menschen und der öffentlichen „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing 1780).

Im 19. Jh. dann prägten die neue kapitalistische Warenöffentlichkeit und die fortgeschrittene Säkularität das Menschen- und Gesellschaftsbild. In den Großstädten hatte das neue Institut des Einzelhandels mit Werbung und Warenfetischismus eine gezielte „Strategie der Desorientierung“ seiner Kunden und ihrer Phantasie eingeschlagen: Als Aristide Boucicault 1852 in Paris das kleine Warenhaus Bon marché gründete (das sich später zum größten Warenhaus der Welt entwickelte), herrschte die neue anonyme Atmosphäre der Festpreise. Man feilschte nicht mehr, wie auf dem Markt, mit Fremden um den Preis. Diese Begegnung blieb aus. Dafür konnte man nun, mit schweigend-konzentrierter Aufmerksamkeit, den ausgestellten Waren begegnen (Sennett 1974/142004, 189-194) – und zwar höchstpersönlich! Die anonymen Waren wurden nämlich mit einer „Aura von Fremdheit und Mystifikation“ umgeben; von ihrem Gebrauchscharakter und ihren Produktionsbedingungen wurde abgelenkt (ebd. 190 f.). Sennett berichtet von einem schnöden Kochtopf, der in der exotischen Umgebung eines orientalischen Harems zum Kauf angepriesen wurde. Die Waren bekamen eine aufregende Persönlichkeit extra inszeniert, so dass der Käufer den Eindruck gewinnen musste, ihre einzigartige Individualität – der exotische Charakter des Kochtopfs bspw. – würde sich auf ihn als Besitzer übertragen.

Einer breiten Kritik war dieser Irrglaube damals nicht mehr zugänglich, denn die Säkularisierung war weit fortgeschritten. Die Leute glaubten nicht mehr, dass sie noch etwas glaubten oder irrtümlich glaubten. Sie hielten sich für aufgeklärt, was ihnen ab Ende des 19. Jhs. auch die Experten des positivistischen Wissenschaftsideals einredeten. Mit diesem Erkenntnisideal stilisierten sich Wissenschaftler zu reinen teilnahmslosen Beobachtern. Dieses Ideal wird bis heute propagiert. Man sieht dadurch die vielen theoretischen Vorannahmen, forschungspraktischen Entscheidungen und invasiven Methoden nicht, mit denen Wissenschaftler (auch Naturwissenschaftler) ihre Gegenstände traktieren müssen, wenn sie ihnen eine Wahrheit abringen wollen. Nach wie vor wird, mit diesem Glauben an „immanente Bedeutungen“, Wissenschaft „als Immunisierungsmittel gegen […] Religion“ und den Glauben an die Transzendenz gebraucht (Sennett 1974/142004, 197). So hat sie sich selbst zu einer Religion mit quasi-erleuchteten Führern entwickelt. Die doctores und professores haben es heute so komfortabel wie das Bühnenpersonal vor dem abgedunkelten Zuschauerraum des Illusionstheaters. Von ihrer passiv-gläubigen Anhängerschaft haben sie braven Applaus zu erwarten und kritischen Widerspruch nicht mehr zu befürchten. Ich unterstelle allerdings: Diejenigen unter ihnen, die Erkenntnis wollen, haben an billigem Applaus gar kein Interesse, weder an den Orten der Regierungskritik noch in den bräsigen Fernseh-Talk-Shows oder Drittmittel-Universitäten.

Das Problem als Frage positiv reformuliert

Liest man Richard Sennett, dann kommt es einem vor, als ob er den 1bis19-Verein kennen würde: „In lokalen Vereinen und Zusammenschlüssen […] haben die Menschen oft das Gefühl, sie müssten einander als Personen kennenlernen, um miteinander handeln zu können; sie geraten dann in einen Prozess der gegenseitigen Selbstoffenbarung, der Immobilität hervorruft, und nach und nach verlieren sie die Lust, gemeinsam zu handeln“ (Sennett 1974/142004, 25). Sie hegen „die Erwartung, Nähe erzeuge auch Wärme“ (ebd. 425). Die drückende Erfahrung der Corona-Ausgrenzung und das Bedürfnis nach Gemeinschaft haben die Mitglieder persönlich zusammenrücken, aber genau dadurch auch leerlaufen lassen. Politische Aktionen finden gegenwärtig kaum noch statt. Es sieht so aus, als ob ihnen der „Wunsch und Wille“ zum gemeinsamen Handeln abhandengekommen wäre (ebd. 26). Ein Ausweg aus dieser Vereinspassivität ist bei der 1bis19-September-Tagung in der persönlichen Begegnung mit den vier großen, glaubwürdigen Persönlichkeiten aus den Reihen der Maßnahmen- und Agendakritik gesucht worden – ein Ausweg, dessen Ambivalenz den Teilnehmern nicht verborgen blieb.

Wie also kommen wir wieder weg von diesem heimeligen und zugleich betäubenden Wohlgefühl geteilter politischer Überzeugungen und Erfahrungen? Wie kommen wir wieder weg von der Fixierung auf große Persönlichkeiten, an die wir den öffentlichen Ausdruck der eigenen Emotionen und Ansichten bequem delegieren? Wie können wir wieder Lust am Umgang mit Fremden einüben – seien sie nun Mitglieder des Vereins, Gäste oder zufällige Passanten bei irgendeiner spannenden Straßenaktion? Wie können wir den öffentlichen Raum wieder beleben, wie können wir uns selbst wiederbeleben?

Sennett analysiert, wie sich im 18. Jh. die Grenzen der Vorstellungskraft davon, was ein Fremder unter Fremden und was man selbst als Fremder sein könnte, erweiterten. Sie erweiterten sich durch die Kunst, durch Theater und Literatur. Danach verengten sie sich, weil man Moral, Authentizität und psychische Selbstoffenbarung im Umgang miteinander vorzog. Von der maximalen Verunsicherung und Pervertierung dieser Vorstellungskraft im digitalen Zeitalter wusste Sennett damals noch nichts. Der allgegenwärtige digitale Voyeurismus hat die Fixierung auf intime Nähe exponentiell gesteigert. Zu Zeiten der ausgerufenen Pandemie hat sich gezeigt, wie sehr sie die sozialen Beziehungen im öffentlichen Raum zerstört. Es war für die digital orchestrierte Kampagnenöffentlichkeit von Politik, Wissenschaft und Massenmedien ein Leichtes, dem tauben Publikum einzureden: „Mein Liebes, wer auch immer dir auf der Straße wenn auch nur flüchtig begegnet, es mag ein Freund sein oder ein Fremder: Er könnte dich allein durch diesen einen Augenblick der körperlichen Nähe wie ein Meuchelmörder umbringen. Fürchte das Intimste, fürchte den Atem seines Lebens!“ Die medizinischen Masken wurden propagiert, um die öffentliche und sogar private Begegnung als Ort der höchsten Gefahr zu brandmarken. Kinderzimmer wurden genauso steril abgesperrt wie die öffentlichen Krankenhäuser. Folgt man Sennett, dann ist das der Höhepunkt einer zweihundertjährigen Entwicklung: Unsere Phantasie vom Fremden, Unbekannten, Unpersönlichen, Öffentlichen wurde mit Angst besetzt und durch den Fetisch allgegenwärtiger Nähe ersetzt, die aber nicht weniger beängstigend ist. Privatheit gibt es nicht mehr, und keine Öffentlichkeit. Es wird ja viel geleugnet, was auch strafrechtlich relevant sein soll: der Holocaust, die Wissenschaft, die Corona-Pandemie, der menschengemachte Klimawandel. Doch diese „Verleugnung von Öffentlichkeit“ (ebd. 168) – das heißt: einer modernen, aufgeklärten, ausdifferenzierten Gesellschaft überhaupt – diese Verleugnung registrieren die Leugnungskriminalisten nicht! Denn sie benutzen sie für ihre grundrechtswidrige Maßnahmenagenda. Wir unterstützen sie darin.

Man kann Sennett daher nur zustimmen: Aufgabe für einen Verein zur aktiven Verteidigung der Grundrechte ist es, die Vorstellungskraft neu zu schulen und wieder an eine kraftvolle Öffentlichkeit zu glauben, d.h. an „die Wirklichkeit sowohl unbekannter Personen als auch imaginärer Charaktere“ (ebd. 60). Wir müssen unserer Kommunikation im öffentlichen Raum wieder freundliche, ästhetische, kreative „Schranken“ setzen (ebd. 332), weil wir durch den naiven Verbrüderungskult zu einer Verschiebemasse von passiven Lämmern mutieren und mutiert werden. Es geht darum, sich und anderen die Würde und Handlungsfähigkeit zu erhalten. Mir geht es wie dem Regisseur Max Reinhardt, der an der Wende zum 20. Jh. des naturalistischen Theaters überdrüssig war. Er wollte an seine „Schauspieler die höchsten Ansprüche stellen“ und an die Stelle des langweiligen „Elends […] wieder Freude“ am kunstvollen Spiel setzen. Er wollte das für jeden Schauspieler, selbst für den, der sich vorkommt wie ein Statist in der hintersten Reihe irgendeiner Stehgreifbühne auf der Straße. Ich glaube, wie Reinhardt, an ein Theater, das uns als „Schauspielern gehört“ (zitiert nach Brauneck (Hg.) 1988, 135). Zwar bin ich keine Regisseurin. Meine Phantasie einer ausdifferenzierten Gesellschaft reicht nur vielleicht bis in die private Abgeschiedenheit des rot geflorten Labyrinths einer Ayurveda-Klinik, wo man dem ureigenen, anstrengenden Innenleben gefährlich ausgesetzt ist. Und in die Weltöffentlichkeit des Frankfurter Bahnhofsviertels, wo man auf höchstinteressante Fremde trifft, mit ihnen ausgelassen ist und, sofern man die ungeschriebenen Regeln der Szene respektiert, sogar als Frau vor persönlichen Übergriffen zuverlässig geschützt. Vorläufig halte ich mich an die Theorie. Ob es mir wohl gelingt, Spiel und Phantasie anzuregen, indem ich Sennetts Analyse dokumentiere und durch eigene Überlegungen zur Geschichte der französischen und deutschen Theater- und Sprachöffentlichkeit ergänze?

Literatur:

Brauneck, Manfred (Hg.) (1988): Klassiker der Schauspielregie. Positionen und Kommentare zum Theater im 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg.

Imhof, Kurt (2013): Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: Wie differenzieren wir das Soziale? In: Kurt Imhof/Roger Blum/Heinz Bonfadelli/Otfried Jarren (Hg.) (2013): Stratifizierte und segmentierte Öffentlichkeit. Wiesbaden. 79-90.

Reden für die deutsche Nation 1848/49. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Hgg. auf Beschluss der Nationalversammlung vonFranz Wigard. Vollst. Ausg. in IX Bänden neu vorgelegt und mit einer Einführung versehen von Christoph Stoll. München 1988.

Sennett, Richard (1974/142004): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (The fall of public man, 1974). Aus dem Amerikan. von Reinhard Kaiser. 14. Aufl. Frankfurt/Main.

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2 Kommentare

  1. Es ist beschämend wenn sich zum erwähnten hochkarätigen Vortrag nur 150 Nasen einfinden, Wenn man das Publikum von Prof Rainer Mausfeld schätzt, sind es „etwas“ mehr. Ebenso bei Dr. Daniele Ganser. Trotzdem glaube ich, dass der Verein 1bis19 eine Art Sauerteig sein kann. Aber wir müssen mit Nachbarn, Freunden und Umfeld reden (nicht missionieren!) . Jeder hat andere Vorstellungen, verfolgt andere Ziele, hat anderes Wissen und möchte die zweifelsfrei vorhandenen Mängel auf andere Art und mit anderen Prioritäten beheben. Deshalb meine Webseite xxx. Sie nennt einige Mängel und bietet einige Lösungsmöglichkeiten. Die – IMHO wichtigste – überlegt und informiert wählen und nach Möglichkeit vorher die Bewerber befragen. Das Internet sollte es möglich machen. Die Seite enthält Basis-Infos von derzeitigen Abgeordneten und Fragen die man stellen sollte. So kann man seine Stimme bei einer Wahl gezielter vergeben. Wobei eine Wahl keine Lösung ist. Wenn man nur alle 4 Jahre nach medialer Dressur 1 x bellen darf, hat das nichts mit einer Demokratie zu tun. Abwahlen sind im GG noch nicht vorgesehen, gehören aber zur echten Demokratie.
    Abstimmungen werden im GG zwar erwähnt, aber nicht durchgeführt.
    Sanktionen bei GG.Verstößen (wie aktuell das BVerfG über den Haushalt feststellte) gibt es nicht. Es ist wichtig, dass damit das GG ergänzt wird. Sonst, sind die im GG zugesagten Grundrechte nichts wert. Schon Cicero fiel auf: Straflosigkeit ist die größte Ermutigung für Verbrechen.

  2. Der Beitrag beschreibt genau die Herausforderung, die auch ich in diesem Jahr für mich begriffen habe.
    Ich habe in einem freien Theater ein Debattenformat mitverantwortet, es waren im ganzen zwölf Veranstaltungen. Einige waren sehr gut besucht, andere fast gar nicht. Es ist ganz offensichtlich, dass auch unter jenen, die einen kritischen Blick auf die Gesellschaft werfen wollen, Prominenz und Popularität mehr wiegen als eine interessante Themensetzung.
    In allen Fällen waren die Phasen nach dem Bühnengeschehen, in denen die Menschen zu Wort kamen, für mich die wertvollsten. Diese hätte ich gern ausgebaut – nachdenklich, ergänzend, auch gelassen im Widerspruch. Vor allem offen, nicht bestätigend. Aber offenbar haben die Menschen das Bedürfnis, dass da jemand ist, von dem sie vorher schon wissen, dass sie mit ihm in Resonanz gehen wollen.
    Ich habe den Eindruck, dass man die Öffentlichkeit nur dann neu aufbauen kann, wenn dieses Prinzip durchbrochen wird. Es sollte das Vertrauen in bestimmte Formate und ggf. auch Moderationen wachsen. Das Performative und Persönliche ist vielleicht unverzichtbar, aber dann hätte ich es gern als künstlerisches Produkt, als Element der der freien Rede vorgelagert. die dann ihre eigenen Bedingungen braucht.
    Dazu gehören natürlich auch einfach Dinge wie die Frage, wie man eigentlich sitzt und steht, welches Licht und welche Akustik man hat usw. – aber zuerst muss man es wohl schaffen, dass der Eigenwert der freien Rede den Wert der bekannten Persönlichkeit übersteigt. Das scheint mir ein weiter Weg, aber ich glaube, es ist der einzige. Denn sonst reproduziert sich das, was wir gerade kritisieren.

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