Entfesselt! – Eine Diskursgeschichte des Impfens (3v3)

ein Beitrag von Katja Leyhausen

Lesedauer 12 Minuten

1bis19 - Entfesselt! - Eine Diskursgeschichte des Impfens (3v3)
Joseph-Ignace Guillotin (1738-1814) Arzt, Poilitiker, Erfinder der Guillotine und Präsident der Gesellschaft gegen Kuhpocken (Musée Carnavalet)

Teil 3v3: Entfesselung von staatlicher Gewalt und Herrschaftswissen seit 1800

Ein neuer Mensch für die Nation

Eine dritte Zäsur in der Geschichte des Impfens brachte die Jahreswende 1800/1801, als mit Jean-Antoine Chaptal ein Impffreund in das Amt des Innenministers gelangte. Sofort erklärte er das Impfen von Findelkindern in den Waisenhäusern als legal (96), was vorher aufgrund der Erkrankungs- und Ansteckungsrisiken und der ungeklärten Frage, wer juristisch dafür aufkommen würde, untersagt war. Bereits 1793 war per Dekret verordnet worden, dass Kinder, deren Eltern öffentliche Unterstützung bekamen, zwangsinokuliert werden sollten. Dafür gibt es, so Fressoz, zwar weder ein europäisches Pendant noch die Spur einer Anwendung: Es zeigt aber deutlich die nationale Ideologie des totalen Krieges gegen die Koalition Europas, der mit einer optimierten Bevölkerung gewonnen werden sollte (82 f.).

Diese kriegerische Medizin der Bevölkerungsoptimierung wurde besonders von der 1780 noch im Ancien Régime gegründeten “Philanthropischen Gesellschaft/Société philanthropique” entfesselt. Ihr Mitglied Herzog de La Rochefoucault-Liancourt hatte schon 1790 eine öffentliche Impfklinik in Paris eröffnen wollen. Nach der Entdeckung des Kuhpocken-Vakzins nun setzte er sich für ein Nationales Impfkomitee / Comité de Vaccine ein, das im Jahre 1800 gegründet und von den Philanthropen finanziert wurde (87 f.). Die Aufgabe der allgemeinen Durchimpfung sahen die im Komitee versammelten Minister, Abgeordneten, Bankiers, Staatsräte … als einen Krieg im wörtlichen Sinne an: Ein Sieg gegen die Pocken wäre ein Sieg der Zivilisation über die Natur und ein Sieg der Zivilisation gegen Europa. Die Französische Revolution hatte die Neuerschaffung des Menschen zum Ziel: la régénération de l’homme. Die Philanthropen stellten sich dementsprechend vor, sie würden diesen neuen Menschen erschaffen – eine neue, gesunde Menschenrasse (race), die vom Ausland respektiert würde (84).

Waisenhäuser als Tatort

Dazu benutzten die Philanthropen die Waisenkinder, und zwar einerseits als sogenannte Impfdepots/dépôts de vaccin und andererseits als Versuchsobjekte. Man konnte damals das neue Kuhpocken-Vakzin nicht lagern. Es musste direkt von Mensch zu Mensch übertragen werden, um – in der pathetisch-philanthropischen Sprache der Impfpartei – “das Feuer der Impfung zu erhalten” (le feu de la vaccine s’entretient). Dafür brauchte man viele Menschen, und Waisenkinder gab es genug: in Frankreich im Jahr 1800, nach Jahren der revolutionären Kämpfe und Entbehrungen, ungefähr 60.000. Man “impfte” diese Kinder, um den Stoff zu lagern (96 f.).

Das neue Kuhpocken-Vakzin war damals ein mysteriöses neues Etwas; man wusste buchstäblich nichts über die neue Behandlungsmethode (85; 98). Man “erforschte” also bspw., ab wann dieser Impfstoff gegen die richtigen Pocken immunisierte. Dazu “impfte” man beide Erreger in verschiedenen Zeitabständen: erst die Kuhpocken und später die Pocken, und das mit immer weniger Zeitabstand, bis man die Kinder schließlich sogar mit beiden Stoffen gleichzeitig inokulierte. Ebenso wenig wusste man, ab welchem Alter die Kinder die Behandlung vertrugen: Man nahm immer jüngere Kinder bis hin zu den Frühgeborenen. Man wusste nicht, ob durch die Methode ansteckende Vorerkrankungen (Syphilis bspw.) übertragen wurden; auch das wurde “erforscht”. All das waren Behandlungen, die kein therapeutisches Ziel bei den Betroffenen hatten, es waren Experimente an Schutzlosen. Gab es einen Zwischenfall, Unfall, Todesfall (un accident), so wurde das Experiment wiederholt, nur um sicherzugehen. Brach eine ansteckende Krankheit aus, dann wurden gesunde Kinder mit diesem unbekannten Sekret “geimpft”, um durch weitere Beobachtung zu diagnostizieren, ob es sich nicht etwa um die Pocken handele (94, 98 f.).

Die kleinen Körper wurden als leicht zugängliches Experimentiermaterial benutzt, und zwar zu tausenden. Eltern konnten sich nicht beschweren, und die Kritiker erfuhren davon meistens nichts. Beklagte sich die gute Gesellschaft über diese Praktiken, dann nicht wegen ihrer Unmenschlichkeit, sondern aus Furcht vor dem Schmutz der Waisenkinder – diesen praktischen, aber völlig unzulänglichen Impfdepots (94-98; un matériau expérimental commode, mais défectueux, 103)!

Experimente im philanthropischen Programm

Philanthropische Gesellschaft und Impfkomitee trieben diese Impfexperimente voran. Vor dem Jahre 1800 hatten die Ärzte höchstens einmal mit sich selbst experimentiert oder mit einzelnen, zum Tode Verurteilten (94). Den Experimenten an den Waisenkindern widersetzten sich mitunter Praktiker und Verantwortliche vor Ort: Hebammen, Ärzte (wie Marcus Herz, 93 f.), die Leitung des Waisenhauses oder der Präfekt des Departements (96). Innenminister Chaptal, der vom Impfkomitee beeinflusst war, ging dagegen ab 1801 folgendermaßen vor: Wo es Widerstand gab, da wurde kurzerhand ein Impffreund als verantwortlicher Arzt in das betreffende Waisenhaus berufen und zur alleinigen Entscheidung ermächtigt: Schließlich sei der Arzt der Fachmann (100 f.).

So wurde das Experiment als Dispositiv der staatspolitisch-technologischen Entfesselung in die Medizin eingeführt. Obwohl medizinische Kausalitäten viel weniger greifbar sind als in der Physik, sollten – nach ihrem Vorbild – die Unfehlbarkeit der Impfung und die Wiederholbarkeit ihrer Erfolge gezeigt werden, nicht mehr nur eine statistische Wahrscheinlichkeit ihres Nutzens. Das Ziel der Experimente war also von Beginn an nicht im Wesentlichen das der Erkenntnis, Forschung, Wahrheitssuche. Es ging um das philanthropisch-propagandistische Programm, die Bevölkerung und vor allem die Verantwortlichen vom absolut gutartigen Wirkstoff zu überzeugen. Dieser Umgang mit den Heimkindern war geradezu der Inbegriff der philanthropischen Praxis. Auch andere Historiker haben schon beschrieben, wie die Philanthropen damals die ursprünglich karitative Institution der Waisenhäuser verwandelten in eine “nützliche” Einrichtung, nach dem utilitaristischen Denken: Individuelles Leid sollte gelindert und zugleich für eine soziale Funktion genutzt bzw. ausgenutzt werden (101-103).

Öffentliche Impfkampagne

Das philanthropische Impfkomitee war auch für die Inszenierung der öffentlichen Impfkampagne zuständig: 1801 organisierte es in Paris die öffentliche Impfung von 200 Waisenkindern (102 f.), um Sicherheit und Unfehlbarkeit der Impfung zu demonstrieren. Adlige Geldgeber waren eingeladen; die Akademie der Wissenschaft zeigte sich begeistert, und auch das Englische Parlament. Das Event wurde, über ganz Frankreich verteilt, mehrfach wiederholt. Nach zwei Jahren waren alle Verantwortlichen überzeugt. Für einen Effekt in der Breite der Bevölkerung wurde die Impfung der Heimkinder ab 1801 ebenfalls als offizieller, staatstragender Akt vollzogen: Die Heimleiter mussten sich mit den Kindern im Rathaus einfinden; das erleichterte einerseits dem Impfarzt die Arbeit. Andererseits bekam im Anschluss an den Akt das Kind (bzw. der Heimleiter für das Kind) vor den Augen der Öffentlichkeit vom Bürgermeister ein Papier überreicht, das ihm den Zugang zu Schule und staatlicher Unterstützung gewährte (97 f.). Mit Zunahme der Impfpraxis ließen die Präfekten Listen der geimpften Kinder an den Rathäusern aushängen, um diejenigen Eltern unter Druck zu setzen, die ihre Kinder noch nicht hatten behandeln lassen (117). Eine allgemeine Impfpflicht allerdings wurde in Frankreich damals nicht verhängt. Napoléon persönlich wies die Forderung zurück. Sein späterer Innenminister Fouché meinte noch im Jahre 1808: Am wirksamsten sei die milde Kraft der Überzeugung: la douceur et la persuasion (85).

Ontologische Dispositive: Wissenschaftliche Festlegung der Realität

So nahm, zusammen mit dem neuen nationalen Interesse der Bevölkerungsoptimierung, nicht nur die staatliche Gewalt zu. Es änderten sich auch die Dispositive der gütig wirkenden Herrschaftsoberfläche (pouvoir doux). Das menschliche Bewusstsein sollte gegen die Furcht vor Reue immunisiert werden; ein gutes Gewissen und eine Kollektivdisziplin sollten hergestellt werden (33 f.). Fressoz beschreibt, wie nach 1800 die “ontologische Form der modernen Enthemmung” einsetzte (la forme ontologique de la désinhibition moderne, 330). Ontologie ist die Lehre vom Sein; durch ontologische Dispositive wurde also die Realität der Impfung per Definition “wissenschaftlich” festgelegt. Das geschah anhand der propagandistischen Experimente (99 f.). Zudem entwickelten die Mediziner damals die Nosologie – die klinische Beschreibung von Krankheitsbildern (104, 329). Diese Beschreibungen – in diesem Fall der Inokulationswirkungen – zielten darauf, die Inokulationen immer schon positiv im Hinblick auf den technologischen Imperativ zu interpretieren.

Der klinische Blick

Bis dahin hatte man sich kaum mit Krankheitssymptomen beschäftigt, denn man wollte nicht, wie es im französischen Sprichwort heißt, “die Beute für ihren Schatten hergeben” – lâcher la proie pour l’ombre, nur weil einem der Schatten eindrucksvoller und realer erscheint. Nun aber ging es darum, das Publikum von der effektiven Immunisierungswirkung der Kuhpockenimpfung zu überzeugen. Dazu wollte man Symptome von Impfwirkungen und von Erkrankungen deuten und unterscheiden können, mit der Frage: Worauf lässt die jeweilige Pustelbildung schließen?

Mit großem Aufwand wurden – in der Zusammenarbeit von Medizinern und Graphikern – bildliche Darstellungen von der Impfpustel angefertigt, auf deren Grundlage das Impfkomitee festlegte (instaure), wie sie typischerweise aussieht: in Farbe, Größe, Form, Konsistenz, Elastizität, Relief, Induration (Verhärtung), und zwar über die verschiedenen Phasen der Pustelbildung hinweg. Auch diese Forschungsmethode war, wie das Experiment, im historischen Kontext eine propagandistische Methode zur Überzeugung des Publikums. Die klare Sprache der graphischen Darstellung war vielversprechender als lange medizinische Ausführungen über Qualität, Beschaffenheit und Wirksamkeit eines guten Impfstoffs und seiner professionellen Anwendung (106-109).

Im Zentrum von medizinischer Herrschaft und biopouvoir

Durch die Bilder und ihre Kombination mit neuen Wörtern der Beschreibung wurde die Sicht auf die Impfungen radikal verändert. Mit ihnen, so Fressoz, gelangt man zum Kern der damaligen “medizinischen Macht” (au cœur du pouvoir médical; 110). Denn Realität konnte mit diesen Darstellungen nicht abgebildet werden: Medizinische Symptome unterliegen nicht unabänderlichen naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern ändern sich von Fall zu Fall. Die meisten Ärzte waren es gewohnt, die Fallverschiedenheit der Symptome wahrzunehmen und ernstzunehmen. Sie machten sich über diese Methode der graphischen Stilisierung und Typisierung regelrecht lustig. Sie sahen, dass damit eine autoritäre Festlegung der körperlichen Reaktionsmerkmale beabsichtigt war, als direktes Resultat der Machtkämpfe zwischen den inokulations-politischen Parteien (110-115). Zudem passierte Folgendes:

Man kannte Menschen, die doppelt inokuliert waren (Kuhpocken + Pocken), aber trotzdem erkrankten. Deren Erkrankung wurde nun anhand der Symptome akribisch beschrieben. Aus der Sicht der Propagandisten und zur Ehre der neuen Kuhpockenimpfung sollte es sich bei dieser Erkrankung selbstverständlich nicht um die Pocken handeln. Edward Jenner (der das Kuhpocken-Vakzin erfunden hatte), erkannte also darin eine dritte Krankheit, deren Symptome denen der Kuhpocken ähneln (und die ebenfalls von Kühen auf Menschen übertragen wird), die auch ähnlich verläuft, die aber nicht gegen Pocken immunisiert. Jenner nannte sie Windpocken (112). Für die Impfkritiker war das nur eine plumpe Ausrede (un subterfuge grossier, 105).

Ästhetische Schwärmerei

Die Machtmethode bestand vor allem in einer Überhöhung und Entkopplung der Wahrnehmung. Der klinische Blick und die aus ihm hergeleitete Kunst der typisierenden Graphik machten etwas Neues aus der Inokulation: Sie wurde von allen Zufällen und Einzelheiten gereinigt und dadurch gegen Kritik abgeschirmt. Die Befürworter gerieten regelrecht in einen ästhetischen Rausch; sie schwärmten bspw. von einem wunderschönen jungen Mädchen, das eine wunderschöne Pustelbildung gezeigt habe. Sie gingen so weit, die Pustel nicht mehr als Zeichen der Inokulation wahrzunehmen, sondern als die Impfung selbst: Diese typische Pustel – das war die Impfung! (Elle est la vaccine! 106). Dazwischen gab es nichts mehr, was man noch hätte kritisieren können, selbst wenn die Patientin schließlich doch zu Schaden kam. Diese klinische Arbeit wurde seit den Pockenausbrüchen um 1810 praktisch angewendet, ab 1830 entstanden die ersten Atlanten der Pathologie, und um 1840 galt die Arbeit der Beschreibung als abgeschlossen (106 f., 111, 116).

Produktion angstlösenden, enthemmenden Wissens

Die Gelehrten erwiesen sich demnach für die staatliche Politik des biopouvoir als außerordentlich nützlich (335). Denn die von ihnen bereitgestellten Realitätsfestlegungen haben die Gewalt der Herrschaft über die Waisenkinder, Kinder und Familien “mit Schweigen bedeckt” (331). Dem modernen Staat war nie daran gelegen, die durch Innovationen ausgelösten Konflikte zu thematisieren, zu diskutieren und dadurch aufzulösen, sondern immer nur darum, sie in den “richtigen” Rahmen zu setzen. Die Gelehrten dienten ihm dazu, diejenige Denkordnung (l’ordre cognitif) festzulegen, in der diese Konflikte für die Entfesselung von technologischer Innovation und biopouvoir selbst würden nützlich werden können (338). So wurde eine Berufsgruppe geschaffen, der das Urteil über die medizinischen Eingriffe komplett übertragen wurde (105). Allgemeines und ärztliches Erfahrungswissen, Öffentlichkeit und Kritik wurden ausgeschaltet.

Fressoz verallgemeinert: Entfesselungsdispositive zielen nicht auf den Mut der Menschen zum technischen Fortschritt. Sie schaffen Denk- und Wissensordnungen, die die Menschen beruhigen und ihnen die Angst vor der neuen Technologie nehmen: enthemmende, “angstlösende Ontologien” (ontologies anxiolytiques, 331). Im Zuge dessen bekamen die Gelehrten die Aufgabe zu definieren, was gewusst werden kann, muss, darf (ce qui est connaissable, 110), in Abgrenzung von dem, was man nur spontan fühlen oder nur zufällig aufschnappen und nachplappern kann usw.

Man meint, solch spezifisches Wissen wie das über die Pockenimpfung gehöre primär in eine wissenschaftliche Disziplin (oder jedenfalls in ein Metier, einen Fachbereich usw.) und würde erst im Nachhinein – je nach öffentlichem Interesse – weiter verbreitet. Doch das Wissen über die neuen Kuhpocken-Vakzine, so muss man Fressoz verstehen, war schon immer nur absichtsvoll veröffentlichtes Wissen. Gültiges, “wissenschaftliches” Wissen war das, was verbreitet und verwaltet, dessen Verbreitung verwaltet und dessen Verwaltung verbreitet wurde (121).

Zensur durch regionale Impfkomitees

Durch die nach 1800 vorangetriebene Zentralisierung der staatlichen Verwaltung wurde die öffentliche Verbreitung dessen, was als herrschendes Wissen gelten sollte, effektiv geregelt. Das Impfkomitee riss die Kontrolle dieses Herrschaftswissens an sich. Seine Mitglieder wurden von der staatlichen Verwaltung bezahlt, es stellte die für die Waisenhäuser zuständigen Ärzte und übernahm die Zensur in der allgemeinen Presse: Während um 1802/03 noch Berichte über Impfunfälle erschienen, wurden solche impfkritischen Beiträge ab 1804 zensiert. Jeder Artikel zum Thema musste ab sofort vom Impfkomitee zur Publikation erst zugelassen werden. Zu diesem Zweck wurde, im selben Jahr, in jedem französischen Departement ein Ableger des nationalen Komitees eingerichtet (116 f.).

Neuentdeckung des Risikodispositivs durch zentrale Datensammlung und Statistik

Zu Experiment, Klinik und aktiver Zensur von oben kam noch die staatliche Statistik hinzu: Durch sie wurden Risikodenken und Wahrscheinlichkeitsrechnung zum politischen Machtdispositiv ausgebaut (117). Die zentralistische Verwaltung führte zu einer perfektionierten Datensammlung, aber nicht in dem Sinne, dass Daten dadurch objektiv erhoben worden wären, sondern durch ihre statistisch-propagandistische Reinigung. Innenminister Chaptal meinte: Jedes Jahr eine fallende Mortalität bei Pockenerkrankungen zu dokumentieren, das müsse doch das Publikum überzeugen. Seine Behörden gaben also vor, mit ihrem zentralen Überblick über die Datenlage mehr zu sehen und zu wissen. Doch sie sahen nur, was sie sehen wollten (121):

Denn in der pyramidalen Behördenarchitektur der Rathäuser und regionalen Impfkomitees wurden die Unfallberichte von unten nach oben gefiltert. Unfälle wurden nicht gemeldet, nur die blanke Zahl der Geimpften. Je mehr Instanzen die Berichte durchliefen, desto “besser” wurde gefiltert. Es herrschte die Selbstzensur, weil um diese Zeit bereits die Meinung regierte, die Impfung sei völlig harmlos. Auch die Inokulatoren berichteten nicht gern über Unfälle: Sie selbst müssten dann ja etwas grob falsch gemacht haben. Als 1820 in den Alpen bei einer durch eine Impfkampagne ausgelösten Epidemie 40 Menschen starben, beschuldigte der zuständige Arzt die Inokulatoren, Vakzination und Inokulation miteinander verwechselt zu haben (119 f.).

Wunderheilungen – durch Impfung oder Impfpropaganda?

Bei den Inokulatoren handelte es sich sowieso meistens um schlecht bezahlte Gesundheitsbeamte, die kein Interesse daran hatten, Zwischenfälle zu dokumentieren. Im Gegenteil: Sie erlagen dem Gedanken, für die Grande Nation etwas Gutes zu tun, indem sie “Details” verschwiegen (120), die ihnen in diesem bedeutungsschweren Licht nur nebensächlich erscheinen mussten. Der symbolische Gewinn glich den Mangel an finanziellem offensichtlich aus.

Während also Zwischenfälle verschwiegen wurden, auch wenn bspw. Babies starben (118), wurden diejenigen Fälle mit Sicherheit berichtet, wo im Zuge der Impfung Krankheiten verschwanden: Skrofeln, Flechten, Krätze, Epilepsie … 1807 fragte das Nationale Impfkomitee aktiv nach solchen Wunderheilungen.Daraufhin berichteten die Inokulatoren und Ärzte zahlreich, auch wenn sie dabei zu bedenken gaben, dass sie von einer Kausalverbindung persönlich gar nicht überzeugt waren (121). Der Impfung wurden daraufhin ganz neue Fähigkeiten zugeschrieben.

Immunisierung gegen Kritik

Zentral verwaltete Statistik und Klinik waren also – in Verbindung mit staatlicher Zensur und Selbstzensur – die Mittel, die Impfung gegen Kritik zu immunisieren und das Herrschaftswissen über sie ein für allemal zu definieren. Auch die Statistik diente nicht primär der Erkenntnis, sondern dazu, der Öffentlichkeit zu zeigen, was ihr gezeigt werden sollte (als mise en évidence), und um zu Werbezwecken diejenigen Zahlen an die Rathäuser pinnen zu können, die dem Staat genehm waren (117). Die wenigen Unfälle, die am Ende der Kette doch nach oben gemeldet worden waren, wurden öffentlich gegen die Hunderttausend erfolgreichen Operationen gesetzt. Sie konnten dem guten Ruf der Impfungen nicht mehr schaden (122). Sie sind auch keine Grundlage für eine seriöse Geschichte der erlittenen Impfschäden. Die toten Kinder bleiben ungezählt. Und erst 1864 gestand die Medizinische Akademie ein, dass durch Impfungen die Syphilis übertragen werden kann. Sie tat das nicht auf Betreiben derjenigen Ärzte, die impften, sondern derer, die die Syphilis behandelten und erforschten, ganz am Rande des biopolitisch-wissenschaftlichen Spektakels.

Kohärente Problembegradigung gespaltene Öffentlichkeit

Unter Rückgriff auf die metaphysische Figur der Gegenüberstellung von Essenz und Akzidenz, die ebenfalls (wie das Ordo-Denken am Beginn der Impfgeschichte) mindestens bis ins Mittelalter zurückreicht, wurde behauptet, man könne im Allgemeinen nichts Wesentliches gegen die Impfung sagen (122): Als Inbegriff der Impfung galt nicht eine Gesamtschau ihrer (erwünschten und unerwünschten) Wirkungen, sondern diejenige Teilmenge dieser Wirkungen, die eine größere Kohärenz aufzuweisen schien, weil sie von den Impfpropagandisten mit ihren Machtdispositiven eine größere Kohärenz ausgearbeitet bekam: Ein kohärenter, unbestreitbarer Nutzen wurde zum Wesen und ultimativen Wissen der Impfung erklärt.

Das letzte und wichtigste biopolitische Dispositiv – außer öffentlichem Experiment, Statistik, Klinik, zentraler Datensammlung und Verwaltung, Risikoberechnung, Zensur und Autozensur – war aber vielleicht die gesellschaftliche Spaltung. Man trennte die Ärzte und Mediziner von ihren Patienten und der Öffentlichkeit. Anders als noch im 18. Jahrhundert nahmen die Ärzte ihre Patienten nun anders wahr: nicht mehr als Quelle für Information und Mitarbeit, die man als Arzt manchmal auch überzeugen muss, sondern als träge Masse, die durch gelehrte und staatliche Autorität unterworfen werden muss, weil sie inkompetent ist in der Frage ihrer eigenen Gesundheit. Nicht zufällig entwickelten Ärzte damals (in der Dekade ab 1810) die neue Textgattung der “Populären Irrtümer und Vorurteile”. Hier bekommt die Diskursgeschichte der biopolitischen Entfesselung der Impftechnologie ein unrühmliches Ende (124).

Ausblick: Das Pandemie-Dispositiv heute

Dieses Ende ist freilich nur vorläufig, nicht allein, weil 1902 in Frankreich die Pflicht zur Pockenimpfung doch eingeführt wurde. Die Geschichte des enthemmten staatlichen Zugriffs auf menschliche Körper mit Hilfe von Medizinern und Wissenschaftlern durchlief im 19. und 20. Jahrhundert viele Stationen. Seit dem Jahr 2020 geht sie in eine neue Phase – wegen der neuen mRNA-Stoffe und auch wegen des allgegenwärtigen Fangwortes Pandemie. Mit ihm kam, ähnlich wie im 18. Jahrhundert mit dem des Risikos, ein neues Dispositiv des biopouvoir zur Anwendung – ein kleines Wort wie ein Spinnenfaden im Machtgetriebe. Eine neue Agenda der biopolitischen Beherrschung der Bevölkerung ist entfesselt worden, gleichzeitig mit der Entfesselung hochriskanter Technologien in einer weltweiten Pandemie-Industrie der Herstellung und Vermarktung bislang unverstandener “Impfstoffe”, der fortschreitenden und zunehmend erzwungenen Digitalisierung aller Lebensbereiche und der Kontrolloptimierung durch finanziell und personell hochgerüstete Thinktanks für Medien-, Meinungs-, Wissensmanipulation.

Pandemisches Wissen wird produziert nach den Imperativen 1. des Katastrophismus und 2. des technologiegläubigen Solutionismus: Übereinstimmend mit dem Bewusstwerdungspathos im “Anthropozän” soll man sich 1. bewusst werden, welcher allergrößte Unglücksfall für die ganze Welt und Weltbevölkerung mit Sicherheit in Kürze eintreten muss. Und 2. soll man – ohne allgemeine oder gar individuelle Risikoabwägung – alles technisch Mögliche tun, das gegen dieses eine große, weltumspannende Unglück vielleicht getan werden kann. Was nicht in diese angeblich wissenschaftliche, katastrophistische und solutionistische “Wissens”-Struktur und Kohärenzbildung hineinpasst, das wird nicht erfragt, bleibt ungewusst, nicht wissenswert. Oder es wird als Fake News und Verschwörungstheorie, sogar als staatsgefährdend verleumdet – was weder vom wissenschaftlichen noch demokratischen Standpunkt aus gesehen, aber doch von dem des autoritären biopouvoir durchaus folgerichtig ist.

Ob sich wohl die kritische Öffentlichkeit, anders als die aufgeklärte Salon-Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, langfristig gegen diese kohärente Unwissensproduktion wird zur Wehr setzen können?

Viel wird von den Ärzten abhängen und davon, ob sie mit ihren Patienten respektvoll, mit medial hofierten Experten und entfesselten Ministern hingegen kritisch umgehen. “Die Mediziner werden, wenn sie ihren Werten treu bleiben wollen, kämpfen müssen wie die Arbeiter zur Zeit der Industrialisierung” (Sadin 2021, 116). Es ist zu hoffen, dass das nicht erst zukünftige Historiker im Rückblick auf unsere Gegenwart verstehen.

Literatur

Arnold, Guido (2021): Solutionistisches Bevölkerungsmanagement. Programmatische Ungleichbehandlung durch BigData und Künstliche Intelligenz. In: kultuRRevolution (kRR). herausgegeben von jürgen link und rolf parr in zusammenarbeit mit der diskurswerkstatt bochum (2/2021). Essen (k-west verlag). 31-36.

Bührmann, Andrea D./ Werner Schneider (2008): Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld (Transcript).

Fressoz, Jean-Baptiste (2012/2020): L’apocalypse joyeuse. Une histoire du risque technologique. Postface inédite 2020. Paris (Éditions du Seuil).

Fressoz, Jean-Baptiste (2022): Prise de conscience. Une incantation au service des pollueurs? In: Greenwashing. Manuel pour dépolluer le débat public. Sous la direction d’Aurélie Berlan. Guillaume Carbou et Laure Teulières. Paris (Éditions du Seuil). 183-190.

Larrère, Catherine et Raphaël (2020): Le pire n’est pas certain. Essai sur l’aveuglement catastrophiste. Paris (Premier Parallèle).

Leyhausen-Seibert, Katja (2022): Was kann die STIKO? Medizin, Magie und Politik der in der COVID-19-Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige. In: kultuRRevolution (kRR). herausgegeben von jürgen link und rolf parr in zusammenarbeit mit der diskurswerkstatt bochum (1/2022). Essen (k-west verlag). 56-61.

Morin, Edgar (2016/2020): Pour une crisologie (2016). In: Ders.: Sur la crise. “Pour une crisologie” suivie de “Où va le monde?” (2020). Paris (Flammarion). 9-55.

Sadin, Éric (2021): L’intelligence artificielle ou l’enjeu du siècle. Anatomie d’un antihumanisme radical. Paris (Éditions L’échappée).

Wehling, Peter (2006): Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens. Konstanz (UVK).

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