Sachbuch: «Und die Freiheit? (2021)»

Eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten

Die Leopoldina gilt als eine der weltweit ältesten naturwissenschaftlichen Gesellschaften. Seit 2008 ist sie sogar die Nationale Akademie der Wissenschaft Deutschlands. Ihre Aufgabe besteht primär darin, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu aktuellen wissenschaftlichen Fragen zu beraten, möglichst objektiv und nach ethischen Grundsätzen. Doch während der Corona-Krise zeigte sich schnell, dass auch diese Institution keineswegs so unabhängig ist, wie es stets verlautbart wird. In der geschichtsträchtigen siebten ad-hoc-Stellungnahme zur Pandemie legitimierte sie für die Bundesregierung den zweiten Lockdown, der sich über mehrere Monate hinzog.

Der Wissenschaftsphilosoph und Leopoldina-Mitglied Michael Esfeld positionierte sich damals dagegen und forderte den Akademiepräsidenten in einem offenen Brief auf, die Stellungnahme zurückzuziehen. Als Kritiker der Corona-Politik trat auch Christoph Lütge auf, ein Professor für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München, der als Mitglied des scheinbar unabhängigen Bayerischen Ethikrat fungierte, bis ihn Ministerpräsident Markus Söder wegen seiner nicht konformen Haltung entließ. Als Reaktion auf diese Vorgänge haben Esfeld und Lütge bereits im Frühjahr 2021 gemeinsam ein Buch veröffentlicht, das bislang unter dem Radar geblieben ist, jedoch eine breitere Leserschaft verdient.

Politisch missbraucht

In «Und die Freiheit?» rechnen beide mit der Wissenschaftsgemeinschaft ab und monieren, dass sie sich in der Corona-Krise der Politik angedient habe. Die Leopoldina sei genauso instrumentalisiert worden wie die Wissenschaft im Allgemeinen, weil die Legitimation des Lockdowns auf normalem demokratischen und rechtsstaatlichen Wege nicht zu erreichen gewesen wäre: „In einem demokratischen Rechtsstaat können Grundrechte nämlich nicht generell eingeschränkt werden, und es ist auch nicht möglich, den Menschen vorzuschreiben, wie sie ihre sozialen Kontakte zu gestalten haben, oder die Ausübung ihres Berufs zu verwehren. Daher musste also die Wissenschaft herhalten, um all dies zu legitimieren.“

Die beiden Autoren begründen diese These, indem sie auf das Wesen wissenschaftlicher Arbeit skizzieren: Im Kern gehe es immer darum, angesichts der aktuellen Faktenlage verschiedene Handlungsstrategien mit stichhaltigen Gründen zu diskutieren, weil keine bestimmte Handlungsstrategie aus den Fakten folge. „Mit diesem Vorgehen lassen sich aber nicht politische Zwangsmaßnahmen legitimieren“, heißt es schließlich. Um den Abstraktionsgrad dieser Aussage zu reduzieren, machen es Esfeld und Lütge plastisch. Sie beschreiben, wie die Politik in der Corona-Krise von den Leitsätzen der Wissenschaft abrückte und zu einem Trick griff, mit dem den Bürgern dennoch Wissenschaftlichkeit suggeriert werden konnte.

Wie lief die Manipulation ab? „Es gibt innerhalb der Wissenschaft – gerade im Kreis der Virologen und Epidemiologen – solche, die ein rein medizinisches Vorgehen für richtig halten“, schreiben die beiden Autoren. Das habe sich zum Beispiel bei allen früheren Virusausbrüchen gezeigt. Ihnen gegenüber stünden Virologen und Epidemiologen wie der deutsche Christian Drosten oder der Brite Neil Ferguson, die schon immer politische Maßnahmen zur Virusbekämpfung befürwortet hätten. „Damit nun Wissenschaft als Legitimation für politische Zwangsmaßnahmen herhalten konnte“, merken Esfeld und Lütge an, „musste letztere Gruppe so in der Öffentlichkeit präsentiert werden, dass sie für die Wissenschaft als Ganzes spricht und diejenigen, die das traditionelle Vorgehen forderten, verleumdet und diffamiert wurden. Aus politischen Gründen wird also die Wissenschaft selbst politisiert.“

Kritik am PCR-Test

Diese Zeilen vermitteln sehr gut den Stil, der sich durch die ganze Lektüre zieht. Esfeld und Lütge konzentrieren sich auf das Handwerk, das ihren Berufsstand ausmacht: die Argumentation. In dem Buch fällt sie bisweilen messerscharf aus. Die beiden Autoren begründen das Versagen der Wissenschaft in einer klaren wie objektiven Sprache, ohne in emotionale Polemik abzugleiten. Die Ausführungen bleiben allgemein verständlich, zumal Esfeld und Lütge häufig mit praktischen Beispielen arbeiten und in einfachen Worten erklären, dass die Faktenlage alles andere als befriedigend war. Das veranschaulichen sie zum Beispiel an dem sogenannten PCR-Test, der sich eigentlich nicht für diagnostische Zwecke eignet, während der Corona-Politik jedoch dafür benutzt wurde, „Fälle“ zu generieren. Auf ihnen konnten daraufhin die Maßnahmen begründet werden. Dass die Aussagekraft eines PCR-Tests mit steigendem ct-Wert abnimmt, wurde dabei genauso ausgeblendet wie die Äußerungen des 2019 verstorbenen Biochemikers Kary Mullis. Der Erfinder des PCR-Verfahrens sagte einst, dass man damit so ziemlich alles finden könne, wonach man suche.

Wissenschaftliche Ungereimtheiten im Umgang mit dem PCR-Test seien jedoch auch dort aufgefallen, wo es um dessen Beurteilung geht. Esfeld und Lütge verweisen dabei auf den im Januar erschienen Artikel im Journal Eurosurveillance, in dem Christian Drosten und sein Team die Entwicklung des PCR-Tests beschreiben. „Dieser Artikel wurde für wissenschaftliche Maßstäbe außergewöhnlich schnell zu Veröffentlichung angenommen“, heißt es in «Und die Freiheit?», „nämlich nach einem nur einen Tag dauernden ‚Peer-Review-Verfahren‘, einem Verfahren zur Qualitätssicherung durch unabhängige Gutachter aus dem gleichen Fachgebiet.“ Neben Beispielen dieser Art arbeiten Esfeld und Lütge mit Vergleichen, etwa dann, wenn sie auf die Wirkungsweise der Maßnahmen eingehen. Um ihren vermeintlichen Effekt zu widerlegen, verweisen sie auf Länder wie Schweden oder US-Bundesstaaten wie Florida, die ohne strikte Einschränkungen bessere Ergebnisse aufweisen als die meisten europäischen Länder. Am eindrücklichsten erweist sich die Gegenüberstellung von North und South Dakota. Obwohl beide US-Bundesstaaten eine entgegengesetzte Strategie verfolgten, blieben die Infektionszahlen gleich.

Von „flattening the curve“ zur Minimierung der Infektionszahlen

Vergessen scheint auch die Inkonsequenz in der jeweiligen Begründung der beiden Lockdowns zu sein. Anfangs, erinnern Esfeld und Lütge, habe das Ziel noch „flattening the curve“ geheißen: „Es ging also darum, einen exponentiellen Anstieg der Infektionen zu unterbinden, um eine Überlastung der Intensivstationen zu verhindern. Die Fallzahlen sollten also zeitlich gestreckt werden, um nicht auf einen Schlag eine zu große Zahl an Patienten betreuen zu müssen. Beim zweiten Lockdown war das Ziel ein völlig anderes. Denn nun lag der Fokus auf der Zahl der Infektionen und darauf, die Ausbreitung des Virus an sich zu verhindern.“ Das sei jedoch kein legitimes Ziel, so die Autoren. Die zeitliche Streckung der Fallzahlen hingegen sehr wohl, „auch wenn das Mittel schon damals falsch war, weil es um den Schutz der Risikogruppen hätte gehen müssen.“

Fast drei Jahre nach Beginn der Corona-Politik scheinen diese Ereignisse in weite Ferne gerückt zu sein. Über ihnen liegt ein breiter Mantel des Schweigens. Esfelds und Lütges Buch ruft sie jedoch in Erinnerung, indem es die vielen Verfehlungen konserviert. Gerade darin liegt seine Stärke. Es enthält alle wichtigen Argumente und Fakten, die in der gegenwärtigen Zeit der Aufarbeitung notwendig sind, um die Entscheidungsträger aus Politik und Wissenschaft zur Rechenschaft zu ziehen. Verantworten müsste sich insbesondere die Leopoldina, zumal die beiden Autoren die Widersprüche zu ihrem Leitbild detailliert aufführen und an ihrem Beispiel zeigen, wie groß der zivilisatorische Rückschritt tatsächlich ausfällt: „Es handelt sich hier um Verdunkelung statt Aufklärung, finsterstes Mittelalter, in dem Wissenschaft die Stelle einer Staatsreligion einnimmt und sich für politische Propaganda hergibt.“

»Und die Freiheit? – Wie die Corona Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen« von Christoph Lütge und Michael Esfeld, 128 Seiten, Softcover, riva Verlagsgruppe, München 2021, 10,-€

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