Auf der Suche nach dem Verbindenden

von Katja Leyhausen

Lesedauer 7 Minuten
Lessings Büste © Pixabay

Ich bin Germanistin, ich habe deutsche Sprache und Literatur studiert. Ich forsche im Bereich von Sprachwissenschaft und Sprachgeschichte. Manchmal hat man den Eindruck: Solche Wissenschaftler werden schon lange nicht mehr gebraucht, weil ja schon seit vielen Jahren die Kommunikation mit Sprache überall bestens funktioniert – ganz besonders seit März 2020. Doch ich will weiter zurückgehen: Im Jahre 2017 empörte sich die Öffentlichkeit darüber, dass Björn Höcke das Holocaust-Denkmal in Berlin ein „Denkmal der Schande“ nannte. Ein Denkmal der Schande, das weiß der Gymnasiallehrer Höcke, ist doppeldeutig: Man versteht es als Denkmal, das die Schande des Holocausts zeigen soll, als Denkmal für diese Schande. Aber für Höckes Zielpublikum klingt es wie ein Denkmal, das voller Schande ist und daher auch selbst eine Schande, und das deshalb entfernt werden muss. Sprachwissenschaftler sagen dann: Das ist eine populistische Provokation.

Ihr wisst vielleicht, worauf ich hinaus will: Der Spruch unseres CDU-Gesundheitsministers, es drohe eine „Pandemie der Ungeimpften“, folgt nämlich einem ganz ähnlichen Schema: Sachlich soll es um eine Pandemie gehen, die sich unter den Ungeimpften ausbreitet und die sie betrifft. Aber für das Zielpublikum, das die repressive und diskriminierende Impfpolitik des Ministers gut findet, ist es zugleich eine Pandemie, die aus Ungeimpften besteht: Die Ungeimpften selbst sind die Pandemie.

Wir werden hart durchgreifen

Und es kommt noch schlimmer, weil Wörter die Kraft haben, Menschen ganz konkret zu Handlungen anzustiften. Man muss dafür nicht einmal einen Appell ausformulieren; der Appell steckt im Wort selbst: Für eine Schande sollen sich die Menschen schämen, sie muss lauthals angeprangert und nach Möglichkeit aus der Welt geschafft werden. Höckes Spruch war ein unverhohlener Angriff gegen die Aufarbeitung der nationalsozialistischen deutschen Geschichte.

Aber nun ist es Jens Spahn, der die Bevölkerung zu zerstörerischem Handeln anstiftet: Mit einer Pandemie muss man endlich einmal zum Schluss kommen, eine pandemische Krankheit gehört ausgerottet, und das heißt: die Ungeimpften müssen bekämpft werden – koste es, was es wolle. Dass der deutsche Minister den Spruch vielleicht dem amerikanischen Präsidenten nur nachgeplappert hat, das macht die Sache nicht besser. Wer hier in Deutschland Menschen mit einer Krankheit gleichsetzt, der widerspricht unseren Grundrechten. Die Grundrechte besagen nämlich, dass jeder Mensch eine unverletzliche Würde hat und dass sie unter allen Umständen von allen respektiert werden muss.

Woher kommen diese boshaften, populistischen Entgleisungen? Als Markus Söder zur Bekräftigung des ersten Lockdowns auf den Tisch hieb und verlautete: “Es soll sich keiner täuschen. Wir werden hart durchgreifen”, da schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Wenn diese Entscheidung falsch ist, dann kommen wir da nie wieder raus. Das ist natürlich paradox. Denn wenn man eine Entscheidung trifft, die sich später als falsch herausstellt, dann nimmt man sie eben zurück und trifft eine andere, bessere Entscheidung. Aber darauf können wir lange warten. Ich ahnte damals schon, dass das harte Durchgreifen, mit dem Söder sich brüstete, so falsch sein würde wie die Kriegserklärung des Kaisers Franz Joseph im Sommer 1914, zum Anbruch des 1. Weltkriegs.

Man muss dafür keine Akademikerin sein, das merkt jede Mutter: Kinder und Jugendliche einzusperren, sie mit Freiheitsentzug zu terrorisieren und mit sozialer Isolation, damit sie sich den Gefahren der großen Welt da draußen zu 100% Sicherheit nicht aussetzen – das war schon immer unmenschlich. Wo waren die Ideen von Politik und Zivilgesellschaft, große freie Flächen für die Kinder und Jugendlichen zu schaffen, damit sie rausgehen, sich treffen und sich bewegen können? 

Uneffektives, maßloses und unkluges Handeln

Über die folgenden Entwicklungen war ich nicht überrascht. Die Entscheidung, das gesamte öffentliche Leben und vor allem die Schulen, Kitas und Jugendzentren, sogar Spielplätze und Parkanlagen dicht zu machen, erwies sich als uneffektiv, maßlos und maximal unklug. Aus politologischer Sicht fand ich das später bei Michael Esfeld und Karl Popper bestätigt: Kluge Regierungen gehen kleine Schritte, die sie wieder korrigieren können. 

Eigentlich hätten die Politiker ihre fulminante Fehleinschätzung schon im Frühsommer 2020 einräumen, sie hätten Konsequenzen ziehen müssen. Die berühmte Inzidenzkurve war schon vor dem Lockdown abgeflacht. John Ioannidis hatte schnell eine Sterblichkeit unter den Infizierten bzw. positiv Getesteten berechnet, die mit unter 1 % weit unter der Sterblichkeit der Spanischen Grippe lag. Damals, 1918/1919, waren es 2% nicht der positiv Getesteten (diesen Luxus kannte man damals noch nicht), sondern der gesamten Bevölkerung. Schon im Mai 2020 erschienen in Frankreich erste Studienergebnisse, die zeigten, dass Kinder nur in verschwindend geringer Zahl selbst schwer erkranken, dass sie auch gar keine „Superspreader“ sind. Man konnte es damals bereits wissen, dass sie mit ihrem besonders lernfähigen, hochaktiven Immunsystem ihre Umgebung vielleicht sogar schützen. Die Verunglimpfung und soziale Verelendung unserer Schutzbefohlenen hätte sofort beendet werden müssen.

Notlügen und Suche nach Schuldigen

Doch darin besteht das Problem bei politischer Maßlosigkeit: Nicht ein einzelner Politiker, die ganze Regierung inklusive Kanzlerin hätte zurücktreten müssen; und sie hätten dabei die vielen Anhänger ihrer Panikpolitik richtig verprellen müssen. Das destabilisiert einen Staat; allein aus Gründen der Staatsräson kann so ein Schnitt mitten in einer Krise in einer so aufgewühlten Bevölkerung niemals vollzogen werden. Wo aber große Fehler nicht eingeräumt werden können, müssen Ausreden und Notlügen her.

Viele fragen, warum sich die Regierenden für die wissenschaftliche Auseinandersetzung so gar nicht interessieren, warum Angela Merkel die methodischen Probleme des PCR-Tests und seiner Inzidenzen gar nicht versteht und warum Jens Spahn die vielen wissenschaftlichen Argumente gegen Kinder-Impfungen einfach nicht zur Kenntnis nimmt.

Für die Verantwortlichen ist Unwissen eine praktische Angelegenheit. Denn je weniger man über Sachprobleme weiß, desto leichter fallen einem die Ausreden und Ausweichmanöver. Auch schlechte Ratgeber sind genügend zur Hand. Ich persönlich gehe davon aus, dass die meisten es lieber besser machen würden. Doch gegenwärtig leben viele Politiker in einem richtigen Netz von Notlügen, Ausreden, Unwissenheit. Daher sind sie dazu verdammt, an ihre falschen, populistischen Versprechen selbst zu glauben (Lockdown – Impfquote – wir rotten das Virus aus). So entsteht ein ungeheures Aggressionspotential – bei den Regierenden, den Parlamentariern, letztlich bei allen, die sich unterwarfen und von Beginn an haben täuschen lassen. Diese Aggression muss auf jemanden abgelenkt werden. So erkläre ich mir den Spruch von der Pandemie der Ungeimpften: EIN Blitzableiter für ALLES muss her.

Lernen von Gotthold Ephraim Lessing

Nun will ich der Aggression etwas entgegensetzen. Ich stehe hier nicht für die Verzweiflung, ich stehe für einen respektvollen und menschlichen Umgang miteinander. Dazu gehe ich in die Zeit der Aufklärung zurück, zu Gotthold Ephraim Lessing. Für mich war er der größte Humanist und Menschenfreund unter den Aufklärern, und zur Zeit brauchen wir nichts dringender als menschliche Freunde.

Wie wir heute so lebte auch Lessing in einer Welt voller Vorurteile. Er war damals der Überzeugung, dass man den Menschen diese Vorurteile am besten auf der Bühne des Theaters spiegelt, wie auch all die Lächerlichkeiten und Konflikte, die daraus entstehen. Viele seiner Dramen gehen nicht gut aus. Denn wegen ihrer Vorurteile verschließen sich die Akteure gegeneinander, anstatt aktiv miteinander ins Gespräch zu gehen. Man hat diese Trauerspiele deshalb einmal als Dramen der gescheiterten Kommunikation bezeichnet.

Doch Lessing hat auch Stücke verfasst, wo die Kommunikation gelingt. Dazu zählt nicht nur “Nathan der Weise”, sondern auch „Minna von Barnhelm“. Die wichtigste Figur neben ihr in diesem Stück ist der Major von Tellheim – ursprünglich ein stolzer Offizier, der nun finanziell ruiniert und versehrt aus dem Siebenjährigen Krieg heimkehrt.

Dieser Major von Tellheim ist ein Mann von Ehre und ein richtiger Tugendbold. Heute würde er überall Maske tragen und sich dafür einsetzen, dass auch andere das tun. Er würde Impfungen für alle propagieren, um überall und immer seine Mitmenschen zu schützen – nichts sonst würde er sich dabei denken. Denn Tellheim ist ein Mann, der ganz mit sich übereinstimmt. Wie es scheint.

In Wirklichkeit ist der Major auf der Flucht. Er flieht – ausgerechnet  vor seiner Verlobten Minna von Barnhelm. Er hat so viel verloren: Kapital, körperliche Gesundheit und seine Ehre; er kann sich nicht überwinden, ihr in diesem Zustand gegenüberzutreten. Der tapfere Soldat ist ganz schön feige. Minna dagegen lebt nicht in der Perfektion. Sie handelt nicht nach dem autoritären Diktat einer abstrakten Tugend, sie hat eine praktische Vernunft.

Glück besteht nicht aus Rechthaberei

Ihr kennt vielleicht die Theorie: Wer zum Mond will, der sollte nicht das Haus verlassen und auf direktem Wege den erstbesten Baum besteigen. Man muss Umwege gehen, wenn man erreichen will, was einem wichtig ist.

Minna liebt ihren Offizier. Er flieht vor ihr; sie geht ihm nach, sie sucht ihn, sie findet ihn. In seinem Tugendwahn stößt er sie zurück. Aber wer liebt, der lässt sich nicht verhärten. Minna stößt schnell auf den schwachen Punkt im Ehrverständnis ihres Soldaten. Durch einen Zufall gelangt ihr nämlich Tellheims Verlobungsring in die Hände. Der korrekte Mann wollte ihn für Geld tauschen, um seine Schulden zu begleichen. Er ist ja unbedingt tugendhaft: Er macht keine Schulden.

Da folgt Minna einer raffinierten Intuition: Sie kommt auf die Idee, ihm diesen Verlobungsring zurückzugeben. Tellheim weiß nichts vom Verbleib seines eigenen Ringes; deshalb muss er denken, dass Minna ihm IHREN Ring zurückgibt. Er muss denken, dass sie endlich nachgibt und die Verlobung löst, weil sie enttäuscht ist von ihm. Dabei löst Minna die Verlobung ja gar nicht: Sie gibt ihm SEINEN Ring zurück. Die Verlobung wird also nicht gelöst, sondern erneuert – und das mitten auf dem Höhepunkt der Krise. Dieses Spiel mit dem Ring bewirkt viel mehr als tausend Worte. Im Untertitel heißt diese Komödie “das Soldatenglück”; und kein Glück, nicht einmal das Soldatenglück, besteht aus Tapferkeit und Rechthaberei.

Den Ring suchen, der verbindet

Deshalb denke ich: Ich will in dieser großen gesellschaftlichen Krise nicht nach dem Schwert greifen, das mit Tapferkeit alles zerhaut. Ich will nach dem Ring suchen, der verbindet. Ich glaube, man muss das bei jedem Freund und jeder Freundin einzeln tun, denn in jeder Freundschaft gibt es etwas Besonderes, das verbindet. Allgemein ist es vielleicht das gegenseitige Zuhören. Eines ist jedoch klar: Solange ich nicht nach dem gefragt werde, was ich weiß, führt mich die Weitergabe von Sachwissen nicht weiter. Die Währung, die Tellheims Misere mit verursacht, ist das Geld. Die Währung in der politischen Krise heute ist die Information: Bis Februar 2021 waren schon fast eine halbe Million wissenschaftliche Studien zum Thema COVID-19 erschienen. Jede dieser Studien kann politisch gebraucht und missbraucht werden – bis hin zum Informationskrieg. Ich selbst habe den Freunden, die die Diskussion verweigern, immer noch einen Link, noch einen Literaturtipp hinterhergeschickt. Aber muss ich mich wundern, dass die tugendstolzen Corona-Soldaten meine Informationen gar nicht wollen – nicht mal, wenn diese Informationen mit vielen Monaten der Verspätung in die großen Tageszeitungen kommen?!

Tellheim wollte seinen Verlobungsring zu Geld machen, obwohl ein Verlobungsring mit Geld nicht zu bezahlen ist. Dasselbe gilt für unsere Sprache und unseren Umgang miteinander. Freundlichkeit, Zuwendung, Nachsicht, Humor – all das ist mit der inflationären Währung der Information nicht aufzuwiegen. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns selbst nicht immer weiter aufklären sollen. Aber der persönliche Umgang ist ein Fundament von ALLEM. Wenn die Tugendsoldaten vor unseren gemeinsamen Problemen fliehen, muss man sich gut überlegen, ob es sich lohnt, ihnen hinterher zu jagen. So oder so: Man muss ein Zutrauen haben zur eigenen Intuition und Menschlichkeit.

Uns steht ein langer Winter bevor. Ich wünsche uns, euch, mir persönliches Geschick und auch Glück, damit wir einmal mit einem Menschen einen Ring tauschen können. 

* Auszüge aus einer Rede, gehalten bei der Offenen Gesellschaft Kurpfalz, am 23. September 2021 in Karlsruhe

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Ein Kommentar

  1. Danke für diese Worte. Gute Vergleiche und eine interessante Herangehensweise. Bitte weiter so.

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