31. Juli 2021: Nürnberg, vor der Lorenzkirche (von Silvia Krull)

Das kollektive „Tagebuch“ dient der Dokumentation und Selbstreflexion der zivilgesellschaftlichen Arbeit für Meinungsfreiheit in einer Zeit, wo dieses und andere Grundrechte gefährdet sind: Wer erinnert sich nicht an ein Gespräch oder einen schriftlichen Austausch über die Coronapolitik, bei dem er besonders verzweifelt war über Aggressionen, Mauern, Predigten oder im Gegenteil überrascht darüber, dass plötzlich eine Tür aufging, eine Frage berücksichtigt oder ein Argument angehört wurde. Und an welcher Stelle in der Auseinandersetzung war es möglich, etwas von den Gefühlen, Motiven, Begründungen der anderen Seite nachzuvollziehen und vielleicht gemeinsam weiterzuentwickeln? Welche Situationen und Medien der Kommunikation sind überhaupt geeignet, um in einen Kontakt mit Andersmeinenden zu kommen? Zeichnen sich bei solchen Erlebnissen Entwicklungen im gesellschaftlichen Diskurs ab? Dieser Ort im Magazin ist offen für alle kommunikativen Erfahrungen – Erfahrungen, die einschlägig sind, weil sie etwas über den Stand der Debattenkultur und Meinungsfreiheit in unserem Land aussagen.

„Sind Sie also dafür, dass jeder selbstverantwortlich entscheiden soll, ob er Maske trägt und sich impfen lässt? Sind Sie dann auch dafür, dass man in den Gasthäusern das Rauchen wieder erlauben soll? Und sind Sie dann auch dafür, dass man betrunkenen Fahrern das Autofahren erlauben sollte?“

Das passiert häufig in letzter Zeit: Am Rand des Schilderwaldes beginnt jemand ein Gespräch mit mir, bei dem ich nicht augenblicklich herausfinden kann, welche Meinung er vertritt. In diesem Fall ist es ein sehr sympathischer junger Vater mit seinen zwei kleinen Kindern im Buggy. Ich versuche, mich einzulassen auf sein Fragespiel, und antworte auf die erste Frage mit ja. Bei der zweiten bin ich noch am Überlegen, entscheide mich dann für nein. Bei der dritten beginne ich langsam zu verstehen, wohin diese staatsanwaltlich anmutende Fragetechnik führen soll. Da bekomme ich es eh schon von ihm erklärt: Mit dieser (meiner) Haltung sei ich ein Gefährder, eine Bedrohung für meine Umwelt. Der Staat sei sogar verpflichtet, seine Bürger (vor solchen Haltungen) zu schützen, da es sich bei Corona um eine sehr gefährliche und ansteckende Krankheit handle.

Innerlich damit beschäftigt zu verdauen, dass dieser sympathische Familienvater mich für eine Bedrohung der Gesellschaft hält und mich folglich gar nicht sympathisch findet, versuche ich, äußerlich das Gespräch irgendwie weiter zu verfolgen – da beginnt eines seiner Kinder zu quengeln. Irgendwie freue ich mich über dieses Zeichen eines „normalen Lebens“, das ja zeitgleich neben unseren Gedankenexperimenten auch noch stattzufinden scheint. Eine Unterbrechung der Pattsituation, die ich in unserem Gespräch gerade wahrnehme. Ich wende mich kurz dem im Buggy verbliebenen Kind zu, dann dem Vater, der sich mit seinem weinenden Kind auf dem Arm ein wenig abgewendet hat. Da die Situation gerade in der Luft hängt, frage ich ihn, ob er sich denn vorstellen könne, sich weiter mit mir zu unterhalten. Er verneint und wendet sich zum Gehen.

Gefühlt hatte der interaktive Schilderwald noch gar nicht angefangen, da fand ich mich also in meiner ersten „Diskussion“ und war gar nicht dazu gekommen, meine Meinung und Argumente vorzubringen. Na gut, ich habe ja kein Recht auf Zuhören bei meinen Gesprächspartnern. Außerdem beginne ich zu verstehen, dass das Gespräch für die Passanten tatsächlich schon begonnen hat, wenn sie die Fragen gelesen haben. Dann habe ich in ihren Augen schon etwas gesagt.

Wie so oft hatte auch dieser junge Mann die Fragen als Aussagen bezeichnet und war ziemlich ungehalten bei meinem Hinweis, es seien Fragen, die zur Meinungsbildung anregen sollten. Die Fragen werden dann häufig von den Diskutanten als dumm, rhetorisch und manipulativ bezeichnet. Bei Rückfragen oder Aufforderung, eine eigene Frage zu formulieren, hörten wir ein anderes Mal bereits: „Ich habe gar keine Fragen!“

Der Platz vor der Lorenzkirche ist wunderschön. Die Sonne strahlt, aber ein ziemlicher Wind macht uns heute auch zu schaffen. Gut, dass Horand schwere Betonfüße an die Schilder gebaut hatte. Das Rollout mit der 1bis19-Aufschrift, das wir vorne am Auto befestigten, ist schon mehrfach umgeweht. Es bläht sich auf wie ein Segel. Eine der laminierten und angeklammerten Texttafeln fliegt dann auch noch hoch hinauf in den Altstadthimmel – magisch, fast wie ein Ballon. Das Wetter spiegelt heute die Stimmung wider. Wir haben sehr viele Begegnungen. So viele verschiedene Gespräche, dass ich kaum zum Aufschreiben komme. Und immer hält es sich heute irgendwie die Waage: Aufmunternde und dankbare Passanten: „Eure Fragen sind ja noch sehr euphemistisch formuliert!“, „Danke, dass Ihr da seid, dass Ihr etwas macht, macht weiter so!“, ebenso, wie empörte Ausrufe im Vorbeigehen, „Eine Unverschämtheit“ und so in der Art.

Und, was sich tatsächlich auch herauskristallisiert: Einige der in unserem Sinne kritischen Meinungsträger, outen sich als AfD-Wähler.

Da dies nun schon häufiger der Fall war, wage ich heute mal einen Vorstoß. Ich erinnere mich gut an mein eigenes Schubladendenken: „Mit einem AfD-Wähler könnte ich nie sprechen!“ Geht aber jetzt nicht. Ich stehe nämlich hier zum Diskutieren und sollte tunlichst nicht meine Chance verpassen, etwas über das Denken von so und soviel Prozent AfD-Wählern in unserem Land zu erfahren.
Diesmal ist es eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Wie der oben beschriebene Vater wirkt sie auf mich sehr sympathisch. Aber auch sehr wütend ist sie, über die Coronamaßnahmen. Ich erfahre ein wenig von ihrem schwierigen Alltag als alleinerziehender Mutter. Sie wolle gar nicht so viel erzählen, weil sie dann immer so wütend werde. Irgendwie gelingt es mir dann trotzdem, sie zum Erzählen zu bewegen. Ermutigt von dem Vertrauen, das sie mir entgegenbringt, wage ich dann zu einem späteren Zeitpunkt den Vorstoß: Wie sie denn zu den ausländerfeindlichen Haltungen in ihrer Partei stehe? Da kriege ich auch gleich das ganze Programm frei Haus: Die sollten alle dahin zurück, wo sie herkommen, die nähmen uns hier alles weg, lauter Islamisten … Mein Gehirn rattert. Wie soll ich zwischen all diese Sätze kommen? Es ist gar kein Platz für andere Gedanken. Wieder weiß ich nicht, wo die Intuition plötzlich herkommt. Ich erzähle ihr eine „echte“ Geschichte aus meinem Praxisleben.

Eine junge Mutter, alleinerziehend aus Somalia, drei Kinder: Zwei Jahre in Hessen und nun zwei Jahre in München muss sie im „Hotel“ wohnen (Flüchtlingsunterkunft, ein Zimmer für die vier). Darf keine eigene Wohnung haben und nicht arbeiten. Sie erzählte mir diese Woche freudestrahlend (in vergleichsweise gutem Deutsch, das sie sich selbst beigebracht hat), dass sie nun 3x die Woche für 2 Stunden arbeiten (putzen) gehen darf.

Ich warte auf die Explosion. Kommt aber nicht. Meine Gesprächspartnerin hatte sich vorher (in anderen Kontexten) schon als durchaus differenziert argumentierend gezeigt. Außerdem, kommt mir grade, ist die Somalierin ja eine Art Leidensgenossin. Alleinerziehende Mütter mehrerer Kinder teilen irgendwie auch überall auf dieser Welt ein wenig ein ähnliches Schicksal.

Dieser Fall sei ja etwas anderes. Das Problem seien ja die jungen Männer, warum denn nur junge Männer kämen. Ihre große Tochter würde regelmäßig angepöbelt und aufdringlich verfolgt. Wieder droht sie gleich zu explodieren, zeigt mir nun Youtube-Videos auf ihrem Handy. Ich mache Zugeständnisse und sage, ich fände es auch besser, wenn mehr Familien und Frauen als Flüchtlinge zu uns kämen. Und natürlich fände ich es auch hilfreich, wenn sich die geflüchteten Männer an unsere kulturellen Begebenheiten anpassen. Wie auf einer vergangenen Mahnwache bemerke ich, dass sich der Ton und die Stimmung in der Diskussion verändern. Nicht mehr so schnell, nicht mehr so aggressiv, mehr Zuhören.

Ich weiß nicht, ob dieses Gespräch bei der jungen Frau etwas im Denken bewegen durfte. Aber ich weiß, dass sie bereit war, mit mir zu sprechen. Und sie hat mich nicht angebrüllt, weil ich anderer Meinung war. Ich habe also etwas lernen dürfen. Ich kann gegebenenfalls (bei Bereitschaft) mit AfD-Wählern genauso gut oder schlecht sprechen, wie mit Grünen, CSUlern oder Linken. Es geht ja hier schließlich auch um meine Schubladen.

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