Sachbuch: «Anmaßung» (2021)

eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten

Die Beziehung zwischen Deutschland und Russland befindet sich auf dem Tiefpunkt. Ohne Zweifel hat der Ukraine-Krieg maßgeblich dazu beigetragen, doch die Risse begangen viel früher. Die Spannungen wuchsen, je selbstbewusster Russland geopolitisch auftrat. Streitpunkte gibt es genug: Nord Stream 2, Wertepolitik, das Verhältnis zu den USA. Beide Länder haben sich nach und nach immer weiter voneinander entfernt. Der Umgang ist kühl geworden, was sich allein an der deutschen Berichterstattung ablesen lässt. Russland wird zunehmend als Feind dargestellt. Wenn russische Gesprächs- oder Interviewpartner zu Wort kommen, dann meistens entweder nur offizielle Regierungsvertreter oder ausgewiesene Kremlkritiker. Neutrale Stimmen sind hingegen kaum zu vernehmen. Dabei gibt es sie, wie das neue Buch des Russland-Experten Alexander Rahr veranschaulicht. «Anmaßung» heißt es und stellt russische Deutschland-Kenner vor, die ihre Sicht auf Deutschland kundtun.

Der Politologe und Publizist bezeichnet sein Werk als einen „Schrei des Verzweifelten“. Rahr kennt beide Länder wie seine Westentasche. Er ist in Taipeh geboren und studierte in München Geschichte. Später wurde er zunächst als Analytiker für Radio Liberty tätig und arbeitete lange Zeit für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, bevor er von 2004 bis 2015 im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs sitzen und seit 2012 zusätzlich als Projektleiter des Deutsch-Russischen Forums fungieren durfte. Seit dem Berliner Mauerfall reiste er nach eigenen Angaben über 300 Mal nach Russland.

Projektionen und Perspektiven

Wenn jemand weiß, wie die Russen über Deutschland denken, dann Rahr. In den letzten Jahren konnte er jedoch beobachten, dass die tiefsitzende Sympathie mehr und mehr bröckelt. Die Russen begegnen den Deutschen zunehmend mit Unverständnis. Woran liegt das? Die Antwort darauf geben in dem Buch Menschen aus Politik und Wirtschaft, aus der Ober- und Unterschicht. „Alevtina, die Konfliktforscherin“, heißen die Kapitel – oder „Mischa, der standhafte Patriot“, „Anna, die Coachin“, „Alexei, der Deutschlandversteher“. In insgesamt sieben Beispielen untersucht Rahr, was bereits der Untertitel zum Ausdruck bringt: „Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“. Der Autor lässt die genannten Protagonisten sprechen, er gibt wieder, was sie als Grund für die Entzweiung angeben.

„Je transatlantischer das deutsche Volk, umso tiefer ist die Entfremdung von Russland“, sagt zum Beispiel Jewgenija, die Meinungsforscherin. Alevtina, die Konfliktforscherin, sieht es ähnlich. Sie erinnert an den NATO-Gipfel 2008, als die USA versuchten, das transatlantische Verteidigungsbündnis auf die Ukraine und Georgien zu erweitern. Deutschland habe sich jedoch zusammen mit Frankreich quergestellt und das Schlimmste gegenüber Russland verhindert. Damals stand es um die Beziehung zwischen Berlin und Moskau noch besser als zur Zeit, in der Rahrs Buch entstand. Das hört man unter anderem aus den Aussagen Alevtinas heraus, in denen Entrüstung mitschwingt: „Sehen die Deutschen in ihrer geopolitischen Blindheit denn gar nicht, dass die USA eine Sonderbeziehung zwischen Moskau und Berlin niemals tolerieren werden, weil sie ihren nationalen Interessen zuwiderläuft?“

Mentalität und Klischees

Wie diese Sonderbeziehung aussieht, was sie zu einer solchen macht, versucht Rahr ebenfalls herauszuarbeiten. Er verweist zum Beispiel auf die Zeit des Hansebundes, als die ersten Kontakte zwischen Deutschen und Russen entstanden. Hiesige Kaufleute sollen damals die Handelsrouten über die Ostsee entdeckt haben und drangen über den Ladogasee bis nach Nowgorod vor, wo sie kostbare Waren aus Sibirien erstanden. Der deutsche Einfluss machte sich schließlich auch in der Romanov-Dynastie bemerkbar. Seit Peter dem Großen, so Rahr, habe sie praktisch aus Zaren und Zarinnen bestanden, „in denen mehr deutsches als russisches Blut floss“. Beim friedlichen Expansionsdrang nach Europa sei Preußen ein großes Vorbild gewesen. Aus diesem Grund habe Peter der Große deutsche Technologie und Manufakturwerkstätten nach Russland geholt. „Mit keinem europäischen Land sind die historischen Beziehungen Russlands so verwachsen wie mit Deutschland“, schreibt der Autor.

Die deutsche Mentalität hat in den Köpfen der Russen bleibenden Eindruck hinterlassen. Noch immer loben sie die Tüchtigkeit, heben das wirtschaftliche Know-how hervor oder bewundern den Gerechtigkeitssinn, obwohl manche Vorstellungen, wie die des Filmregisseurs Wolik, insbesondere nach den Erfahrungen der Corona-Krise sehr naiv wirken: „In Deutschland funktioniert der Rechtsstaat“, ist er noch immer überzeugt, „es herrscht keine Korruption und Vetternwirtschaft. Jeder ist vor dem Gesetz gleich – ob Frau Merkel oder der Obdachlose auf der Parkbank. Solche Ansichten entpuppen sich schnell als Stereotypen, von denen es in Rahrs Buch einige zu finden gibt. Sie beziehen sich aber auch auf die negativen Eigenschaften der Deutschen. Besonders oft wird ihnen Autoritätshörigkeit vorgeworden. Bis heute erweckten sie zudem den Eindruck, lebensfremd, unnatürlich und kleinbürgerlich zu sein.

Unverständnis und Enttäuschung

Auf der politischen Bühne wirkten die Deutschen hingegen, als urteilten sie nach einem doppelten Standard. Das kritisieren Leute wie der standhafte Patriot Mischa mit scharfen Worten: „Wo bleibt die deutsche Entrüstung im Falle des Dissidenten Jamal Kaschoggi, den der saudische Kronprinz im saudischen Konsulat von Istanbul umbringen ließ? Wo empört man sich in Deutschland über die gezielte Tötung des iranischen Kommandeurs der Al-Kuds-Brigaden, Quasim Soleimani, durch die USA? Warum wird in Deutschland weiterhin toleriert, dass die USA ihren Drohnenkrieg im Mittleren Osten, dem tausende Unschuldige zum Opfer fallen, von Ramstein aus führt?“ Als ebenfalls beklagenswert erscheint den Russen, dass Deutsche im Dialog eine gewisse Arroganz an den Tag legen und auf sie von oben herabschauen, ob es nun um Sport, Bildung, Wirtschaftsprojekte oder politische Fragen geht.

Der Diplomat Volodija erinnert daran, dass Deutschland es verpasst habe, die Partnerschaft zwischen beiden Ländern zu festigen. Moskau sei auf Berlin zugegangen. Präsident Wladimir Putin habe die Hand ausgestreckt und wollte den Aussöhnungsgedanken auf eine solide Grundlage stellen. Aus solchen Einzelaussagen verschiedener Menschentypen ergibt sich ein Gesamtbild, das zu verstehen ermöglicht, warum Deutschland seinen guten Ruf in Russland verspielt hat. Am Ende seines Buches formuliert es Alexander Rahr ganz unverblümt: „Deutschland ist für die Russen nicht mehr die Lieblingsnation in Europa.“

Der Autor sah die Eskalation kommen, er warnte und mahnte. Und obwohl viele seiner Aussagen in «Anmaßung» mittlerweile von den Ereignissen überholt sind, geben sie einen guten Überblick darüber, welche Prozesse zu der gegenwärtigen Situation geführt haben. Neben dem westlichen Narrativ dieser Entwicklung gibt es eben auch ein russisches. Da es in den deutschen Leitmedien aber als Propaganda abgetan wird, leistet Rahrs Buch wichtige Aufklärungsarbeit.

1bis19 - Anmaßung 2021
< Anmaßung – Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt>
von Alexander Rahr mit einem Vorwort von Gabriele Krone-Schmalz, 176 Seiten, Klappenbroschur, Verlag Das neue Berlin/Eulenspiegel, Berlin 2021
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