Sachbuch: «Digitalisierte Gesundheit 2022»

Eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 5 Minuten

Der Raum des Sagbaren ist eng geworden. Wer von der herrschenden Meinung abweicht, wird aus dem Diskurs verdrängt. Diese Entwicklung hat zwar schon vor der Corona-Politik begonnen, aber mit ihr einen Höhepunkt erreicht. Die Konsequenzen sind fatal: Es entsteht eine Schweigespirale, sodass Andersdenkende nicht mehr wagen, ihre Meinung zu äußern. Dadurch verkümmert nicht nur die Diskussionskultur, sondern auch das demokratische Bewusstsein. Der Westend Verlag möchte diesem Trend mit der Reihe „Streitfragen“ entgegenwirken, indem er in jedem Buch zu einem ganz bestimmten Thema zwei Beiträge von Autoren veröffentlicht, die einen jeweils anderen Standpunkt einnehmen.

Diese Herangehensweise soll „Lust am Selberdenken und dem Entwerfen einer eigenen Position wecken“, heißt es in jeder Ausgabe. „Es ist ein großes Gut und Zeichen von Freiheit, dass es andere Standpunkte gibt, die den eigenen in Frage stellen. Nur so können Gedanken sich formen und umformen, nur so kann Neues entstehen, kann Gesellschaft wachsen und sich entwickeln.“ In dem Band «Digitalisierte Gesundheit» geht es gleich um zwei Themen, die im Zuge der Corona-Krise an Brisanz gewonnen haben. Einerseits ist deutlich geworden, dass das Gesundheitswesen sich immer weniger am Wohl der Menschen orientiert als an politischen und wirtschaftlichen Prinzipien. Andererseits werden gerade in Krisenzeiten mehr und mehr Lebensbereiche digitalisiert, womit Massenüberwachung und Kontrolle Tür und Tor geöffnet werden.

Um diese Aspekte geht es teilweise auch in den Beiträgen von Franz Bartmann und Andreas Meißner, die ihre Texte ohne Kenntnis des jeweils anderen geschrieben haben. Während sich Letzterer gegen eine Digitalisierung ausspricht, sieht jener in ihr eine „ethische Verpflichtung“. Franz Bartmann, Facharzt für Viszeral- und Unfallchirurgie und bis 2015 im Malteser Krankenhaus St. Franziskus-Hospital in Flensburg tätig, bezeichnet das deutsche Gesundheitswesen vor allem im Vergleich zu skandinavischen Ländern als „hoffnungslos antiquiert und ineffizient“. Obwohl mittlerweile zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung stünden, würden sie hierzulande nicht genutzt. Die Gründe dafür seien vielfältig: bürokratische Vorgaben, Widerstand der etablierten Akteure, Angst vor Neuem. Als während der Corona-Krise die Videokonsultation den Arztbesuch ersetzte, habe man das in Deutschland bereits als Fortschritt gefeiert. Bartmann kann diese Euphorie nicht teilen, weil die virtuelle Sprechstunde nicht weniger zeitaufwendig sei als eine vergleichbare Behandlung in der Präsenzmedizin.

Odyssee durch das Gesundheitssystem

Handlungsbedarf sieht der Facharzt hingegen beim Umgang mit der elektronischen Patientenakte, gegen die sich noch viele Akteure sträuben. Dabei würde sie viele Probleme lösen, die seit Jahrzehnten das deutsche Gesundheitssystem prägten. Da Patienten hierzulande den Arzt so oft wechseln können, wie sie möchten, würden in manchen Fällen viele fachärztliche Kollegen in die Behandlung involviert. So müssten Informationen in einer langen Kette weitergegeben werden, was sich aufgrund einer Vielzahl zunehmend verkompliziere. Das Prozedere gleiche dem Prinzip der stillen Post, „bei der am Ende eine stark verfremdete Version der tatsächlichen Ausgangssituation steht“, so Bartmann: Potenziert werde das Problem dann, wenn der Patient nicht zu seinem ursprünglichen Überweiser zurückkehrt, sondern auf eigene Faust mithilfe der Gesundheitskarte seine eigene Odyssee durchs Gesundheitssystem antrete.

Wenn ein Patient beispielsweise im kritischen Gesundheitszustand nicht in der Lage sei, Angaben zur Vorgeschichte zu machen, müsse die komplette Diagnostik meistens über Nacht erneut durchgeführt werden. Solche Doppeluntersuchungen kosteten Zeit und Geld. Der über 20 Jahre in München niedergelassene Psychiater und Psychotherapeut Andreas Meißner sieht das anders. Ihm zufolge gebe es keine belastbaren Studien, aus denen hervorgehe, dass die Doppeluntersuchung viel koste. Zeit lasse sich durch eine elektronische Patientenakte ohnehin nicht sparen, weil die Einloggprozedur oftmals zu langwierig sei. Zudem stellten kontinuierliche Updates Ärzte und Therapeuten vor enorme Herausforderungen, weil sie von einer Technik überfordert würden, „die sie nicht mehr verstehen und für deren Installation und Wartung immer häufiger das kostenintensive Hinzuziehen von IT-Fachleuten notwendig wird“.

Für die Patienten, so Meißner weiter, ergebe sich hingegen das Problem, dass sie die eigenen Geräte vor unbefugtem Zugriff sichern müssten. Darin sieht der Psychiater und Psychotherapeut die größte Gefahr und verweist auf einen Fall in Finnland, wo 2020 Zehntausende Psychotherapiepatienten mit ihren gehackten Datensätzen erpresst wurden. Die Technik im Gesundheitswesen verfehle ihr Ziel: Im Prozess der Digitalisierung würde die Behandlung entmenschlicht. Es gingen nicht nur persönliche Feinheiten und Nuancen verloren, auch die individuelle Biografie der Patienten und deren Leiden gerieten aus dem Blick. Franz Bartmann setzt diesem Argument entgegen, dass die Technik eine persönliche Betreuung nicht obsolet machen werde: „Wo nur ärztliche Kompetenz und Erfahrung vor Ort einen Therapieerfolg sichern können, bleibt ein realer Arzt auch in Zukunft unverzichtbar“, schreibt er und verteidigt zugleich das Konzept des sogenannten „Telenotarztes“. Dieser könne lediglich die Aktivitäten des Rettungssanitäters bis zum Eintreffen des Notarztes unterstützen und sie damit gegebenenfalls auch rechtlich absichern. Meißner beklagt dagegen, dass es im deutschen Gesundheitswesen immer weniger Ärzte und Pflegepersonal gebe. Darin bestehe ein dringlicheres Problem als in der unterentwickelten Digitalisierung.

Das Problem der Datensicherheit

Beide Beiträge beleuchten wichtige Aspekte im Gesundheitswesen und führen durchaus überzeugende Argumente ins Feld. Sie führen vor Augen, wie Komplex das Gesundheitswesen ist. Zunehmende Digitalisierung löse viele Probleme, bringe aber auch neue hervor. Diese zeigen sich insbesondere in der Sicherheit von Daten. Deren Schutz bezeichnet Bartmann durchaus als „ärztlichen Ethos“. Ihm entspreche jedoch „in noch entscheidenderem Maße die Verpflichtung, Leiden zu lindern und Krankheiten zu heilen. Im Zielkonflikt sollte daher immer als oberste Maxime das Patientenwohl stehen.“ Für Meißner hingegen führe die Digitalisierung zum gläsernen Patienten. Er erinnert unter anderem an die Verlautbarungen des Bundesgesundheitsministeriums, laut dem „der Umgang mit Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI) ‚Grundlage für die Gesundheitsversorgung der europäischen Bürgerinnen und Bürger“ werden soll.

Solche Tendenzen, unterstreicht Meißner, begünstigten Massenüberwachung und staatliche Kontrolle, weshalb die fortschreitende Digitalisierung auch in diesem Kontext gedacht werden müsse. „Dabei bleibt die Entwicklung nicht stehen“, gibt er zu bedenken. „So hat Jens Spahn schon 2018 eine einzige digitale Identität für Steuer-, Pass- und Gesundheitswesen gefordert.“ Für die Gefahren der staatlichen Überwachung und Kontrolle gegenüber der Bevölkerung bleibt Bartmann hingegen blind. Er beklagt sich an einer Stelle sogar, dass in Deutschland bei Taxifahrten und im öffentlichen Nahverkehr „immer möglichst passendes Bargeld bereitgehalten werden“, während „in Estland selbst Kleineinkäufe wie Bleistift und Radiergummis selbstverständlich elektronisch bezahlt werden“.

Zwischenraum für eine eigene Sichtweise

Dass gerade die Digitalisierung des Geldes als Instrument gegen politische Gegner missbraucht werden kann, entgeht dem Facharzt. Wenn beispielsweise immer mehr Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Regierung zu protestieren, kann diese ihnen mithilfe der Technik schnell die Lebensgrundlage entziehen, indem sie beispielsweise die digitale Transaktionsabwicklung sabotiert. Das ist schon jetzt möglich, wie Kanadas Premierminister Justin Trudeau im letzten Winter demonstrierte, als er die Konten der protestierenden Fernfahrer einfrieren ließ. Mit einer fortschreitenden Digitalisierung des Geldes wäre die Unterdrückung von Demonstrationen noch einfacher.

An diesem Punkt müssen auch die Leser entscheiden, welche Argumente der beiden Autoren mehr Gewicht haben. Wer in der Massenüberwachung und Kontrolle eine Gefahr sieht, wird sicherlich die Position Andreas Meißners einnehmen. Franz Bartmanns Standpunkt wird hingegen alle überzeugen, die sich mehr Bequemlichkeit und weniger Bürokratie wünschen. In jedem Fall entsteht durch das Buch ein Zwischenraum für eine eigene Sichtweise. Er bringe – ganz im Sinne des Westend Verlags – eine lebendige Gesellschaft hervor: „die Leerstelle, die offene Frage, die auffordert zu Austausch, Diskussion und Überprüfung der eigenen Überzeugungen“. Das ist derzeit notwendiger denn je.

»Digitalisierte Gesundheit« von Franz Barmann, Andreas Meißner, Lea Mara Eßer (Hrsg.), 112 Seiten, Klappenbroschur, Westend Verlag, Frankfurt 2022, 14,-€

Teilen