Karl Poppers Verschwörungstheorie (Teil 1v2) – Eine kritische Besprechung

ein Gastbeitrag von Thierry Simonelli unter Mitarbeit von Katja Leyhausen

Lesedauer 6 Minuten

1bis19 - Karl Poppers Verschwörungstheorie (Teil 1v2)
Das Pariser Hugenotten-Massaker der Bartholomäusnacht 1572 
von François Dubois (um 1529-84)

Teil I: Poppers Verschwörungstheorie im politischen Kontext des neuen Liberalismus

„Verschwörungstheorien“ galten nicht immer als wahrheitsverachtende Erdichtung oder demokratiegefährdende Desinformation. Während über die geschichtlichen Ursprünge des Begriffs in der Forschung noch gestritten wird (Butter 2014; Groh 1987), scheint es dennoch klar, dass Verschwörungstheorien bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts als legitime Interpretationen von gesellschaftlichen Geschehnissen angesehen wurden.

Das gedankenbeendende Klischee

Der Umschwung zur unrechtmäßigen, erdichteten und möglicherweise paranoiden Desinformation beginnt Mitte der 1950er Jahre und verhärtet sich während der 1960er Jahre. Ab den 1970er Jahren werden Verschwörungstheoretiker dann regelmäßig als „Mitglieder eines paranoiden, extremistischen Randes der Gesellschaft und der Politik“ bezeichnet (Thalmann 2019, S. 28-31; s. auch Butter 2014, S. 9, 284 ff.).

Man kann sagen: Seit dem Beginn der Corona-Pandemie ist ein weiterer Schritt in diese Richtung gegangen worden. Die Idee der Verschwörungstheorie hat jeglichen Rest von sachlicher Begrifflichkeit abgestreift, um gänzlich zum „gedankenbeendenden Klischee“ zu werden: Wer in einer Diskussion oder einem Kommentar sein Gegenüber einer Verschwörungstheorie bezichtigt, kann ohne jegliche Argumente den Gesprächspartner disqualifizieren und das Gespräch auf bequeme Weise beenden. Der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton, der die Methoden der „Gedankenreform“ im maoistischen China der 50er Jahre untersucht und unter der Bezeichnung “Totalismus” zusammengefasst hat, erläutert die Sprach- und Machttechnik des gedankenbeendenden Klischees folgendermaßen:

“Die Sprache des totalistischen Umfelds ist durch das gedankenbeendende Klischee gekennzeichnet. Die weitreichendsten und komplexesten menschlichen Probleme werden in kurze, stark reduzierte, endgültig klingende Phrasen gepresst, die sich leicht einprägen und leicht ausdrücken lassen. Diese werden zum Anfang und Ende jeder ideologischen Analyse” (Lifton 1989, S. 429). Mit Totalismus meint Lifton “das Zusammentreffen einer maßlosen Ideologie mit ebenso maßlosen individuellen Charaktereigenschaften […] ein extremistisches Zusammentreffen von Menschen und Ideen“ (Lifton 1989, S. 419).

Der Begriff der Verschwörungstheorie: Popper, von Hayek, Mont Pèlerin

Doch ich möchte mich hier nicht mit dem Klischee, sondern mit dem Begriff der Verschwörungstheorie beschäftigen. Die ersten Versuche einer begrifflichen Fassung, stammen von dem österreichischen Philosophen Karl Popper (Thalmann 2019, S. 10, 40–43) und, in einem geringeren Maße, von seinem Freund, dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Friedrich von Hayek. Beide waren nicht nur durch eine persönliche Freundschaft verbunden, sondern auch durch eine langjährige Arbeitsgemeinschaft sowie gemeinsame politische und ökonomische Überzeugungen. Obwohl es Differenzen im Denken von Popper und Hayek gibt (Caldwell 2019), waren beide auch Mitbegründer der Mont Pèlerin Society.

Dieser geschichtliche und politische Kontext ist für den Begriff der Verschwörungstheorie interessant. Denn die Absicht der Mitglieder von Mont Pèlerin war es, gegen den sowjetischen Kollektivismus und gegen jegliche Form von Planwirtschaft auf die weltweite Erweiterung eines „neuen Liberalismus“ hinzuarbeiten. Die genaue Definition dieses Projekts – des neuen Liberalismus – wurde 1938 in Paris, beim Colloque Walter Lippmann gefasst: Die Rückkehr zur Ordnung sollte mithilfe eines Staates vollzogen werden, der sich systematisch aus jeglichem Wirtschaftsgeschehen heraushält (Denord 2002, S. 10).

Neuer Liberalismus – politischer Hintergrund des Begriffs

Für den neuen Liberalismus, den sowohl Popper als auch Hayek mit der Idee der „offenen Gesellschaft“ verteidigten, sollte das Fundament der politischen Demokratie durch einen sich selbst regulierenden Markt garantiert werden. Als komplexes System – so dachten Popper, von Hayek und die anderen Mitglieder der Mont Pèlerin Society – wird der Markt von eigenen, immanenten Tendenzen in seiner autonomen geschichtlichen Entwicklung bestimmt. Diese Entwicklung ist weder in wissenschaftliche Gesetze zu fassen noch wirtschaftspolitischen Planungen zugänglich.

Karl Polanyi, der österreichisch-ungarische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, der mit einer kritischen Sicht auch am Congrès Walter Lippmann in Paris teilnahm, beschrieb das Programm des neuen Liberalismus ein paar Jahre später als Markt-Fundamentalismus. Die Wirtschaft bildet in dieser Ansicht eine „institutionell separate und spezifische Sphäre innerhalb der Gesellschaft“ (Polanyi 2008, S. 194):

„Letztlich ist deshalb die Kontrolle des Wirtschaftssystems durch den Markt von überwältigender Bedeutung für die gesamte Organisation der Gesellschaft: Sie bedeutet nichts anderes als das Funktionieren der Gesellschaft als ein Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet“ (Polanyi 2001, S. 60).

Vermischung von Erkenntnistheorie und Politik

Schon die ersten Begriffe der Verschwörungstheorie sind in dieses politische Programm des neuen Liberalismus ‚eingebettet‘: Infolge ihrer politischen Überzeugungen verstehen Popper und von Hayek Verschwörungstheorien als unzulässige Kritik am neuen liberalen Weltbild. Poppers Begriff der „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ hat sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine politische Bedeutung:

Erkenntnistheoretisch geht es um die Frage, was Verschwörungstheorien zur Erklärung von geschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignissen leisten können. Popper zufolge sind Verschwörungstheorien – als Theorien – systematisch und notwendig immer falsch und zudem noch politisch gefährlich. Denn sie gründen auf dem Glauben, dass einzelne Individuen oder Gruppen mit ihren Absichten die Geschichte, die Gesellschaft und vor allem die Wirtschaft entscheidend prägen können. Wer das annimmt, so Popper, widersetzt sich den Grundprinzipien des neuen Liberalismus und “der offenen Gesellschaft”. Das ist für ihn von Grund auf antidemokratisch und gehört zur Charakteristik des Totalitarismus. Seine Theorie der Verschwörungstheorie ist also interessant für die ideologische Wende, welche die Einschätzung der Verschwörungstheorien seit der Mitte des letzten Jahrhunderts bestimmt.

Rezeption Poppers heute

Doch Poppers Theorie der Verschwörungstheorie ist auch deswegen interessant, weil sich die wissenschaftliche Forschung sowie die Stellungnahmen bedeutender Institutionen bis heute daran anlehnen.

Popper zufolge geht die Verschwörungstheorie von der falschen Annahme aus, dass alles, was in einer Gesellschaft geschieht oder vorkommt (Kriege, Arbeitslosigkeit, Armut, Knappheiten …), aus einer unmittelbaren Absicht von mächtigen Individuen heraus entsteht. Es handelt sich „um die Auffassung, dass die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung der Männer oder Gruppen besteht, die am Auftreten dieses Phänomens interessiert sind (manchmal handelt es sich um ein verborgenes Interesse, das erst aufgedeckt werden muss) und die es geplant und sich verschworen haben, um es herbeizuführen“ (Popper 2008, S. 104).

In Anlehnung an diese Definition charakterisiert z.B. Michael Barkun, emeritierter Professor der Politikwissenschaft, die Verschwörungstheorie dadurch, dass ihr zufolge nichts in der Welt zufällig geschieht: „Verschwörung impliziert eine Welt, die auf Intentionalität beruht und aus der Zufall und Zufälligkeit entfernt wurden. Alles, was geschieht, geschieht, weil es gewollt ist. […] Alles ist miteinander verbunden. […] Daher muss der Verschwörungstheoretiker in einem ständigen Prozess der Verknüpfung und Korrelation arbeiten, um die verborgenen Zusammenhänge zu erfassen“ (Barkun 2013, S. 3 – 4; ähnlich auch Thalmann 2019, S. 2).

Die Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de) denkt gleichfalls in diese Richtung: Verschwörungstheorien, liest man dort, kennzeichnen sich dadurch, dass nichts durch Zufall geschieht, dass alles geplant wurde und alles miteinander verbunden ist. Interessant ist dann, dass der Berliner Verfassungsschutz Verschwörungstheorien so auffasst, dass sie Komplexität reduzieren „und […] vermeintlich dabei [helfen], das „Weltgeschehen“ verstehen und erklären zu können“. Weiterhin ist es „ein strukturelles Merkmal von Verschwörungserzählungen, dass hinter den darin beschriebenen „mächtigen Gruppen“, „Strippenziehern“ und „Nutznießern“ die „Ostküste“ oder „jüdische Finanziers“ stecken“ (Verfassungsschutz Berlin 2020, S. 19).

Alle diese Definitionen haben weniger eine wissenschaftliche Untersuchungsmethode zur Voraussetzung als sie gegen politische Kritik „immunisieren“ sollen.

Das ist das Thema des zweiten Teils dieses Aufsatzes.

Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung. Verschwörungstheorien https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-in-einfacher-sprache/312781/verschwoerungstheorien/ (abgerufen am 25. Juni 2022).

Barkun, M. (2013). A Culture of Conspiracy: Apocalyptic Visions in Contemporary America (Second Edition). University of California Press.

Butter, M. (2014). Plots, Designs, and Schemes. American Conspiracy Theories from the Puritans to the Present. De Gruyter.

Cladwell, B. (2006). Popper and Hayek: Who Influenced Whom? In I. Jarvie, K. Milford, & D. Miller (Hrsg.), Karl Popper: A Centenary Assessment: Life and Times, and Values in a World of Facts (S. 111–124). Routledge.

Denord, F. (2002). Le prophète, le pèlerin et le missionnaire. La circulation internationale du néo-libéralisme et ses acteurs. Actes de la recherche en sciences sociales, 145 (5), 9–20.

Evans, R. J. (2021). Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien: Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen von den „Protokollen der Weisen von Zion“ bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker (Übers. K.-D. Schmidt, 1. Auflage). Deutsche Verlags-Anstalt.

Groh, D. (1987). The Temptation of Conspiracy Theory, or: Why Do Bad Things Happen to Good People? Part II: Case Studies. In C. F. Graumann & S. Moscovici (Hrsg.), Changing Conceptions of Conspiracy (S. 15–37). Springer. https://doi.org/10.1007/978-1-4612-4618-3_2

Knight, P. (2021). Conspiracy, Complicity, Critique. Symploke, 29 (1), 197–215. https://doi.org/10.1353/sym.2021.0011

Lifton, R. J. (1989). Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of „Brainwashing“ in China. University of North Carolina Press.

McKenzie-McHarg, A., & Fredheim, R. (2017). Cock-ups and slap-downs: A quantitative analysis of conspiracy rhetoric in the British Parliament 1916–2015. Historical Methods: A Journal of Quantitative and Interdisciplinary History, 50 (3), 156–169. https://doi.org/10.1080/01615440.2017.1320616

Pigden, C. (1995). Popper Revisited, or What Is Wrong With Conspiracy Theories? Philosophy of the Social Sciences, 25 (1), 3–34.

Polanyi, K. (2008). Ökonomie und Gesellschaft (2. Aufl). Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Polanyi, K. (2001). The Great Transformation: The political and economic Origins of our Time (2nd Beacon Paperback ed). Beacon Press.

Popper, K. R. (1965). “Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften”. In Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften Köln (S. 113–125). Kiepenheuer & Witsch Verlag.

Popper, K. R. (2002a). Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge. Routledge.

Popper, K. R. (1974). Objektive Erkenntnis: Ein evolutionärer Entwurf (Übers. H. Vetter, 2. Aufl.). Hoffmann u. Campe.

Popper, K. R. (2002b). The Poverty of Historicism. Routledge Classics.

Popper, K. R. (2008). The Open Society and its Enemies (Repr). Routledge.

Thalmann, K. (2019). The Stigmatization of Conspiracy Theory since the 1950s: „A Plot to Make us look Foolish“. Routledge, Taylor & Francis Group.

Verfassungsschutz Berlin. (2020). Verfassungsschutzbericht 2020. https://www.berlin.de/sen/inneres/verfassungsschutz/publikationen/verfassungsschutzberichte/verfassungsschutzbericht-2020.pdf

Walton, D. (1996). The Straw Man Fallacy. In J. F. A. K. van Benthem, R. Grootendorst & F. Veltman (Hrsg.), Logic and Argumentation (S. 115–128). North-Holland.

Teilen