Sachbuch: «Systemversagen (2023)»

Eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 5 Minuten

Seit über drei Jahren befinden sich liberale Demokratien im Krisen-Modus. In den Staats- und Gesellschaftsbereichen scheinen viele Mechanismen, Organisationen und Kontrollinstanzen nicht mehr zu funktionieren. Es fühlt sich an wie ein «Systemversagen». So hat die österreichische Historikerin und Publizistin Gudula Walterskirchen ihr neues Buch genannt, in dem sie einen weiten Bogen von dem Ukraine-Krieg bis zur Migrationskrise schlägt. Leitend für ihre Untersuchungen ist die Frage danach, wie alle Systeme, die Frieden, Freiheit, Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit, derart versagen konnten. Die Antwort darauf fällt nicht überraschend aus: Die Krisen seien vorhersehbar gewesen, weil sie eine lange Vorgeschichte hätten. „Trafen uns die Ereignisse tatsächlich aus dem Nichts und völlig überraschend?“, fragt sie rhetorisch.

Dass die Ursachen für den heutigen Krisenzustand in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu suchen sind, veranschaulicht Walterskirchen gleich im ersten Kapitel, in dem sie den gegenwärtigen Konflikt in der Ukraine im Kontext der NATO-Osterweiterung betrachtet. Der Westen habe 1990 das Versprechen gegeben, dass das Verteidigungsbündnis nicht näher an die Grenzen der Sowjetunion heranrücke, es aber in den Jahren danach gebrochen, lautet Walterskirchens These, die argumentativ und mit vielen Bezügen auf damalige Dokumente oder Verhandlungen etwa zwischen Michail Gorbatschow und Helmut Kohl untermauert wird. „Es ist daher nachvollziehbar, dass spätestens nach der Einladung der NATO an die Ukraine im Jahr 2008 sich Russland provoziert und in seinen Sicherheitsinteressen bedroht sah“, erklärt die Autorin die gegenwärtige Eskalation in Europa.

Gesundheitskrise

Geht es in der Auseinandersetzung mit der geopolitischen Krise um die Rolle der NATO, widmet sich Walterskirchen bei der Betrachtung der Gesundheitskrise internationalen Institutionen wie der WHO, der EMA, der UNO oder der Weltbank. Als eines der größten Probleme stellt sie den Verlust des Vertrauens in diese Organisationen fest, der sich in den finanziellen Bedingungen niederschlage. Das Geld stamme mittlerweile zum großen Teil aus der Kasse privater Akteure. Das wirke sich auf die Arbeit der Institutionen aus, die nicht mehr dem Allgemeinwohl dienen, sondern den Interessen von Stiftungen oder Unternehmen. Wie sich dieser Mechanismus auswirkt, macht sie am Beispiel des selbsternannten Philanthropen Bill Gates deutlich: „Der reichste Mann der Welt, der viel Geld in die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffe gesteckt hat und Aktien von Pharmafirmen hält, finanziert zu einem großen Teil die Organisation, die über die weltweite Gesundheitspolitik mitbestimmt und sie im Fall einer Pandemie sogar wesentlich bestimmt. Zwar beruht die Umsetzung auf nationaler Ebene (noch) auf Freiwilligkeit, doch die Empfehlungen und Richtlinien der WHO haben Gewicht. Auf ihnen bauen üblicherweise die Empfehlungen der nationalen Gesundheitsbehörden.“

In ihren Ausführungen verzichtet Walterskirchen auf Polemik. Sie blickt auf die Probleme und Krisen mit einem analytischen Blick, der erkennen lässt, dass der Aufklärungswille im Vordergrund steht. Der Schreibstil fällt daher sachlich und verständlich aus, ohne dass die Argumentationsstruktur einen Schaden nimmt. In fast jedem Kapitel gibt es so etwas wie eine Hauptquelle, aus der die Autorin zitiert. Für die Auseinandersetzung der Gesundheitskrise bezieht sie sich vordergründig auf die vierteilige ServusTV-Reportage «Auf der Suche nach der Wahrheit» des Fachmediziners Martin Haditsch. Der gegenwärtige geopolitische Konflikt wird hingegen vor dem Hintergrund der Aussagen Zbigniew Brzezinskis, der in seinem Werk «Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft» schon 1997 die Ukraine als geopolitischen Dreh- und Angelpunkt von entscheidender Bedeutung bezeichnet hat.

Demokratie- und Medienkrise

Bei der Betrachtung der Demokratiekrise steht Colin Crouch Pate, ein britischer Politikwissenschaftler und Soziologe, der bereits vor 20 Jahren den Begriff „Postdemokratie“ geprägt hat. Er bezeichnet einen Zustand, in dem die demokratischen Strukturen zwar noch formal existieren, die politischen Verfahren sich jedoch immer weiter in eine Richtung zurückentwickeln, die typisch war für undemokratische Zeiten. Walterskirchen beschreibt dieses Phänomen anhand der gegenwärtigen Verhältnisse: „Es sind die Regierungen, nicht das Parlament, die in der Realität die Gesetze machen. Unterstützt werden sie von den Beamten ihrer Ministerien, die die Gesetze ausarbeiten. Die Regierungsparteien machen also dem Parlament einen Vorschlag, der üblicherweise angenommen wird, da die Regierung dort meist die Mehrheit der Sitze hat.“

Sie spricht von einer „Partitokratie“, die eine Demokratie ersetzt habe: „Die Wähler haben zwar zu den Wahlterminen die Möglichkeit, einer Partei ihre Stimme zu geben, ansonsten haben sie kaum Einfluss auf das Geschehen und die sie vertretenden Personen.“ Allerdings stelle sich das Problem mittlerweile weitaus größer dar, so die Autorin weiter. Nicht nur die Parlamente würden entmachtet, sondern auch die souveränen Nationalstaaten und deren Regierungen. Als Beispiel dafür bringt sie den geplanten Pandemievertrag der WHO an und die vielen Verstöße der EU-Kommission. Internationale Organisationen, lautet ihre Schlussfolgerung, setzten sich als „eine Art Weltregierung“ unter einem Vorwand über die gewählten Regierungen, Parlamente und die Verfassungen der Nationalstaaten hinweg.

In diesem Zusammenhang zielt Walterskirchens Kritik auch auf die Medien ab. Wie viele andere Teilsysteme befänden sie sich in einer Krise, was nicht nur an der Erosion der finanziellen Basis liege. Gravierender seien die inhaltlichen Mängel: „Anstatt umfassend, ergebnisoffen und möglichst neutral zu informieren sowie Meinung und Information sauber zu trennen, greift ein Haltungs- und Erziehungsjournalismus um sich.“ An die Stelle der vorurteilsfreien Beschreibung der Realität trete die Moral. Das gleiche Problem zeichne sich in der Migrationskrise ab. Gerade die Tagespolitik agiere aktionistisch, um moralisch nicht in die Kritik zu geraten. Dabei würden Flüchtlinge und Migranten nicht sauber voneinander getrennt, obwohl die Genfer Konvention eine genaue Definition liefere.

Auf diese geht Walterskirchen genauso intensiv ein wie auf den UN-Migrationspakt 2018, dessen Ziel darin bestanden habe, „gesteuerte Migration weltweit als ein ‚für alle Beteiligten vorteilhaftes Geschehen‘ in ‚sichere, geordnete und reguläre‘ Bahnen zu lenken und Einflussfaktoren zu rezudieren, die Menschen daran hindern in Gegenden und Staaten auszuwandern, die ihnen ein erstrebenswertes Leben bieten“. Die Autorin schildert daraufhin, welche Fehler damals gemacht und welche Anreize für eine „freiwillige Auswanderung“ gemacht wurden, die unter anderem bis heute zu einem Brain-Drain in Afrika führen: „Die besten Köpfe gehen nach Europa, obwohl sie in Afrika gebraucht werden.“

Gefahren eines Staatszusammenbruchs

Auf diese Weise legt Walterskirchen nicht nur die Zusammenhänge, die Interessenlange der wichtigsten Player in dem jeweiligen Bereich und deren Strategien dar, sondern beleuchtet auch die Mechanismen dahinter. Gleichzeitig verweist sie auf die Gefahren, die multiple Systemkrisen zeitigen können: „Bei einem Staatszusammenbruch gehen nicht nur das Staatsgebilde und seine Elite unter, sondern es löst sich die Gesellschaft auf, sie funktioniert nicht mehr so wie zuvor.“ Es entsteht eine kausale Kette von Ereignissen, die stückweise ins Verderben führten: „Die Wirtschaft fällt um mehrere Stufen zurück, weil Güter fehlen, der Austausch und die Kommunikation schwieriger sind. Es wird wenig investiert, Kunst und Kultur kommen zum Erliegen. Politisch wird ein solcher Zusammenbruch sichtbar, indem der Staat seine Kontrollfunktionen nicht mehr ausüben kann, politische Prozesse nicht mehr funktionieren, die Verwaltung, das Steuerwesen, die Leistungen des Staates ganz oder großteils zum Erliegen kommen. Der Staat kann keine Sicherheit mehr garantieren. Das führt zu Anarchie, Gewalt und Willkür.“

Walterskirchen macht jedoch nicht nur auf den Ernst der Lage aufmerksam. Im Schlusskapitel skizziert sie Wege aus der Krise und spricht sich unter anderem für eine Reform der Uno und der EU aus. Die WHO sollte hingegen nicht noch mehr Macht bekommen. Ansonsten könnten Einflussreiche Persönlichkeiten und Unternehmen sie noch stärker für ihre eigenen Interessen nützen. Dabei hat sie insbesondere die Pharmaindustrie im Blick. Für die Lösung der Migrationskrise schlägt die Autorin hingegen vor, die Genfer Flüchtlingskonvention ernst zu nehmen. Sie dürfe nicht durch systematischen „Asylmissbrauch“ ausgehöhlt werden. „Europa bietet Chancen“, lautet ihr Plädoyer, „etwa auf Wohlstand, aber es gibt auch Pflichten, und die müssen klargemacht werden.“

“Systemversagen” von Gudula Walterskirchen, 360 Seiten, Hardcover, Seifert-Verlag, Wien 2023, 27,- EUR

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