Das kollektive „Tagebuch“ dient der Dokumentation und Selbstreflexion der zivilgesellschaftlichen Arbeit für Meinungsfreiheit in einer Zeit, wo dieses und andere Grundrechte gefährdet sind: Wer erinnert sich nicht an ein Gespräch oder einen schriftlichen Austausch über die Coronapolitik, bei dem er besonders verzweifelt war über Aggressionen, Mauern, Predigten oder im Gegenteil überrascht darüber, dass plötzlich eine Tür aufging, eine Frage berücksichtigt oder ein Argument angehört wurde. Und an welcher Stelle in der Auseinandersetzung war es möglich, etwas von den Gefühlen, Motiven, Begründungen der anderen Seite nachzuvollziehen und vielleicht gemeinsam weiterzuentwickeln? Welche Situationen und Medien der Kommunikation sind überhaupt geeignet, um in einen Kontakt mit Andersmeinenden zu kommen? Zeichnen sich bei solchen Erlebnissen Entwicklungen im gesellschaftlichen Diskurs ab? Dieser Ort im Magazin ist offen für alle kommunikativen Erfahrungen – Erfahrungen, die einschlägig sind, weil sie etwas über den Stand der Debattenkultur und Meinungsfreiheit in unserem Land aussagen.
Präsenz zeigen, Menschen erreichen
Bamberg war nun bis jetzt, sowohl von den Menschen als auch vom Ort her, das absolute Highlight. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, wie wir ohne Mahnwachen die Samstage überstehen sollen. Ein kleiner Scherz, den ich mir eben mit Horand erlaubte. Er meinte dann nur, Mahnwachen zum Selbstzweck seien auch keine Lösung.
Stimmt. Aber: Etwas hat sich tatsächlich gedreht. Die Energie, die uns daraus erwächst, an diesen Orten einfach nur zu stehen und Präsenz zu zeigen, wird im Verhältnis zum Aufwand immer größer. Und die Sinnhaftigkeit der Aktion wird, für mich zumindest, eindeutiger sichtbar. Mittlerweile haben die Leute sogar ein kleines Interesse daran, die Aktion in irgendeiner Weise zu kopieren. (Ich verweise sie dann an den Verein).
Manchmal verstehe ich auch einige der Reaktionen ein klein wenig besser. Einen Menschen zu spüren, der scheinbar noch nie darüber nachgedacht hat, dass in den letzten eineinhalb Jahren seine Grundrechte eingeschränkt wurden. Die Empörung, die in seinen Worten steckt (in dem schönen weichen Bamberger Slang), wenn er laut die Frage liest: „Warum heißen die Grundrechte eigentlich Grundrechte?“ und zu sich selbst sagst: „Ha, ja weil’s Grundrechte sind!“. Wenn er dann wutschnaubend abzieht, weiß ich: Die Frage hat etwas in ihm berührt – wozu sonst die Wut? Was will ich mehr? Ich konnte ihn erreichen. Was danach bei ihm passiert, das kann ich nicht steuern. Aber das Ziel der Aktion, Menschen zu erreichen, ist damit für mich erfüllt.
Mutige Menschen kennenlernen
Außerdem gibt es immer mehr Menschen, die formulieren können, dass es für sie gut ist, mit Menschen zu sprechen, die eine ähnliche Meinung vertreten wie sie. Es findet Vernetzung statt, ein Austausch, ein Versuch, an der Gesellschaft zu arbeiten. Das ist wie ein Durchatmen: Ja, es ist doch noch erlaubt, so zu sein wie wir. Am allermeisten aber berühren mich die Geschichten von mutigen Menschen, die nicht in vorauseilendem Gehorsam eine „Regel“ befolgt haben:
Eine Lehrerin, die einen Weg findet, dass die Kinder in ihrer Klasse immer ohne Maske sitzen dürfen, ohne diejenigen Kinder zu verprellen, die ängstlich sind und die Maske aufbehalten möchten. Eine Tochter, die es schafft, ihrem Vater ein Bett in der Klinik neben seiner sterbenden Frau zu verschaffen, mit den Worten: Sie wissen schon, wenn sie meinen Vater jetzt hier vom Bett seiner Frau wegholen möchten, müssen Sie die Polizei holen. Der geht hier nicht weg. Und die es auch selbst nicht akzeptiert, ihre Mutter dort nicht mehr besuchen zu dürfen. Die sich mutig bis zur obersten Hygienestelle durchgekämpft hat, mit der sinnvollen Frage: Wen bitte stecke ich an, wenn ich am Bett meiner sterbenden Mutter sitze? Dann durfte sie ihre Mutter besuchen. Wenn Menschen mit Menschen sprechen…
Mir hat das noch einmal eindeutig gezeigt: Es sind nicht die Regeln. Es sind die Menschen, die die Regeln befolgen und die dadurch die verfahrene Situation erst möglich gemacht haben. Das ist bitter, einerseits. Aber andererseits: Es gibt auch DIESE Menschen.
Ich merke, dass ich gleich weiterschreiben sollte, die Eindrücke in Bamberg waren so vielseitig, dass sie flüchtig erscheinen. Es gab da noch einen Familienvater, der auf meine Nachfrage hin, wie es ihm beruflich ergehe, ob er starkem Druck ausgesetzt sei, weil er noch nicht geimpft ist, berichtete: Er habe einen Chef, der sich zum einen dagegen aussprach, dass Ungeimpfte (im Gegensatz zu Geimpften) FFP2-Masken tragen sollen. Mit der Begründung, da könne man ja sofort erkennen, wer geimpft sei. Und das sei datenschutzrechtlich nicht korrekt. So geht’s also auch! Ebendieser Chef sei auch in der Lage, die Frage nach der Impfung einzeln am Telefon zu stellen, also ohne die an anderen Orten üblich gewordene Bloßstellung vor den geimpften Kollegen. Ich habe mich und ihn gefragt, ob es nicht auch wichtig sei, dieses korrekte Verhalten noch weiter bekannt zu machen. Positive Beispiele verbreiten. Auch das prägt ein öffentliches Meinungsbild. Es gibt sie, diese anderen Menschen, die Vorbildfunktion haben könnten. Zeigt sie und Euch! Werdet sichtbar!
„Diese Fragen sollen da stehen!“
Ich merke, ich sollte meine Eindrücke immer gleich nach den Mahnwachen ins Reine schreiben. Das innere Berührtsein hilft sehr beim Schreiben.
Ein bleibender Tenor bei bis jetzt fast allen Mahnwachen ist die Aussage von Passanten, es seien tolle Fragen. Einmal hat uns das sogar ein Polizist gesagt: Ihre Fragen sind wichtig, die sollen da stehen! Ein anderer Grundton ist die Frage der Passanten: Was können wir tun? Können wir irgendwo unterschreiben?
Für mich ist das mittlerweile ein guter Einstieg in ein Gespräch, in dem ich versuche, diese freundlichen Menschen noch ein wenig mehr aus ihrem „Versteck” zu locken. Das meine ich überhaupt nicht abwertend. Ich merke nur, dass die Frage nach einer Unterschriftsmöglichkeit auch ein wenig die Frage nach der Absolution ist. Ich möchte ein Bewusstsein dafür wecken, dass die Unterschrift das gesellschaftliche Problem aus meiner Sicht nicht lösen kann. Ich glaube, wir müssen uns immer wieder handelnd aufmachen, auf dem Weg ins echte Leben, unter echte Menschen, in echte Diskussionen. Die wehtun können. Keine Frage. Aber tatsächlich ist dafür unser Format des Schilderwaldes gut geeignet, weil wir uns damit für genau diese schmerzhaften Diskussionen zur Verfügung stellen. Da ist dann auch für mich die „Vorbildfunktion” (blödes Wort) gegeben. Wir stehen schon mal da. Und wir überleben es auch. Es ist nicht so schlimm. Nein, es kann sogar saugut tun, wenn ich den ersten Schritt wage. Ich zeige mich damit. Andere zeigen sich dann auch. Ich sehe, wir sind mehr als einer. Eine wichtige Aussage der Mahnwache: Wir sind da. Wir verstecken uns nicht. Probiert es doch auch mal!
Ein Streitlabor in Regensburg …
Tatsächlich passiert es dann auch manchmal: Es wird gestritten. Und nicht nur mit uns, sondern die Besucher streiten sich untereinander! Wie schön, echter Diskurs, die Idee funktioniert scheinbar, eine Art Streitlabor. Ich erinnere mich an zwei Damen am Rande des Schilderwaldes in Regensburg. Ich betreue den Schilderwald grad ganz allein, und bin hin- und hergerissen, ob ich mich outen soll. Ich entscheide mich dagegen und erlaube mir, als Zaungast einfach mal neugierig zuzuhören. Sie streiten nicht, sind aber uneinig, wie sie die Fragen einschätzen sollen. Die eine findet die Fragen zumindest interessant. Die andere, etwas ältere Dame kontert gleich mit ihrem Verdacht, das sei doch Verschwörungstheorie. Zurückhaltend aber beharrlich bleibt die jüngere bei ihrer Einschätzung, die eine oder andere Frage wäre doch gar nicht so schlecht. Das Ende vom Lied war, dass die kritischere Dame sinngemäß sagte, jeder würde in seiner Blase leben, jeder hätte seine eigene Wahrheit, es gäbe so viele Wahrheiten. Ja, was will ich eigentlich mehr? Es hatte sich doch die Erkenntnis eröffnet, dass JEDER in seiner Blase lebt. Also die momentan so viel größere andersdenkende Mehrheit auch. Ebenbürtiger Diskurs.
… und Diskurs trotz Verhör
Ebenfalls Regensburg. Diesmal werde ich von zwei anderen Damen „zur Rede gestellt”. Sie hätten da mal ein paar Fragen an mich. Mir rutscht schon das Herz in die Hosentasche. Liegt es daran, dass mich der Ton an eine öffentliche Anhörung in der Behörde erinnert, vor der ich nun zu erscheinen habe? Egal, ich wollte es ja nicht anders. Also, was denn das für komische Aussagen seien. Ich versuche, der redeführenden Dame zu erklären, dass die Sätze bewusst als Fragen formuliert wurden, um eben gerade keine Aussagen vorzugeben, sondern zu eigenen Meinungen zu verführen. Ah, nun gut, dann eben Fragen. Z.B. die Frage, warum so viel von dem verboten sei, was die Gesundheit doch fördert. Was denn da verboten worden sei? Ich erkläre vorsichtig anhand meiner eigenen Person, dass ich zum Beispiel normalerweise sehr viel tanze und singe, und dies normalerweise in körperlichem Kontakt mit anderen. Und dass dies für meine Selbstpflege von außerordentlicher Bedeutung sei und mit allen möglichen Verordnungen bis hin zum Kontaktverbot lange Zeit nicht möglich war. Keine Reaktion, auch keine Widerrede. Ich merke, es gibt Menschen, denen ist diese Art von Gesundheits- und Seelenpflege WIRKLICH völlig fremd. Eine völlig andere Lebenswelt! Ich glaube, ihr Unverständnis ist nicht gespielt. Ich bin noch mit meinem Staunen darüber beschäftigt, da kommt schon die nächste Frage: Die Frage nach der Kenntnis oder Unkenntnis der Tatsache, dass so viele Menschen jährlich an Hunger sterben. Was solle das hier an dieser Stelle? Ich erlaube mir, diese Frage auch nicht sonderlich gut zu finden. (Ich könnte z.B. erklären, dass die Zahl der hungernden Kinder durch die Coronamaßnahmen massiv erhöht wurde, will ich aber gerade nicht). Ich mag tatsächlich den moralischen Unterton in dieser Frage nicht so gern. Habe also eine Verbindung hergestellt mit meiner Diskussionspartnerin: Wir finden die Frage beide nicht so prickelnd. Ich bin also nicht zwingend mit allem, was hier auf den Schilderwaldtafeln steht, ganz 100% d´accord. Auch eine wichtige Aussage: Ich streite vielleicht auch mit meinem „Lager“. „Vorbildfunktion“. Ich muss nicht alles gut finden, was auf dieser Seite der Mauer geredet wird. Demokratischer Diskurs ist ein ständiges, im Wandel begriffenes Monster, das im Zaum gehalten werden möchte. Ständiges Hinterfragen von Positionen. Vielleicht sind sie schon nicht mehr aktuell. Die Arbeit hört nicht auf. Kann aber auch eine schöne Arbeit sein. Ich weiß nicht, was von meinen inneren Dialogen alles nach draußen dringt. Nicht allzu viel, denn die nächste Frage will besprochen werden. Welche Kollateralschäden der Maßnahmen wir denn meinen würden? Ruhig bleiben. Kurzer innerer Ausraster – auf welchem Planeten lebt diese Frau? Ich sage mir, ich bin zum Diskutieren da, und versuche mein Bestes zu geben. Auf ihre Aussage, dass die Maßnahmen ja schließlich alle einen wichtigen Grund hatten, und nicht zum Spaß getroffen worden seien, versuche ich einzugehen: Ja, das könne schon sein, dass eine Maßnahme für ein bestimmtes Ziel eine erwünschte Wirksamkeit habe. Es gäbe aber neben der erwünschten Wirksamkeit immer auch Nachteile einer Maßnahme, die nach meiner Meinung auch gesehen und gegen die positive Wirkung aufgerechnet werden müssen. Wieder keine Reaktion bei meiner Diskussionspartnerin. Irgendwie verstehe ich die Welt grad nicht so richtig. Dann fragt sie mich, wer wir seien. Ich spreche von 1bis19 als Verein. Keine Reaktion. Dann fragt sie mich, wer denn „hinter dem Verein stehe“. Ich nenne den Namen Paul Brandenburg. Na dann müssten sie ja nicht länger stehen bleiben! Und weg waren sie. Was war das nun???
Das war ein Lehrstück für mich persönlich. Was bei den Frauen passiert, weiß ich nicht. Aber zwei Personen, die so lange am Stand stehen blieben, um so einen ausführlichen Dialog zu führen, bis sie entschieden zu gehen, sind trotzdem viele Minuten Diskurs. Das war’s auf jeden Fall wert.