Entfesselt! – Eine Diskursgeschichte des Impfens (1v3)

ein Beitrag von Katja Leyhausen

Lesedauer 6 Minuten

1bis19 - Entfesselt! – Eine Diskursgeschichte des Impfens (1v3)
Der Entfesselungskünstler Harry Houdini (1920)

Teil 1v3: Geschichtliche Voraussetzungen

Der entfesselte Minister

Am Beginn seiner Werbekampagne für das neue IfSG, das seit Oktober in Deutschland den gesellschaftlichen Ausnahmezustand verstetigt, twitterte, am 18. Juli 2022, der bundesweite Haupt-Minister für Gesundheit, Krankheit, Kliniksterben und Pharma-Einkauf: “Corona bleibt eine große Gefahr für die Gesundheit der Bürger und die kritische Infrastruktur. Mit dem Gasmangel eine schwierige Lage. Die Bundesländer müssen bei den Schutzmaßnahmen entfesselt werden”. Niemand wundert sich mehr darüber, dass der hoheitliche Minister einen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen seinen vielen Reizwörtern und dem Ruf nach sogenannten Schutzmaßnahmen schuldig blieb (Infektionsschutz gegen Gasmangel?). Doch wie kommt er auf die skurrile Dringlichkeit, eine staatliche Instanz – dieses Mal die Bundesländer – müsse “entfesselt werden”?

Sicher dachte der Minister dabei nicht an den neurowissenschaftlichen Begriff der Entfesselung bzw. Enthemmung oder (fachsprachlich) Desinhibition (vom Lateinischen inhibere). Der wird fachlich definiert als “ein Prinzip der Aktivierung von Neuronen oder Neuronengruppen durch Wegfall der Hemmung oder Hemmung von hemmenden (inhibitorischen) Eingängen” und kann allgemeinsprachlich erläutert werden durch Wörterbuchbeispiele wie: Seine Enthemmung kommt vom Alkoholmissbrauch (sa désinhibition est due à un abus d’alcool). Vielleicht überwältigte den Minister bei seiner Ankündigung einer erneuten Entfesselung gewaltsamer Obrigkeitspolitik mittels riskanter Medizin- und Sozialtechnologien die große geschichtliche Aufgabe.

Eine Geschichte der Entfesselung von Technologie und biopouvoir

Denn auch die Geschichte der modernen Technologien, ihrer Risiken und des Umgangs mit ihnen kennt den Begriff der Entfesselung/désinhibition. Der französische Historiker Jean-Baptiste Fressoz hat nach 10-jähriger Bibliotheks- und Archivarbeit im Jahre 2012 unter dem Titel “Die fröhliche Apokalypse” ein Buch über die Geschichte des Impfens und der chemischen Industrie in Frankreich veröffentlicht (2020 neu mit einem neuen Nachwort des Autors). Das Buch ist eine Diskursgeschichte des biopouvoir im französischen Staat: Technologische Risiken sind immer in Einheit mit staatlicher Gewalt gegen die Bevölkerung entfesselt worden. Anstatt den Einsatz neuer und riskanter Technologien abzuwägen, maßten sich staatliche Institutionen an, die durch diese Technologien verursachten individuellen Lebensrisiken zum Zwecke ihrer eigenen Herrschaftssicherung auszunutzen.

Ins Deutsche wurde diese besondere Geschichte Frankreichs bislang nicht übersetzt. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet nur den Namen des Autors, keine seiner Schriften. (Das gilt für viele zeitgenössische, unübersetzte französische Wissenschaftler: Was nicht im US-amerikanischen Wissenschafts-Mainstream ins Englische übersetzt wird, wird meistens auch nicht ins Deutsche übersetzt. Die europäischen Nachbarn brauchen in der Regel die anglo-amerikanische Vermittlung). Als Anti-Vaxxer (französisch antivax) oder irgendeine andere Phantasiefigur aus dem üblichen Verleumdungsvokabular für Technologie- und Regierungskritiker ist der Historiker in den französischen Medien nicht aufgegriffen worden. Denn seiner Sachkunde müsste etwas Sachliches entgegengesetzt werden.

Die gesellschaftliche Bewusstwerdung technischer Risiken ist nur ein Klischee

Die These lautet folgendermaßen: Angeblich leben wir seit dem Meadows-Bericht des Club of Rome 1972 und – mit einem jeweils neuen Schub – seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 bzw. der UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 (wie seit Neuestem durch die global breit beworbene Pandemie) in einer Phase gesellschaftlicher Bewusstwerdung/prise de conscience. Endlich würden Politik, Gesellschaft und Individuen ein strenges Vorsorgeprinzip verwirklichen (principe de précaution/precautionary principle). Mit dieser Vorstellung einer Epoche machenden Zäsur räumt Fressoz auf:

Er zeigt, dass seit dem Aufschwung der Technik zu Beginn des 18. Jahrhunderts einerseits die von diesem Fortschritt selbst verursachten Risiken (wie heute) immer schon mitbedacht wurden, dass diese Reflexion aber andererseits (wie heute) die Entfesselung von Technologie und biopouvoir höchstens verzögert, nie verhindert hat. Absichten von Umwelt- und Ressourcenschutz gab es ebenfalls schon damals: Bereits zu Zeiten der ersten Industrialisierung waren die Akteure überzeugt, dass sie mit der Kohleenergie die Wälder und Holzressourcen schonen, dass sie gewissermaßen aus der organischen Energie aussteigen (Fressoz 2012/2020, 352; 357).

Die Vorstellung einer plötzlichen, selbstreflexiven Bewusstwerdung der menschlichen Zerstörungspotenz – die mit Anthropozän sogar eine eigene Epochenbezeichnung bekommen hat – ist nur eine chronozentrische Eitelkeit der Gegenwart. Es ist ja bekannt, dass wir durch den Raum reisen wie nichts und wir uns auf diese Weltläufigkeit viel einbilden, dass wir uns aber Reisen durch die Zeit ersparen, weil uns die Lufthansa für das mühsame Verstehen alter Bücher und Folianten keinen Liegesitz bereitstellt. Da war es für Meinungsmacher einfach, unter dem Aufsehen erregenden Schlagwort des Anthropozäns mit großem Erneuerungspathos dem selbstbewussten Publikum einzureden, es sei Zeuge und aktiver Zeitgenosse einer “kosmologischen Revolution” (354).

Wohlstands- und Risikoverteilung im Ausnahmezustand

Bis heute bleibt für den Historiker die gleiche Frage: Wie kam es, dass riskante Technologien trotz aller Bedenken und gegen den Einfluss wichtiger sozialer Kräfte dennoch installiert wurden (130 f.; 353)? Entfesselung/désinhibition heißt bei ihm, dass Kritik an der Technik durch staatliches Handeln neutralisiert und ausgeschaltet wurde. Der moderne, von Fressoz “liberal” genannte Staat, beruht (in Frankreich) seit 1800 auf den Wohlstandsversprechen der Technik und Technologien: Nie waren sie für seine Politik verhandel- oder gar verzichtbar. Immanuel Kant hatte gesehen, dass der materielle Wohlstand sozialen Frieden schafft; und den Wohlstand zu sichern, das war die Funktion der Technik. So wurde sie zur Staatsräson des modernen, nachaufklärerischen Liberalismus (332).

Trotzdem war das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der staatlich vorangetriebenen Industrialisierung permanent im Ausnahmezustand (état d’exception), weil durch sie nicht nur Wohlstand, sondern auch Risiken produziert wurden. Der politische Charakter technischer Innovationen besteht prinzipiell nicht darin, dass sie sachliche öffentliche Debatten auslösen würden, sondern darin,dass sie die Gesellschaft polarisieren und in Gewinner und Verlierer aufteilen. Es war schon damals üblich, dass Diskussionen immer erst dann stattfanden, wenn das Schlimmste bereits passiert war, und vor allem: wenn sich die Technologie bereits etabliert, wenn sie sich als Herrschaftsinstrument durchgesetzt und sich der von der Innovation ausgelöste Ausnahmezustand bereits verstetigt hatte. Innovationen können per Definition nicht unter vorherige Normen subsumiert werden. Sie schaffen immer eine Situation, in der die hergebrachten Normen von Gesundheit, Eigentum, Umwelt sowie die übliche Verteilung der Verantwortung außer Kraft gesetzt sind. Während also der liberale, technikabhängige Wohlfahrtsstaat einerseits materiellen Wohlstand verteilt, verteilt er andererseits die Risiken dieser Politik (332 f.).

Dispositive der staatlichen Herrschaft

Die Verfahren der Desinhibition von Herrschaft mittels Technik nennt Fressoz – mit einem Wort der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse – Dispositive der Gesellschaftssteuerung. Das Wort kann man am besten mit der kybernetischen Sichtweise verstehen. Hier ist ein Dispositiv eine minimale technische Vorrichtung, die ein System am Laufen hält, weil sie in der Lage ist, in kritischen Momenten per Rückkopplung einen Ausgleich zu schaffen. Die Metapher wurde auf soziale Systeme angewendet mit der Idee, dass Dispositive auch hier Schwachstellen, Fehler, Aussetzer integrieren, ausgleichen und sich durch sie das System fortlaufend selbst reorganisiert (Morin 2016/2020, 40 f.). Foucault nennt das Dispositiv “einen Problemlösungsoperator”, der einen Effekt auf geltende Machtverhältnisse hat und zugleich selbst ein Effekt dieser Verhältnisse ist (Bührmann 2008, 53). Fressoz betont die Unauffälligkeit bzw. Kleinheit (petitesse) dieser Machtmechanismen (353), die wie Seidenfädchen in einem großen Getriebe fast nicht wahrnehmbar (86) sind – und genau deswegen den Gegenstand kritischer historischer Diskursanalysen bilden.

Staatliche Gewalt und soft power

Dispositive gehören in den Bereich des pouvoir doux (soft power) – der scheinbar milden Herrschaft durch freundliche Oberfläche: Während der Staat bei Schutzlosen zu blanker Herrschaft und roher staatlicher Gewalt greift (zum pouvoir nu), ging es ihm (besonders seit 1800) darum, durch kleine diskursive Praktiken die individuellen Wahrnehmungen einzufangen, sie zusammen mit den menschlichen Verhaltensweisen in eine Richtung zu lenken und auf Linie zu bringen (capter, orienter, aligner) – immer zugunsten der technischen Innovation und des biopolitischen Durchgriffs. Das gilt bis heute: Die Rede von der ökologischen Bewusstwerdung im Anthropozän ist nicht nur naiv, großsprecherisch und geschichtsvergessen (naïf, grandiloquent, antihistorique, 345, 352). Sie ist selbst ein Dispositiv der manipulativen Macht und zudem – über die dadurch erreichte Zustimmung zur Externalisierung und Verlagerung der Nachteile, Schäden und Risiken auf Schwächere – auch ein Instrument der rohen Gewalt. Die heutigen Wissenschaften gehören in diesen Kontext. Mehr denn je sind sie von finanziellen und materiellen Interessen gelenkt (Fressoz meint: seit den 1980er Jahren; die umstrittenen Bio- und Nanotechnologien werden extra von ihm erwähnt; 344 f.). Die modernen Gesellschaften sind nicht reflexiv geworden.

Insofern ist diese besondere Geschichte des Impfens als Kritik des Impfdiskurses zwischen Medizin, Politik und Öffentlichkeit keine Erfolgsgeschichte, sondern eben die Geschichte einer “Fröhlichen Apokalypse”. Fressoz beleuchtet ihre unbeleuchtete dunkle Seite.

Zäsuren in der Geschichte der Impf-Entfesselung

Der Historiker analysiert die folgenden Dispositive der désinhibition:

  • in der Zeit des Rationalismus (erste Hälfte 18. Jh.) besonders die neue Mode der Wahrscheinlichkeitsrechnung (aufgekommen in der Dekade ab 1660, Wehling 2006, 14), die aber zunächst an der kritischen Öffentlichkeit von Sensualismus und Empfindsamkeit scheiterte
  • den Ersatz der ärztlichen Autorität und kritischen Öffentlichkeit durch staatsnahe Experten seit der Zeit um den Siebenjährigen Krieg herum (1756-1763)
  • nach der Französischen Revolution, der Erfindung der Kuhpockenimpfung 1796/1798 und der philanthropischen Gründung des Nationalen Impfkomitees im Jahre 1800 die neuen klinisch-stilisierenden Symptombeschreibungen sowie die zentralisierten und zensierten Datensammlungen, welche staatlich vorangetrieben wurden mit dem nationalistischen Argument, Frankreich brauche im Kampf gegen die europäische Koalition eine gesunde, medizinisch optimierte Bevölkerung
  • zugleich die neuen, nämlich medizinischen Anwendungen des eigentlich der Physik vorbehaltenen Experiments, obwohl medizinische Kausalitäten fallbezogen und bei weitem nicht so verallgemeinerbar sind wie in der Physik.

Kontinuierlich wurden dabei – aus politischer Motivation – Unwissen und Ignoranz wie Wissen mitproduziert (l’ignorance comme le savoir se produit, 118 f.). Im Namen von Wissenschaft und Fortschritt wurde der soziale Raum immer mehr gespalten, besonders das Verhältnis von Arzt und Patient.

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