Intellektuelle Gesundheitsfragen: Die Siesta

von Martina Binnig

Lesedauer 6 Minuten

1bis19 - Intellektuelle Gesundheitsfragen: Die Siesta
Mittagsruhe -Ilja  Jefimowitsch Repin(1882)

Eine gesunde Lebensführung – ja man möchte heute sogar sagen: Überlebensführung – wird immer schwieriger. Sind für uns, die so informierten, achtsamen und hochausgebildeten Akademiker, angesichts immer rasanterer Virensprünge, ständig neuer Infektionswellen und des “unwiderlegbaren Beweises dafür, dass die kommenden Jahrzehnte nicht nur heißer, sondern auch kränker werden”, praktische Volksweisheiten zur Gesundheit überhaupt noch brauchbar?

Vielleicht ist alles nur ein Flüchtigkeitsfehler? Bislang habe ich mich darüber gewundert, dass sich gerade Künstler, Journalisten und sonstige Intellektuelle in den letzten Jahren besonders angepasst verhalten haben. Nun habe ich möglicherweise eine Erklärung dafür gefunden: den Wikipedia-Eintrag zum Stichwort „Intellektueller“. Dessen erster Satz lautet: „Als Intellektueller wird ein Mensch bezeichnet, der wissenschaftlich, künstlerisch, philosophisch, religiös, literarisch oder journalistisch tätig ist, dort ausgewiesene Kompetenzen erworben hat und in öffentlichen Auseinandersetzungen kritisch oder affirmativ Position bezieht. Dabei ist er nicht notwendigerweise an einen bestimmten politischen, ideologischen oder moralischen Standort gebunden.“

Kritisch oder affirmativ. Ich stelle mir vor, wie ein angehender Intellektueller zunächst einmal bei Wikipedia nachschaut, welchen Grundanforderungen er genügen muss, um der Definition eines Intellektuellen zu entsprechen. Hier stößt er dann auf dieses kleine Wörtchen oder. Da er als potenzieller Intellektueller naturgemäß besonders schnell liest, fliegt er über kritisch hinweg und landet bei affirmativ. Der zuletzt gelesene Begriff bleibt zudem im Langzeitgedächtnis hängen. Jemand, der „wissenschaftlich, künstlerisch, philosophisch, religiös, literarisch oder journalistisch“ tätig ist, kommt nun folgerichtig zu dem Schluss, dass er bloß noch affirmativ zu sein braucht, um als Intellektueller zu gelten. Noch nicht einmal ein bestimmter „Standpunkt“ ist laut Wikipedia dazu nötig.

Wahrhaftig, das Sitzen ist nicht gesund

Intellektuelle fallen also wahrscheinlich gar nicht besonders leicht auf Mainstream-Narrative herein, wie von manchem befürchtet, sondern es handelt sich lediglich um ein Missverständnis oder um einen Flüchtigkeitsfehler aufgrund zu schnellen Lesens. Ich gebe zu, dass ich selbst davor auch nicht gefeit bin. So lese ich beispielsweise die Spruchweisheit „Nach dem Essen sollst du ruh’n oder tausend Schritte tun“ auch gerne selektiv. Allerdings bleibe ich stets beim ersten Schlüsselwort hängen, bei „ruh’n“. Bedeutet dies nun, dass ich zu langsam lese und daher keine Intellektuelle bin?

Ich will der Sache auf den Grund gehen und entdecke in Goethes Originalausgabe des „Götz von Berlichingen“, die Spruchweisheit in folgendem Dialog auf Seite 50 ‒ allerdings in lateinischer Sprache:

„Abt:Noch einen Schluck. (DieKnechte schenken ein.)

Olearius:Belieben Ihro Hochwürden nicht eine kleine Promenade in den Garten zu machen? Postcoenam stabis seu passus mille meabis.

Liebetraut:Wahrhaftig, das Sitzen ist ihnen nicht gesund. Sie kriegen noch einen Schlagfluß.“

Im Weiteren entdecke ich, dass diese Redensart offenbar schon ein Jahrhundert früher durch einen gewissen Johann Balthasar Schupp im deutschsprachigen Raum eingeführt wurde, der sie ebenfalls auf Latein zitierte: „Post cenam stabis aut mille passus meabis.“ Nun gut: „stabis“ bedeutet nicht exakt dasselbe wie „ruh’n“, aber die gereimte deutsche Übersetzung kommt der eigentlichen Aussage sehr nahe. Wörtlich müsste die Übersetzung etwa lauten: „Nach dem Essen wirst du stehen/dich nicht rühren oder tausend Schritte gehen.“

Vom Volk verstanden werden

Wer war Johann Balthasar Schupp? Da Wikipedia bei fortgeschrittenen Intellektuellen ‒ zu Recht ‒ verpönt ist, recherchiere ich nach einer seriösen Biographie. Zwei Quellen erscheinen mir vertrauenswürdig: zum einen das Internetlexikon „Deutsche Biographie“, zum anderen ein Eintrag der Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München. Demnach wurde Schupp 1610 in Gießen geboren und starb 1661 in Hamburg. Er studierte Theologie in Marburg und erwarb nach Reisen durch Süddeutschland und die Ostseegebiete 1631 den Magistertitel in Rostock. Ab 1635 bekleidete er eine Professor für Geschichte und Rhetorik in Marburg und wirkte dort auch als Pastor. 1646 verlor er bei der Eroberung Marburgs seinen gesamten Besitz, wurde Hofprediger des Landgrafen von Hessen-Darmstadt und nahm von 1647 bis 1648 als Delegierter an den Friedensverhandlungen in Münster teil, wo er 1648 die beiden Friedenspredigten hielt. In seiner Marburger Zeit hatte Schupp seine Schriften meistens in lateinischer Sprache verfasst, weil er für ein akademisches Publikum schrieb, später schrieb er für ein breiteres Publikum auf Deutsch.

Mir fällt eine Diskrepanz zwischen meinen Quellen auf: Während an der der Ludwig-Maximilians-Universität offenbar davon ausgegangen wird, dass Schupp bei den Friedensverhandlungen in Münster anwesend war, gibt die „Deutsche Biographie“ an, dass er sich in Osnabrück aufhielt. Hier heißt es: „Den […] hessischen Landgrafen Johann vertrat er 1648 als Gesandter in Osnabrück […]. Im Auftrag Oxenstiernas hielt Schupp am 15.10.1648 in Osnabrück die „Friedenspredigt“, die er am 4.2.1649 in Münster wiederholte.“ Diese genauen Informationen und die Tatsache, dass Schupp Protestant war, lässt mir die „Deutsche Biographie“ glaubwürdiger erscheinen, zumal ich weiß, dass die protestantischen Gesandten in Osnabrück einquartiert waren, nicht in Münster. Ich überlege, ob an der LMU, einer der nach Selbstaussage „führenden Universitäten Europas“ kurzerhand der Wikipedia-Eintrag zu Schupp zitiert wird? Denn hier steht wörtlich: „1647–1648 nahm er als Delegierter des Landgrafen an den Friedensverhandlungen in Münster teil, wo er 1648 die beiden Friedenspredigten hielt.“

Wie auch immer: Ein bewegtes Leben. Außerdem sah es Schupp, der nach heutigen Maßstäben zweifellos als Intellektueller gelten würde, offenbar als seine Aufgabe an, nicht nur für andere Intellektuelle, sondern für ein größeres Publikum in deutscher Sprache zu schreiben. Er wollte verstanden werden.

Mittelalterliche Lebens- und Gesundheitsregeln

Doch zurück zu meiner Frage, wann und wo genau Schupp sich zur Verdauungsruhe geäußert hat. Auf der Seite „gut zitiert“ finde ich einen Hinweis auf Schupps „Regentenspiegel“, aber diese Quellenangabe genügt mir als alles hinterfragende Intellektuelle in spe natürlich nicht. Und siehe da: Wenige Klicks später kann ich auf die Primärquelle zugreifen in Form eines Digitalisats der Bayerischen Staatsbibliothek ‒ was mich wieder ein wenig mit München versöhnt (https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10770684?page=1). Ein Druck aus dem Jahr 1659 ist hier frei verfügbar, und wer Frakturschrift lesen kann, kann die 413 Seiten nach dem oft zitierten Ausspruch durchsuchen. Schließlich finde ich aber auf der Webseite des „Deutschen Textarchivs“ unter dem Titel „Doct: Ioh: Balth: Schuppii Schrifften“ die gesammelten Werke Schupps in einer Ausgabe aus dem Jahr 1663. Auf Seite 60 ist zu lesen: „Ein solches exercitium corporis wuerde ihnen ja so nutz seyn/ als der Rath/ welchen die Schola Sahlbaderiana, oder Salernitana, den Studenten gibt/ und sagt: Post cœnam stabis, aut passus mille meabis.“

Wunderbar: Schupp gibt hier als redlicher Intellektueller wiederum seine eigene Quelle an, nämlich das sogenannte „Salernitanische Lehrgedicht“. Dabei handelt es sich um ein anonymes mittelalterliches Versgedicht über Lebens- und Gesundheitsregeln.

Experten warnen vor Gefahren der Siesta

Selbstredend verbleibe ich in meinen Recherchen nicht im Mittelalter, sondern stosse bei meiner Internetrecherche auch auf ganz neue Erkenntnisse, insbesondere auf aktuellen Ratgeber- und Gesundheitsseiten, auf denen die Richtigkeit der von Schupp publizierten Redewendung angezweifelt wird. Hier wird doch allen Ernstes dafür plädiert, nach dem Essen nicht zu ruhen, sondern sich zu bewegen. Ich bin entsetzt. Für mich gehört eine kleine Siesta in der Mittagspause unbedingt und wesentlich zur Lebensqualität dazu. Es gibt doch nichts Herrlicheres mittags als solch ein Nickerchen! Wenn man es „Power Napping“ nennt, erfreut es sich mittlerweise sogar einer gewissen Anerkennung. Dies wiederum irritiert nicht die Meinung von Experten, denen zufolge das Mittagsschläfchen abzulehnen sei, da es Sodbrennen verursachen könne.

In einem Focus-Artikel vom 30. Juli 2014 wird konstatiert: „Sich direkt nach dem Essen hinzulegen ist nicht immer die beste Idee, auch wenn das Sprichwort zum Ruhen geradezu einlädt. Der Nahrungsbrei im Magen stimuliert nämlich die Magensäureproduktion. Wenn die Säure in die Speiseröhre zurückfließt, verursacht dies Sodbrennen. Das ist nicht nur unangenehm, sondern kann auch gesundheitliche Schäden verursachen. Durch das Hinlegen direkt nach dem Essen können bei einem verminderten Verschlussdruck des Mageneingangs Speisebrei und Magensäure leichter zurückfließen.“

Die Frankfurter Rundschau stößt in einem Artikel vom 19. November 2014, der am 13. Januar 2019 aktualisiert wurde, ins gleiche Horn: „Das Hinlegen nach einer üppigen Mahlzeit kann zu Sodbrennen führen. Also ist Ruhen, zumindest im Liegen, nach dem Essen nicht immer zu empfehlen. Aber auch eine große sportliche Belastung ist nicht ratsam. Nach dem Essen schaltet der Körper auf Verdauung um. Sich direkt nach dem Essen hinzulegen ist deshalb nicht die beste Idee. Der Nahrungsbrei im Magen stimuliert die Magensäureproduktion. Fließt die Säure in die Speiseröhre zurück, verursacht das Sodbrennen. Das ist unangenehm und gesundheitsschädlich.“

Bessere Transporte durch den Verdauungstrakt

Und auch in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Juli 2016 wird gewarnt: „Aber auch `ruh’n´ ‒ vor allem, wenn man es als Liegen versteht ‒ tut nicht jedem gut: Manche bekommen nach reichhaltigen Mahlzeiten Sodbrennen. Nach opulentem Essen kann eine aufrechte Sitzhaltung dem Rückfluss des Mageninhaltes entgegenwirken.“

Sogar „zahlreiche Bauchbeschwerden“ bringt das Magazin „Futter“ der österreichischen Tageszeitung „Kleine Zeitung“ in Verbindung mit der Mittagsruhe. Unter „Dinge, die ihr nach dem Essen besser nicht machen solltest“ heißt es hier am 1. Mai 2017: „Dass man sich einer üppigen Mahlzeit mal gerne aufs Ohr legt, kann wahrscheinlich jeder gut nachvollziehen. Aber: diese Gewohnheit führt oft zu Blähungen und zahlreichen Bauchbeschwerden.“

Und wissenschaftlich unterfüttert wird die These, dass die 1000 Schritte der Ruhe vorzuziehen seien, auf der Seite des Gesundheitsmagazins „so gesund“ im Dezember 2018: „Verdauungsspaziergang, ja oder nein? `Nach dem Essen sollst du ruh’n´: Von diesem Spruch scheint nur die zweite Hälfte der Wahrheit zu entsprechen … „oder tausend Schritte tun”, heißt es da nämlich weiter. Dass sich bei dem Verdauungsspaziergang tatsächlich medizinische Vorteile nachweisen lassen, haben Sportmediziner an der Old Dominion University in Virginia jetzt herausgefunden. Unter anderem wird das Essen bei leichter Bewegung besser durch den Verdauungstrakt transportiert. Das verringert wiederum das Risiko von zum Beispiel Problemen mit Sodbrennen.“

Doch genug damit. Nach all dem Lesen bin ich mir unsicher, ob ich eine Intellektuelle oder nun gar Expertin geworden bin. Eines aber weiß ich sicher: Mein Mittagsschläfchen lasse ich mir von niemandem madig machen!

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