eine Rezension von Eugen Zentner
Lesedauer 4 MinutenDer 2015 verstorbene US-amerikanische Politikwissenschaftler Sheldon S. Wolin gehört zu den bedeutendsten Gegenwartstheoretikern. Als aufmerksamer Beobachter der politischen Entwicklung in seinem Heimatland stellte er fest, dass sich die liberale Demokratie zunehmend von ihren Leitideen verabschiedet. Daraufhin prägte Wolin den Begriff des «Umgekehrten Totalitarismus». Dessen Wesensmerkmale erläuterte er 2008 in dem Buch «Democracy Incorporated», das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Obwohl sich der Autor darin hauptsächlich an den gesellschaftspolitischen Veränderungen nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 abarbeitet, lassen sich durchaus Parallelen zur Gegenwart ziehen – auch zu der Entwicklung in Deutschland.
Wolin bemerkte schon recht früh die totalitären Tendenzen westlicher Staaten, wie sie während der Corona-Krise an die Oberfläche drangen und auch für große Teile der Bevölkerung sichtbar wurden. Das macht sein Werk so aktuell. In den vermeintlich liberalen Demokratien, so die Hauptthese, hat sich die Staatsmacht mit der transnationalen Unternehmensmacht verflochten und zu einer Form konzentriert, in die Exekutivapparate, Parteien, Parlamentsfraktionen, Medien und ökonomische Interessengruppen integriert sind. Dieses Konglomerat weitet kontinuierlich seine Befugnisse aus und intensiviert die Kontrolle über die eigenen Bürger. Damit rückt diese Regierungsform in die Nähe des traditionellen Totalitarismus. Was sie von ihm unterscheidet, sind die strukturellen Gegebenheiten und die Mittel, mit denen die gleichen Ziele erreicht werden sollen.
Entpolitisierung der Gesellschaft
Die Unterwerfung der Bürger unter den Willen einer herrschenden Gruppe, schreibt Wolin, erfolge nicht mehr wie beispielsweise beim Faschismus durch eine aktive Mobilisierung. Stattdessen gehe es darum, die Gesellschaft zu entpolitisieren: „Ein umgekehrtes Regime bevorzugt eine Öffentlichkeit, die unkritisch mitmacht, statt sich einzubringen.“ Der Umgekehrte Totalitarismus zeige sich daher in subtilen Strategien, die eher auf die Psyche abzielen. Rohe Gewaltformen würden durch solche ersetzt, die kaum noch bemerkbar seien. Gleichwohl blieben brachiale Repressionsmaßnahmen im Hintergrund weiter bestehen und kämen dann zum Einsatz, sobald große und öffentlich wirksame Protestbewegungen entstehen.
Einer der aufschlussreichsten Kontraste zwischen dem klassischen und dem umgekehrten Totalitarismus liege in der Behandlung der Wissensindustrie, die zugleich verdeutlicht, mit welcher Finesse die neu entstandene Machtform operiert. „Im klassischen Totalitarismus“, so Wolin, „wurden Schulen, Universitäten und Forschung in den Dienst des Regimes gestellt. Wissenschaftliche Einrichtungen und unabhängige Kritiker wurden entweder zum Schweigen gebracht, aussortiert oder eliminiert. Von denjenigen, die überlebten, wurde eine loyale Befolgung der Partei- oder Regierungspolitik erwartet. Die vorrangige Aufgabe aller Bildungseinrichtungen war die Indoktrination der Bevölkerung mit der Ideologie des Regimes.“
Der umgekehrte Totalitarismus könne zwar ebenfalls Kritiker schikanieren und diskreditieren, kultiviere aber lieber eine eigene loyale Intelligenzija – durch eine Kombination aus staatlichen Aufträgen, Unternehmens- und Stiftungsgeldern, gemeinsamen Projekten von Universitäts- und Unternehmensforschern sowie wohlhabenden Einzelpersonen. Auf diese Weise würden Intellektuelle, Wissenschaftler und Forscher nahtlos in das System integriert. Deren Erkenntnisse seien nun anfälliger für politische und unternehmerische Manipulationen: „Die neue Verfassung konzipiert Politik und Regierungshandeln als eine Strategie, die sich auf die Kräfte stützt, die von der Technologie und der Wissenschaft (einschließlich der Psychologie und der Sozialwissenschaften) ermöglicht wurden.“
Einführung von Rainer Mausfeld
Da das Werk das politische System der USA zum Ausgangspunkt macht, wurde die deutsche Ausgabe um eine Einführung von Rainer Mausfeld ergänzt. Der mittlerweile emeritierte Professor für Allgemeine Psychologie, der sich ebenfalls ausgiebig mit Machttechniken beschäftigt hat, bringt die Kernaussagen des Buches teilweise besser auf den Punkt als der Autor selbst. Bei allem Scharfsinn breitet Wolin seine Ausführungen etwas zu langatmig aus, verliert sich in den Details US-amerikanischer Realpolitik, springt gedanklich zwischen Themen und Zeiten, sodass ein roter Faden nur schwer zu erkennen ist. In vielen Passagen kommt sein Unmut gegenüber der Bush-Regierung und den Republikanern zum Ausdruck. Zwischen den Zeilen spürt man seine Hoffnung, dass die demokratische Partei mit ihrem Präsidenten Barack Obama eine Wende einleiten könnte. Dessen Amtszeit brachte jedoch keine wirkliche Veränderung. Politisch schloss sie sich nahtlos an die vorherige an und offenbarte jene Elemente, die Wolin in seinem Buch als Bestandteile des umgekehrten Totalitarismus beschreibt.
Um diesen totalitären Tendenzen entgegenzuwirken, ist die Bevölkerung selbst gefragt. Der Politikwissenschaftler appelliert an deren aktive Teilnahme. Das Politischsein beschränke sich lediglich auf Protestieren und Wahlen, die jedoch im System des umgekehrten Totalitarismus leicht manipuliert werden können, weil ökonomische Interessensgruppen sowie Medien in den staatlichen Apparat integriert seien. „Das Paradoxe“, schreibt Wolin, „ist, dass der Demos zwar abstrakt die Autorität hat, zu wählen, ihm aber die effektive Macht fehlt, die Bedingungen der tatsächlichen Wahlen zu kontrollieren oder festzulegen. Dazu gehört auch die Regulierung der Wahlkampffinanzierung, der Fernsehwerbung und der Debattenformate.“ Den Ausweg sieht er in einer partizipatorischen Demokratie. In ihr würden Wahlen nur ein Element darstellen – in einem Prozess aus öffentlicher Diskussion, Beratung und Beteiligung.
Einbindung der Bürger in die Entscheidungsprozesse
Diese Formen der aktiven Teilnahme seien heutzutage von Wahlen ersetzt worden, weshalb der Autor das Ideal einer demokratischen Politik hochhält, die zur individuellen Entwicklung beiträgt und gleichzeitig ein höheres Maß an Gleichheit fördert. Es würde die liberale Konzeption erweitern, „indem es der Rolle der Bürger als Akteure erste Priorität zuweist und ihre Rolle als Wähler zu einer nachrangigen Priorität degradiert“. Wie könnte das in der Praxis aussehen? In Wolins Konzeption müssten die Struktur und die Abläufe der Partei so gestaltet sein, dass die Bürger in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden und auf diese Weise die Methoden der Macht kennenlernen: Parteienpolitik und -programme würden zu Themen für gemeinsame Diskussionen und Vorschläge werden, und nicht zu Aufmunterungsversuchen, um den Wähler davon zu überzeugen, die zuvor von der Parteielite beschlossenen Programme zu bestätigen.“
In solchen Passagen zeigt sich die Stärke von Wolins Buch. Es liefert nicht nur eine scharfsinnige Analyse der Bruchstellen einer Demokratie, die hinter ihrer glänzenden Fassade völlig verkommen und entkernt ist. Es enthält auch viele Ideen, wie eine auf dem Volkswillen basierende Regierungsform neu organisiert werden könnte. Mit ein wenig Optimismus lässt es sich als ein Beitrag lesen, der die Weichen für einen zivilisatorischen Fortschritt legt. Schon allein deswegen ist es zu wünschen, dass die darin vorgestellten Ideen eine weite Verbreitung finden.