Interview mit Dr. Friedrich Pürner zu seinem im Juli 2021 erschienenen Buch. Der Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen und Epidemiologie war bis November 2020 Leiter eines Gesundheitsamts in Bayern. Aufgrund seiner Kritik an den Corona-Maßnahmen wurde er zwangsversetzt, wie er sagt.
1bis19 hat im Februar 2021 bereits ein Interview mit Herrn Pürner geführt zum Thema Lockdown.
Von Camilla Hildebrandt, Autorin 1bis19
Die Beitragsreihe “Wie geht’s weiter” beleuchtet offen die Frage, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen kann. Hat die Corona-Zeit Probleme zu Tage gebracht, die wir beleuchten sollten? Sind wir mit dem Status Quo unseres Zusammenlebens zufrieden? Wir lassen in den kommenden Monaten Menschen aus Politik, Wirtschaft, aus den Medien, dem Bildungsbereich und der Kultur zu Wort kommen.
Lesedauer 11 Minuten1bis19
Herr Pürner, der Titel Ihres Buches lautet Pan(ik)demie. Denn Sie sagen, die Politiker haben eine extreme Panik-Politik angewandt, um die Bürger von der Richtigkeit der Maßnahmen zu überzeugen. Aus Ihrer Perspektive des Amtsarztes der absolut falsche Ansatz, in verschiedener Hinsicht.
„Der öffentliche Gesundheitsdienst, also wir, sind auch dafür da, dass wir den Menschen eine gewisse Eigenverantwortung aufzeigen und ihnen erklären, wie sie gesund leben sollten, unabhängig von Covid-19. Der öffentliche Gesundheitsdienst, die Gesundheitsämter, haben immer Jahresschwerpunkt-Programme gemacht. Das waren Themen zu Blutdruck, gesunde Ernährung, weniger Alkohol, weg vom Nikotin etc. Eben die typische Gesundheitsfürsorge. Aktuell hat der Staat die Eigenverantwortung der Bürger übernommen, und der Bürger ist mehr oder weniger raus. Und im Zuge der Pandemie hat die Politik so viel Angst geschürt und Panik gemacht, mit Bildern, mit Metaphern, und auch mit Zahlen, dass der Bürger gar nicht mehr weiß, wo er jetzt eigentlich ansetzen soll und was wichtig ist. Also überlässt er – wahrscheinlich auch vor lauter Angst – dem Staat die Entscheidung. Und der Staat gibt nun vor, was gut und was eher schlecht ist. Das ist für mich als Amtsarzt und als Vertreter des öffentlichen Gesundheitsdienstes etwas ganz Schreckliches. Denn ich hätte gerne einen mündigen Bürger. Einen eigenverantwortlichen Bürger. Man hat es schon bei den Masern-Schutzgesetzen gesehen, wie Bundesgesundheitsminister Spahn eingegriffen und gesagt hat: Kinder müssen sich impfen lassen. Auf der anderen Seite können Eltern ihre Kinder mit Süßigkeiten vollstopfen und total ungesund ernähren. Das macht dann überhaupt nichts aus. Und da frage ich mich natürlich, wo der Schaden höher sein wird? Ich brauche nicht großartig drüber nachzudenken. Denn man sieht, wie die Zahl der adipösen Kinder zunimmt. Ich muss kein Hellseher sein, damit ich sagen kann: Die gesundheitliche Belastung und dann irgendwann auch die Kosten werden sicher über denen liegen, die z.B. Covid-19 verursacht hat und verursachen wird.“
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Sie sagen, dass ein Großteil der Bürger seine Eigenverantwortung an den Staat abgegeben hat, und Sie schildern in Ihrem Buch die Sicht der Entscheidungsträger auf den Bürger: Man halte den Bürger für unfähig. Menschen seien orientierungslos und bräuchten Führung. Können Sie das näher schildern?
„Im Zuge einiger Gespräche hat man mir versucht zu erklären, warum es nach Ansicht dieser Vorgesetzten unklug ist, dass ich mich öffentlich äußere. Es hieß: Weil es zu einer enormen Verunsicherung der Bevölkerung kommen könne und die Bevölkerung eigentlich geführt werden wolle. So war die Aussage. Unser Auftrag sollte es sein – das kam auch von führenden und leitenden Beamten – den Menschen da draußen zu sagen, was sie zu tun hätten. Das widerstrebt mir natürlich absolut als Arzt. Denn so soll es gerade nicht sein. Wir können den Menschen vielleicht mit Beispielen ein Vorbild sein, aber sie nicht führen. Letztendlich hat der Mensch eine Eigenverantwortung und eine gewisse Freiheit. Und innerhalb der Eigenverantwortung und der Freiheit muss, darf und kann sich der Mensch bewegen.“
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Stichwort Eigenverantwortung und Freiheit. Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Buch deutlich kritisieren, ist das stoische Beamtentum, bzw. wie die Politiker – ihres Amtes Volksvertreter – von oben nach unten durchregiert haben. „Die Gesundheitsämter wurden nicht gefragt. Über uns wurde bestimmt“ (S. 78).
„Ein Gesundheitsamt hat tatsächlich wenig Eigenverantwortung. Es gibt bestimmte Vorgaben, d.h. die jeweiligen Länder, die Ministerien geben etwas vor, das Robert-Koch-Institut macht die Ober-Vorgabe, um es mal vorsichtig zu sagen – und die Gesundheitsämter führen es an der Basis aus. Ich war Leiter eines Gesundheitsamtes und konnte mitnichten meine eigenen Vorstellungen umsetzen. Das ist überhaupt gar nicht möglich. Denn entweder Sie sind nicht im Einklang mit der politischen Linie, dann geht es sowieso nicht, wie man ja an meiner Zwangsversetzung sieht. Und selbst wenn man im Einklang mit der politischen Linie wäre, geht es trotzdem nicht, weil das Personal, die Fachlichkeit fehlt. Ich habe relativ früh angefangen meine eigenen Statistiken anzufertigen, damit ich sehen kann, wer ist denn wirklich krank von den positiv Getesteten? Und wie krank sind sie denn? Wo kommen die Leute her, aus welchen Schichten? Sind es Pendler? Wie alt sind sie, usw. Aber es hat keinen interessiert. Wenn ich versucht habe, das vorzutragen, wurde mir gesagt, Das sei ja nur ein ganz kleiner Ausschnitt, und überhaupt nicht repräsentativ für ganz Deutschland.
Somit kann man natürlich eigenverantwortliches Arbeiten und Denken tatsächlich bleiben lassen. Ich habe sehr oft das Beispiel genannt: Man könnte auch einen dressierten Affen auf den Bürostuhl sitzen und arbeiten lassen. Das wäre wirklich manchmal kein großer Unterschied gewesen.“
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Herr Pürner, es hieß ja von Beginn an, es sei alles sehr schwer gewesen, da die Pandemie völlig neu, bzw. das Virus neu war. Sie sagen, schon vor Beginn der Corona-Maßnahmen und der Einstufung zur Epidemischen Lage von Nationaler Tragweite, die aktuell immer noch andauert, lag bereits ein Pandemieplan vor. Der erste Nationale Pandemieplan für Deutschland wurde 2005 veröffentlicht, 2017 aktualisiert. Das RKI schreibt: „Seitdem bereiten sich viele Länder gezielt auf eine Influenzapandemie vor.“
„Ja, es gab einen Pandemieplan. In der Realität hat sich aber kein Gesundheitsamt und auch nicht das Gesundheitsministerium wirklich darauf vorbereitet. Ich wage sogar die Aussage, dass sich auch das Robert-Koch-Institut nicht darauf vorbereitet hat.“
„In diesem Pandemieplan werden sehr schön die infektionshygienischen
Maßnahmen und deren Ziele beschrieben. Unter anderem sind hier Schutzkleidung und Desinfektionsmaßnahmen benannt. Wenn nun diese Maßnahmen bereits in einem Pandemieplan vorkommen, dann sollten doch zumindest diese Materialien in ausreichender Menge vorhanden sein. Warum wurde also nicht regelmäßig der Bestand dieser notwendigen Materialien überprüft und immer wieder für den Fall einer Pandemie angepasst? Es macht in meinen Augen sehr wenig Sinn, wenn man theoretische Pläne in Schubladen hält, ohne dass die Inhalte immer wieder überprüft und entsprechend anpasst werden. Besonders vor dem Hintergrund, dass ja in jedem Winterhalbjahr die Influenza bei uns eine Rolle spielt. Und jedes neue Influenza-Virus beinhaltet das Risiko für eine Pandemie“ (S.80)
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Dazu kommt die Tatsache, dass die Krankenhäuser in Deutschland seit Jahren wirtschaftliche Unternehmen sind. Der Patient steht folglich nicht im Vordergrund, so entnehme ich das Ihrem Buch, sondern das wirtschaftliche Handeln.
„Seit Einführung des DRG-Programmes (Diagnosis Related Groups), des neuen Abrechnungs-Programms, das gar nicht mehr so neu ist, sind die Krankenhäuser mehr oder weniger gezwungen, wirtschaftlich zu denken. Das hat dazu geführt, dass Patienten in Krankenhäusern eine Durchschnitts-Liegedauer bekommen, was sich nicht auf die Qualität der Behandlung bezieht, sondern auf die Dauer. Das ist für einen Arzt sehr seltsam, denn Patient A erholt sich schneller von seinem Leiden als Patient B. Aber das Krankenhaus bekommt genau das gleiche Geld für beide. Folglich versuchen die Krankenhäuser überall zu sparen und die Patienten relativ schnell wieder zu entlassen, mit wenig Aufwand, sodass anschließend der Erlös höher ist. So denken heute Wirtschaftsunternehmen. Für ein Krankenhaus sollte das aber natürlich nicht gelten. Denn da geht es nur darum, einen kranken Menschen wieder so weit wie möglich gesund zu machen und zwar genau in der Zeit, die dieser individuell braucht.“
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Deutlich hat man das in der Corona-Phase gemerkt. 20 Krankenhäuser wurden geschlossen, gleichzeitig wurde ständig gewarnt, man würde bald die Intensivbetten-Kapazitätengrenze erreichen. Es war von Triage die Rede. De facto hat die Bundesregierung aber bestätigt, dass “die Pandemie zu keinem Zeitpunkt die stationäre Versorgung an ihre Grenzen gebracht hat.“ Stattdessen haben einige Krankenhäuser die Belegung der Intensivbetten falsch gemeldet, um so finanzielle Unterstützung durch den Staat zu bekommen.
„Man hat den falschen Anreiz gesetzt. Die Krankenhäuser konnten so mit einer Art Verschiebung von bestimmten Zahlen Geld verdienen. Das lädt geradezu ein, dass man bestimmte Dinge tut, um mehr Geld zu bekommen. Aber man hat das Ganze nicht zu Ende gedacht. Und das ist auch ein großer Vorwurf meinerseits an die Politik, dass man immer im Hauruck-Verfahren irgendwelche Dinge entscheidet. Ich beschreibe es ja auch im Buch, viele Politiker interessieren keine langfristigen Lösungen. Sie sind an kurzfristigen Lösungen interessiert, damit der Bürger sofort sieht: Aha, die Politiker machen was, die Politiker handeln. Politik ist überhaupt nicht darauf ausgelegt in Zehn-Jahresschritten zu denken. Das interessiert niemanden, weil man möchte ja wiedergewählt werden, und deshalb muss ein schneller, sichtbarer Erfolg her. Aber dafür zahlt man einen hohen Preis, nämlich, dass man bestimmte Dinge nicht zu Ende denkt. Das sieht man auch an anderen Maßnahmen.“
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Herr Pürner, wenn wir nach vorne schauen, was könnten wir in Zukunft ändern, im Gesundheitswesen und im Umgang mit neuartigen Viren? Dringend ist die Erstellung einer validen Datenlage. Das Fehlen einer Datengrundlage ist aktuell der größte Fehler gewesen, schreiben Sie. Es wurde auf einer falschen Datenlage gemutmaßt und interpretiert.
„Grundlage allen Tun und Handelns sind valide Daten. Und die muss man von Anfang an in einer Pandemie sammeln. Wir haben das aber nie gelernt. Das erwähne ich später im Buch, dass man das tatsächlich lernen muss. Nicht jeder ist ausgebildeter Epidemiologe, hat ein Faible für Zahlen, Erhebungen und Statistiken. Die Zahlen müssen überall gleich erhoben werden, und zwar überall, in jedem Gesundheitsamt. Nur aufgrund dieser Zahlen kann ich Erkenntnisse erlangen und aus diesen Maßnahmen ableiten. Das wurde aber nicht getan. Ich erinnere daran, ich habe relativ früh die Inzidenzwerte kritisiert. Ich habe immer gesagt, es sind nur aufsummiert die positiven Labor-Meldungen. Mehr steckt da nicht dahinter.“
„Wir opfern unsere Freiheit und unser altes Leben aufgrund von nur positiven Testergebnissen, ohne einen Blick auf die Schwere der Erkrankung zu werfen. Das ist falsch! Und das wollte ich auch so schweigend nicht mehr mitverantworten.“ (S. 31)
„Nun habe ich endlich gehört, dass Herr Spahn sagte: Ja, jetzt werden wir auch mal gucken, wie viele Leute krank ins Krankenhaus gehen. Wer ist schon geimpft? Das finde ich ganz vernünftig. Aber vor allem freut es mich, dass nun nach so langer Zeit einer Pandemie endlich die Erkenntnis eintritt, dass nicht der Inzidenzwert die Mutter aller Zahlen sein kann, sondern dass man verschiedene Parameter braucht. Aber das muss man lernen. Jedes kleinste Gesundheitsamt muss verstehen, warum die Zahlen so erhoben werden müssen. Und dann müssen diese Zahlen zusammengeführt werden. Das funktioniert natürlich nur mit guten Programmen. Und die Zahlen müssen schneller übermittelt werden und nicht so, wie es im Moment passiert. Anfangs noch mit Fax und später mit einem Software-Programm, das nicht funktionierte.“
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Dazu kommt ein Punkt, den ich sehr interessant finde, die unabhängigen Gesundheitsämter. Diese Ämter wurden ja ehemals zur Seuchenbekämpfung eingerichtet. In der Corona-Pandemie waren sie allerdings abhängig von den Vorgaben des Ministeriums, schreiben Sie.
„Gesundheitsämter, jetzt kann ich nur für Bayern sprechen, sind grundsätzlich abhängig, weil sie vor vielen Jahren in die Landratsämter eingegliedert wurden. Und somit entstand für die Gesundheitsämter eine seltsame Situation. Früher konnte der Amtsleiter relativ frei arbeiten und plötzlich hatte er mehrere Vorgesetzte. Also im Rahmen dieser Reform hat man die Gesundheitsämter ganz einfach beschnitten. Die fachliche Expertise hat aber nun mal der Gesundheitsamtsleiter. Und der hatte nun einen Vorgesetzten, den Landrat oder die Landrätin und dann Fachvorgesetzte in den jeweiligen Regierungen. Innerhalb dieses Aufbaus musste sich der Gesundheitsamtsleiter irgendwie arrangieren. Ich habe z.B. beschrieben, wie man Personal bekommt. Man kann nicht einfach jemanden einstellen, weil er qualitativ gut ist. Nein, das geht über tausend Ecken. Und so funktioniert auch die Arbeit. Also wer glaubt, die Gesundheitsämter sind frei, der hat das System in Gesundheitsämtern überhaupt nicht verstanden.“
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Sie fordern in Zukunft freie Gesundheitsämter.
„Natürlich. Freie Gesundheitsämter, die wirklich wieder Ämter sein dürfen. Dass die Gesundheitsamtsleiter tatsächlich wieder Amtsleiter sind und Wesentliches entscheiden dürfen. Aber jetzt kommt es: In einer wirklichen Pandemie, also in einer Krise, funktioniert das nicht mehr, dass jeder macht, was er will. Nehmen wir an, wir hätten eine bundesweite Krise. Dann müssen die Gesundheitsämter natürlich geführt werden, Vorgaben müssten von weiter oben kommen. Damit meine ich allerdings nicht, dass sich die Gesundheitsämter dann zurücklehnen und alles blind befolgen. Sondern all das muss in vielen Jahren und in Prozessen erlernt werden. Es kann nicht sein, dass eine Ministerpräsidentenkonferenz über Dinge entscheidet und der öffentliche Gesundheitsdienst ganz unten überhaupt nicht dazu befragt wird. Es muss eine flache Hierarchie geben. Oben eine große Fachbehörde wie das RKI – wobei sich das RKI meiner Meinung nach rundherum erneuern muss –, welche die Gesundheitsämter in ganz Deutschland wirklich führt. Das wäre der Vorgang in einer Krise.“
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Ein unabhängiges Expertengremium sollte Ihrer Meinung nach die Leitung in einer Gesundheitskrise übernehmen.
„Ja, dieses Expertengremium sollte beratend tätig sein, aber – ganz wichtig – absolut unabhängig. Die Zusammensetzung: Ein Teil Bürger, das finde ich wichtig, denn wir dürfen die Menschen nicht vergessen. Für mich war eine der wichtigsten Erkenntnisse das Thema Homeoffice und Homeschooling. Das habe wunderbar funktioniert, heißt es. Ich kenne so viele, die gesagt haben, wir sind auf dem Zahnfleisch gegangen. Meistens waren es ja Mütter, die zuhause geblieben sind. Deshalb braucht man in einem Expertengremium Menschen, die direkt aus dem Volk kommen und sagen: Halt, Stopp! Das ist zwar nett gedacht, aber es funktioniert nicht. Der zweite Teil wären die Fachexperten, die fachlich erklären, was Stand der Dinge ist. Und der dritte Teil, das sind die Kritiker. Die müsste man legitimieren. Denn das ist etwas, was ich auch aus der Pandemie gelernt habe: Die, die ganz am Anfang gleich widersprochen haben, wurden sofort abgeschrieben und abgestempelt. Es wurde kein Widerspruch geduldet. Widerspruch ist aber enorm wichtig, wenn wir etwas lernen wollen. Und wenn es so nicht funktioniert – und das ist auch meine Erkenntnis – dann muss man das legitimieren, in irgendeinem Gesetz, in einer Verordnung festschreiben. Aktuell funktioniert es in Deutschland nicht, dass man Kritik üben darf, bzw. man darf schon, aber dann muss man sich der Konsequenzen auch bewusst sein. Was das für Beamte bedeutet, wenn sie Widerspruch leisten, nämlich, dass sie irgendwann gar keine Karriere mehr vor sich haben, weil immer wieder irgendwo der nächste Vorgesetzte sitzt, der dann entsprechende Beurteilungen verfasst, das kennen wir mittlerweile. Wenn Sie aber wissen, dass derjenige, der Sie kritisiert, extra dafür legitimiert wurde, dann hat es eine ganz andere Bedeutung. Und deshalb wäre das meine Idee für ein Expertengremium. Ich finde alle drei Bausteine enorm wichtig.“
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Im letzten Teil Ihres Buches schreiben Sie, Sie machen sich tatsächlich Sorgen um unsere Gesellschaft, weil wir sehr gespalten und angstbesetzt sind. Was wäre ein Schritt, um gesellschaftlich wieder zusammenzukommen?
„Das ist eine sehr gute Frage. Vor ein paar Monaten habe ich noch gesagt, die Gesellschaft ist dabei, sich zu spalten, bzw. die Politik ist dabei, mit ihren Maßnahmen und Aussagen die Gesellschaft zu spalten. Mittlerweile sage ich: Die Politik war erfolgreich, die Spaltung wurde vollzogen, die Gesellschaft ist gespalten. Man sieht das wunderbar am Thema Impfen. Es ist geradezu gruselig.
Was wir brauchen? Vielleicht einmal wieder innehalten und durchschnaufen, versuchen die Positionen des Anderen zu hinterfragen und zu verstehen. Beim Thema Impfen gibt es zwei ganz extreme Lager. Die einen, die um jeden Preis alle impfen lassen wollen und so weit gehen zu sagen, es müsse eine Zwangsimpfung geben und „Impfverweigerern“ solle man die Rechte entziehen. Auf der anderen Seite gibt es solche, die meinen, wir würden durch die Impfung alle umgebracht. Ich bin wirklich dafür, dass beide Extreme einfach nicht mehr gehört werden. Sie sind schlicht und ergreifend unsinnig für mich. Irgendwo zwischendrin müssen wir doch versuchen, wieder zusammenzukommen. Das Gleiche gilt auch für das Tragen von Masken und andere Maßnahmen. Warum können wir uns nicht einigen und sagen: Wer will, der kann. Und wer nicht will, der trägt – und jetzt bin ich wieder bei der Eigenverantwortung – das eigene Risiko eventuell krank zu werden. Aber dann geht es schon wieder los: Die belasten das Gesundheitssystem!
„Wird sich die Gesellschaft je wieder von dieser Panik in der Pandemie erholen? Ich denke nicht, zumindest nicht so schnell. Unser altes Leben ist vorüber, es wird nicht mehr so wie früher sein. Die Urangst vor Krankheit, Tod und Siechtum wurde geweckt, und die Politik hat es zugelassen und gefördert, dass diese Angst tief in die Bevölkerung eingedrungen ist. Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt, freies Reisen ist derzeit nicht möglich. Wer hätte das jemals gedacht.“ (S. 227)
„Wie viele psychisch Kranke werden unser Gesundheitssystem aufgrund der Corona-Maßnahmen belasten? Da fragt keiner. Im Moment gibt es viel zu wenig Menschen, die versuchen diese beiden Seiten zusammen zu bringen. Aber ich sehe auch in der Politik überhaupt keinen Willen, dass man diese Spaltung überwindet. Null. Ganz im Gegenteil. Immer wieder haut irgendein Politiker aus irgendeinem Bundesland drauf und fordert vollkommen losgelöst von der Partei irgendeine brutale Unsinnigkeit. Vielleicht denken sie, das erhöht die Aufmerksamkeit. Wenn ich sehe wie die Fachgesellschaft STIKO im Moment angegriffen wird und Politiker sich tatsächlich erdreisten und denken, sie wüssten es besser als die STIKO, dann können wir manche Gremien tatsächlich abschaffen.
Wir brauchen unabhängige Gremien, die frei und unabhängig und nach Faktenlage entscheiden. Egal, was der eine oder andere Politiker dazu sagt“.
Dr. Friedrich Pürner: Diagnose Pan(ik)demie – Das kranke Gesundheitssystem, Langen Müller Verlag, München 2021
Friedrich Pürner, geboren 1967 in München, machte auf dem Umweg über das Abendgymnasium sein Abitur und studierte parallel Jura und Medizin, bevor er sich schließlich ganz der Medizin widmete. Nach einigen beruflichen Stationen wechselte er zum Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, war Leiter der Taskforce Infektiologie Bayern, Leitender Infektionsschutz-Arzt und Leiter des Bereiches Epidemiologie bevor er 2018 Leiter des Gesundheitsamtes Aichach-Friedberg wurde. Im November 2020 wurde er versetzt, nachdem er sich mehrfach kritisch zur medizinischen Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen geäußert hatte.