Staatsbürgerliche Sorgen der Gegenwart
ein Beitrag von Kenneth Anders
Lesedauer 4 MinutenI.
Sehr geehrte Frau Innenministerin,
ich wende mich an Sie in einer staatsbürgerlichen Notlage mit der Bitte um Rat und Orientierung. Es geht um Folgendes:
Im zurückliegenden August erlebten wir in unserem großen Fluss, in der Oder, ein verheerendes Fischsterben. Tausende Tiere schwammen tot auf dem Wasser oder wurden angespült. Die Ursachen sind bis heute diffus, die politische Auseinandersetzung ist schleppend. Als Anwohner war ich davon unmittelbar betroffen und erschrocken. Als unser Bürgermeister in diesen Tagen öffentlich dazu aufrief, am Wochenende in einem freiwilligen Einsatz tausende toter Fische am Ufer abzusammeln, um zu verhindern, dass die möglicherweise vergifteten Kadaver in die Nahrungskette gelangen, kamen meine Frau ich der Aufforderung sofort nach. Wir zogen uns Gummistiefel an, nahmen unseren Kücheneimer und die letzten, von früheren Feriengästen übriggebliebenen Haushaltshandschuhe, und eilten zur Oder. Dort trafen wir auf viele andere Bürger, die ebenfalls helfen wollten.
Auf die Schwierigkeiten der Sammelaktion will ich hier nicht weiter eingehen. Ja, die Handschuhe waren nicht geeignet, sie platzten bald, sodass wir die Fische mit bloßen Händen aufnehmen mussten. Es fehlten auch Müllsäcke, Kescher, es fehlte viel. Aber ich habe mich entschieden, dafür Verständnis aufzubringen. Es musste schnell gehen und die Oder hat so etwas noch nie erlebt.
Meine Sorge bezieht sich nun aber darauf, dass möglicherweise Sie und die Ihnen zugeordneten Organe kein Verständnis für meine Mitwirkung an der Aktion aufbringen werden, sodass ich in staatsbürgerlichen Misskredit geraten könnte. Denn ich habe Grund zu der Annahme, dass unter den mithelfenden Bürger*innen (wie sie sehen, bemühe ich mich um eine inklusive und gerechte Sprechweise) auch Wählende der AFD zu finden waren. Ich schließe das aus Äußerungen in meiner Nachbar*innenschaft sowie aus Statusmeldungen in einem Messenger, die man einsehen kann, wenn man die entsprechenden Telefonnummern abgespeichert hat. (Natürlich habe ich sie inzwischen gelöscht.)
Ich frage mich nun: Ist es möglicherweise zu tadeln, dass ich mich an dieser Aktion beteiligt habe? Hätte ich nicht sehen müssen, dass diese scheinbar harmlose und angeblich gut gemeinte Hilfe in Wirklichkeit, um es mit den Worten unseres Bundespräsidenten zu sagen, ihre Unschuld längst verloren hatte? Hätte ich nicht folgern müssen, dass die ganze Sache längst von Rechtsextremist:innen unterwandert worden war, um von diesen für ihre feindlichen Zwecke missbraucht zu werden? Muss man nicht sogar fürchten, dass die Fischsammlung gezielt als Delegitimierung des Staates und unserer Verfassung einzustufen ist, da sie ja als Hinweis auf das (vermeintliche) Nichthandeln der Politik missdeutet werden könnte?
Mir ist heute klar, dass ich nach der Einweisung auf dem Parkplatz durch einen Mitarbeitenden eines Fachamtes eigentlich sofort wieder hätte nach Hause fahren sollen, oder mich wenigstens hätte distanzieren müssen, um laut, vor allen anderen Helfenden, zu erklären, dass ich nicht bereit bin, mit Rechtsextremist:innen gemeinsame Sache zu machen. Ich hätte wenigstens einen eigenen demokratischen Abschnitt zwischen zwei Buhnen verlangen müssen, am besten durch Fähnchen abgesteckt, versehen vielleicht mit einem Transparent wie: Fische sammeln gegen rechts, und gegen den Klimawandel! Dass ich dies nicht getan habe, dass ich das Abstandsgebot des thüringischen Ministerpräsidenten und die richtige weltanschauliche Einordnung der Aktion vernachlässigt habe, ist unverzeihlich. Ich möchte diesen Vorfall deshalb hiermit anzeigen und mich dementsprechend von mir selbst distanzieren. Ich werde es gewiss nicht wieder tun und verspreche, beim nächsten Mal einfach zu Hause zu bleiben und die toten Fische tote Fische sein zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen.
II.
Diesen Brief verfasste ich beim Sammeln der toten Fische im Kopf. Ich hatte das Bedürfnis, die Frage zu stellen, was wir als Bürger eigentlich nach Auffassung unserer Regierung noch gemeinsam haben, und inwiefern wir zusammen handeln dürfen, ohne unsere Anerkennung als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu verlieren. Denn diese Frage scheint tatsächlich offen zu sein.
Ist es in Ordnung, sich von einem ungeimpften Feuerwehrmann den Hausbrand löschen zu lassen? Offenbar nicht, denn aus seiner Behandlung schließe ich, dass es besser ist es, wenn das Haus abbrennt, als dass er zur Arbeit gehen darf.
Ist es in Ordnung, seine politische Kritik auf der Straße in einer Demonstration zu artikulieren, wenn man nicht ausschließen kann, dass Menschen an der Demonstration teilnehmen, die bei anderen Themen als jenen, für die die Demonstration angemeldet ist, andere Auffassungen vertreten, als ich? Offenbar nicht. Der Gesinnungstest entscheidet in Gänze. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, in allem.
Ist es in Ordnung, einem politischen Gegner einmal Recht zu geben, weil er ein gutes Argument gebracht hat? Offenbar nicht. Alles, was der Gegner im Mund führt, ist verbrannte Wahrheit.
Diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich die stinkenden Kadaver aus der Oderbrühe zog. Sie hämmerten in meinem Kopf, und ich sah mich nach meinen Nachbarn um, nach den anderen, die auch gekommen waren. Was verbindet mich mit diesen anderen, fragte ich mich. Immerhin waren wir alle an die Oder gekommen.
Es war niemand zu sehen. Die Leute wateten irgendwo durchs Wasser, verdeckt von Schilf. Ich sah nur einen Mann, der einen Eimer toter Fische ausschüttete und sich danach erbrach. Es war eine in vielfacher Hinsicht traurige und hoffnungslose Situation.
Aber in diesem Moment hörte ich einen kleinen Disput von zwei Fischsammlern an der vom Schilf verdeckten oberen Buhne. Es waren eine Frau und ein Mann, offenbar ein Paar.
Er sagte: Komm, lass jut sein hier, die kleenen Dinger rauszufischen, dit lohnt do ni. Dit dauert do ewig!
Sie darauf: Wenn ick `s mache, mack ich `s richtich!
Ich hätte die beiden umarmen können.
Ja, die politische Rhetorik ist zum Fürchten. Aber die pedantische Fischsammlerin macht mir Hoffnung.