Über Risikoeinschätzung in der Dynamik von Angsterkrankungen
Gast-Beitrag aus psychotherapeutischer Perspektive von Dr. med. Hartmut Kanwischer
Lesedauer 6 MinutenKonjunktiv als erfindungsreicher Berater
In der Dynamik von Angsterkrankungen, die im persönlichen Schicksal von Menschen erhebliches Leid verursachen, befinden wir uns im Herrschaftsbereich des Konjunktivs: „Ich fahre lieber nicht mit dem Auto, weil es zu einem Unfall kommen könnte. Ich steige nicht in das Flugzeug, weil es abstürzen könnte. Ich gehe nicht auf die Straße, weil ich überfallen werden könnte. Ich nehme lieber die Treppe, weil der Aufzug stecken bleiben könnte. Ich gehe nicht auf die Party mit unbekannten Personen, weil ich mich dort vielleicht nicht wohlfühlen könnte.“ Richtigerweise wird wahrgenommen, dass die geplanten Aktivitäten mit einem Risiko verbunden sind. Die vom Konjunktiv „vorgeschlagenen“ Möglichkeiten des Scheiterns stellen ja keine Halluzinationen dar, sondern sind in der Situation jeweils gegebene, unter widrigen Umständen auftretende Szenarien. Die gefühlsmäßige Wahrnehmung der Gefahr dominiert jedoch korrigierende verstandesmäßige Risikoeinschätzungen so stark, dass die kognitiven Bewertungen außer Kraft gesetzt sind. Entlastende Statistiken über die Sicherheit von Verkehrsmitteln oder die Erfahrung, dass sich eine Party mit zuvor unbekannten Personen im Laufe des Abends zu einem netten Abend entwickelt hat, entfalten keine Wirksamkeit mehr gegen die subjektiv wahrgenommene, unmittelbar bedrohlich erlebte Gefahr. Der Konjunktiv erweist sich als erfindungsreicher Berater, der um keine erschreckende Version der Zukunft verlegen ist.
Präventiv- und Sicherheitsmaßnahmen
Bei vielen Angstpatienten und Angstpatientinnen entwickelt sich so ein fixiertes System aus Präventiv- und Sicherheitsmaßnahmen gegen die potentiellen Gefahren. Es etabliert sich eine Lebensorganisation von durch Misstrauen geborenen Maßnahmen. Deren Überflüssigkeit wird letztlich nur verschleiert durch die Erleichterung, dass die Befürchtungen sich nicht bestätigt haben. In der Länge der Zeit führt diese Dynamik aber nicht zum erwünschten Erfolg, sondern das Gegenteil des angestrebten Sicherheitsgefühls etabliert sich.
Das Scheitern dieser Logik kann exemplarisch am Beispiel der Smartphones nachgezeichnet werden. Einige Ältere erinnern sich noch, dass es eine Zeit gab, in der es selbstverständlich war, ohne Handy aus dem Haus zu gehen, weil die technische Errungenschaft noch nicht existierte. Als tragbare Telefongeräte dann marktgängig wurden, versprachen sie ein neues Sicherheitsgefühl. Nun würde man in der Lage sein, wenn man in Not kommt und Hilfe braucht, rasch jemanden anrufen zu können, um die erforderliche Unterstützung zu erhalten. Das darin liegende Versprechen schien zu sein, sich von nun an sicherer zu fühlen.
Im Ergebnis hat sich dieses Gefühl ins Gegenteil verkehrt: Verlässt man heute das Haus und hat sein Smartphone nicht dabei, ist dies von einem unmittelbaren Gefühl des Mangels begleitet. Die Wenigsten widerstehen dem Impuls, ins Haus zurückzukehren und das Gerät noch zu holen, um dem Gefühl der Schutzlosigkeit etwas entgegensetzen zu können. Aus dem Versprechen, Sicherheit zu gewährleisten, ist die Empfindung einer weiteren Angewiesenheit auf ein schützendes Objekt entstanden, ohne das man sich nackt fühlt.
Gefahren und Risiken
Dass moderne Gesellschaften andere Formen des Risikos und der Risikoverteilung produzieren, als dies in früheren Gesellschaftssystemen der Fall war, hat zunächst der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch „Risikogesellschaft“ aufgegriffen[1]. Und die Diskussion führt sich fort bis in jüngste Veröffentlichungen, etwa die des Berliner Philosophen Byul-Chung Han ‚Palliativgesellschaft‘ aus dem Jahre 2020[2].Ein zentraler Beitrag aus dem Jahre 1991, der an Aktualität jedoch nichts verloren hat, stammt von dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann[3]. Luhmann unterscheidet zwischen Gefahren und Risiken in einer Gesellschaft, wobei er feststellt, dass immer mehr Gefahren sich in Risiken umformen. Gefahr wird dabei definiert als eine Bedrohungssituation, die sich dann dadurch, dass der Mensch Einflussmöglichkeiten auf die Gefährdungslage gewinnt, in Risiken verwandeln.
In traditionellen Gesellschaften lebten Menschen beispielsweise in einem Erdbebengebiet und nahmen dies durchaus als Gefahr wahr. Wenn sich die Gesellschaft nun dergestalt verändert, dass es möglich ist aus dem Gebiet fortzuziehen, ist aus der Gefahr ein Risiko geworden: Durch einen eigenen Beitrag kann auf das Fortbestehen der Gefahr Einfluss genommen werden.
Risiko vermeiden nicht ohne „Aufregungsschaden“
In diesem Zusammenhang führt Luhmann einen interessanten Begriff ein, den er als „Aufregungsschaden“ beschreibt. Gemeint ist, dass sich jedes Vermeiden eines Risikos nur unter Inkaufnahme neuer Aufwendungen erreichen lässt. Sein paradigmatisches Beispiel ist die Erfindung des Regenschirms und des Wetterberichts. In früheren Zeiten bestand durchaus die Gefahr, nass zu werden, wenn man aus dem Haus ging. Seit es Regenschirme und Wetterberichte gibt, ist aus der schicksalhaften Gefahr, durch einen Regenguss nass zu werden, ein Risiko geworden. Wenn jemand heute nass wird, hat er dies, weil er keine Vorsorge betrieben hat, selbst zu verantworten. Allerdings erfordert das Trockenbleiben nun die Inkaufnahme von Aufregungsschäden: Der Wetterbericht muss abgehört werden, das zuvor nicht bestehende Risiko, den Schirm an einem beliebigen Ort zu vergessen, ist ebenfalls eine Konsequenz der Sicherheitsmaßnahme. Zudem wird sich auch das Erleben des Nasswerdens verändern, da es als nunmehr vermeidbarer Zwischenfall von einem schicksalhaften zu einem schuldhaften Ereignis geworden ist.
Folgeschäden in der Pandemie werden vernachlässigt
In der gesellschaftspolitischen Organisation unseres Miteinanders hat die Politik sich dafür entschieden, als Kenngröße für eine erfolgreiche Bekämpfung von Krankheitsgefahren die Todesfallzahlen durch SarsCov2 anzunehmen. Dies ist ein dem Grunde nach zunächst durchaus sinnvolles Vorgehen, lässt jedoch die „Aufregungsschäden“ außer Acht, die in einer modernen Diktion möglicherweise besser als Kollateralschäden beschrieben werden können. Als alternative Kenngröße für eine die Belange der Bevölkerung berücksichtigende Politik im Umgang mit der Krankheitsbedrohung, könnte die Sicherung von Existenzen herangezogen werden. Um an dieser Stelle auf die medizinische Perspektive zurückzukehren, kann es als ein gesicherter Risikofaktor für die künftige Entwicklung seelischer Störungen angesehen werden, wenn Kinder ihre Eltern als überfordert erleben[4]. Dies kann sich darin ausdrücken, dass Kinder ihre Eltern in emotionaler Hinsicht als überfordert erleben oder überfordert durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Existenzsorgen. Kinder, die derartigen psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind, weisen gehäuft Schwierigkeiten in der Stress- und Impulsregulation auf, haben größere Schwierigkeiten sich zu konzentrieren oder einen gelingenden, schulischen, beruflichen und sozialen Lebensweg realisieren zu können. Gehäuft treten bei diesen Kindern Angsterkrankungen und Depressionen auf.
Das Fokussieren auf eine einzige Kenngröße, ohne andere Bedingungen als gleichwertig zu berücksichtigen, ist nur durch context stripping zu erreichen. Derjenige, der eine Situation beurteilt, wählt aus seinem Wertekatalog aus, was er für bedeutsam hält. In der Medizinerausbildung wird dies etwa an dem Beispiel vermittelt, dass ein Arzt den Patienten fragt, wie lange er schon an Magenschmerzen leide. Lautet die Antwort des Patienten: „Seit zwei Jahren, seit meine Frau tot ist“, so kann der Arzt sich lediglich die zwei Jahre notieren und dies für die bedeutsame Information halten, die mitgegebene Bedeutung des Todes der Frau nicht weiter hinterfragen oder in seinem weiteren Vorgehen berücksichtigen. Insoweit imponiert die Engführung anhand der Richtgröße Erkrankungs- und Sterbezahlen zunächst als eine plausibel erscheinende Bekämpfungsmethode einer Gefahrenlage. Hinter den Kulissen dieser Zahlenlogik bauen sich jedoch erhebliche Folgeschäden auf, die derzeit noch nicht auf der Rechnung erscheinen und daher vernachlässigt werden.
Gravierende Folgeschäden bei Kindern
Eine künftige Zunahme von Angsterkrankungen ist aus psychodynamischer Perspektive als gesichert anzunehmen und wird insbesondere Kinder betreffen, die heute schon die Erfahrung machen müssen, dass sie potentiell gefährlich für Andere sind. Grundlegende Entwicklungsschritte eines Menschen sind aus entwicklungspsychologischer Sicht stets nur in einem definierten Zeitfenster möglich; wird dieses verpasst, lässt sich vieles nicht mehr beliebig nachholen, sondern wird einen bleibenden Schaden nach sich ziehen.
Ein praktischer Bereich, in dem sich dies nachzeichnen lässt, ist die vor einem Jahr noch als skandalös erscheinende Nachricht, wie viele Kinder zur Einschulungsuntersuchung ihr Gleichgewicht nicht mehr auf einem Bein halten oder hüpfen können. Als Reaktion hierauf wurde eine Verstärkung der sportlichen Frühfördermöglichkeiten für Kinder gefordert, die Ausweitung des Schulsports angeregt. Heute leben wir in einer Situation, in der eine nennenswerte Einschulungsuntersuchung nicht mehr stattfindet und den Kindern der Sport seit einem Jahr entzogen ist. Viele von ihnen werden hinter dem Computer verschwinden und nicht mehr hervorkommen.
Eigenkörper als mutmaßlicher Feind – weil er krank werden könnte
Fast kann man schon ein wenig sentimental werden, wenn man das folgende Zitat des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk aus dem Jahre 1983 über das Verhältnis von Medizin und Gesellschaft liest. Sentimental, weil er hier eine Zeit der ersten Asepsis in Erinnerung ruft, in der Bazillen und Viren dämonisch hochstilisiert wurden zum Symbol für alles, was Böses erregt. Möglicherweise sind wir hinter diese Perspektive, mit all den nachteiligen Folgen die dies künftig haben wird, bereits zurückgefallen:
Die Medizin (…) denkt den Körper im Grunde als Subversionsrisiko. In ihm tickt die Krankheitsgefahr wie eine Zeitbombe; er ist verdächtig als der mutmaßliche künftige Mörder der in ihm hausenden Person. Der Körper ist mein Attentäter.
Wurden im Zeitalter der ersten Asepsis Bazillen und Viren dämonisch hochstilisiert zum Symbol für alles, was Böses erregt (…), so wird heute im Zeitalter der zweiten Asepsis nicht mehr nur der Fremdkörper, sondern bereits der Eigenkörper als mutmaßlicher Feind konzipiert. Weil er krank werden könnte, ist er das Problemkind der inneren Sicherheit. (…)
Wenn es erlaubt ist zu sagen, dass die Gesellschaften in ihren Medizinen ihr Lebensgefühl manifestieren, so verrät die unsere: Leben ist zu gefährlich, um es zu leben, immerhin aber auch zu kostbar, um es wegzuwerfen. Zwischen Kostbarkeit und Gefahr sucht man die sichere Mitte. Je mehr man das Leben sichert, desto mehr wird es virtualisiert, abgeschoben und ausgesetzt.[5]”
Seelische und körperliche Gesundheit sind ein hoher, zentraler Wert in unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis. Wenn das Leben aber dauerhaft zum Überleben verkleinert wird, werden schwerwiegende Folgeschäden billigend in Kauf genommen, die das Leben von Menschen, insbesondere der jüngeren Generation, nachhaltig und tiefgreifend beschädigen.
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Gastbeiträge geben die Meinung des Autors/der Autorin wieder.
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[1] Beck, Ulrich, Edition Suhrkamp, Frankfurt/M 1986
[2] Han Byul-Chung‚ Palliativgesellschaft, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020
[3] Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos, de Gruyter 1991, Berlin New York
[4] Hierzu gibt es wissenschaftlich eine breite, studiengesicherte Datenbasis die neben den internen (biologischen) Risikofaktoren eines Kindes die externen psychosozialen Risikofaktoren untersuchen und eine nachhaltige Auswirkung psychosozialer Belastungen auf die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen manifestieren. In Deutschland wurden hierzu etwa die Rostocker Längsschnittstudie 1970-1995 (Meyer-Probst und Reis), die Mannheimer Risiko Kinderstudie 1986-2013 (Esser und Schmidt) sowie die Bayerische Entwicklungsstudie 1985-1995 (Wolke und Meyer) durchgeführt.
[5] Peter Sloterdijk, Kritik der Zynischen Vernunft, Edition Suhrkamp 1983, Bd. II S. 631/2