Die Inflation belebt das deutsche Trauma von 1922/23

ein Beitrag von Eugen Zentner

Lesedauer 6 Minuten

Fünf Billionen Mark (1923)

Die Inflation in Deutschland liegt mittlerweile bei über sieben Prozent. Das ist die höchste Rate seit 40 Jahren. Wer im Supermarkt einkauft, kann das mit den eigenen Augen sehen. Die Lebensmittelpreise schießen in die Höhe – genauso wie die Energiekosten. An den Tanksäulen sind mittlerweile horrende Summen zu entrichten. Wie hoch die Preise in den nächsten Wochen und Monaten weiter steigen, lässt sich nur schwer sagen. Der Bankenverband geht davon aus, dass der Trend sich fortsetzen und möglicherweise an Intensität gewinnen werde. Ein wenig erinnert die Situation an die Jahre nach dem ersten Weltkrieg, als die Inflation zunächst zu traben und ab 1922 zu galoppieren begann.

Wie damals lässt sich auch heute eine gesellschaftspolitische Polarisierung feststellen. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen schwindet kontinuierlich. Eine Krise jagt die nächste. Es ist eine soziale Unruhe zu verspüren, die sich in Protesten und Kämpfen unterschiedlicher Lager zeigt, weniger auf den Straßen, dafür umso mehr in den sozialen Medien. Überschneidungen in wirtschaftlicher Hinsicht findet man vor allem in der exorbitanten Staatsverschuldung. Was hat die Bundesregierung nicht alles unternommen, um in der Corona-Krise die vielen Löcher zu stopfen. Was hat sie nicht ausgegeben, um die extremen Ausfälle zu kompensieren. Ein Hilfsprogramm wurde nach dem anderen geschnürt. Wie hoch die Staatsausgaben tatsächlich ausfielen und immer noch ausfallen, wird niemand ganz genau sagen können. Die Summe liegt im mehrstelligen Milliardenbereich und übersteigt ohnehin die Vorstellungskraft.

Deutsches Trauma Hyperinflation 1922/1923

Die immense Staatsverschuldung war auch eines der Probleme der jungen Weimarer Republik, als diese zu Anfang der 1920er-Jahre von einer unkontrollierten Inflation überrascht wurde. Doch das waren bereits die Symptome einer verfehlten Fiskalpolitik, die bereits wenige Jahre vorher im Deutschen Kaiserreich begann. Dieses gab eine Anleihe nach der anderen aus, allerdings nicht um ein als bedrohlich propagiertes Virus zu bekämpfen, sondern um den 1. Weltkrieg zu finanzieren. Staatsverschuldung stelle jedoch nur einen der Faktoren dar, die einen massiven Anstieg des Preisniveaus begünstigen, schreibt der Fondsmanager Georg von Wallwitz in seinem im vergangenen Herbst erschienenen Buch «Die große Inflation», in dem er die ökonomischen Hintergründe der damaligen Geldentwertung beleuchtet. Sie sei vor allem weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Das gelte auch für eine stark ausgeweitete Geldmenge, die es natürlich auch am Vorabend der Hyperinflation 1922/23 gab, als sich der Staat mithilfe der Reichsbank die nötigen Liquiditätsmittel beschaffte – per Druckerpresse.

Die Erfahrungen des Totalverlusts sind im historischen Gedächtnis Deutschlands noch immer präsent. Es ist ein kollektives Trauma, dessen Ausprägungen aktuell wieder ins Bewusstsein emporsteigen, da die Inflation so rasant anzieht und die Ersparnisse schmelzen. Eine Inflation, die künftig auf uns zukommen könnte, hätte dennoch keine große Ähnlichkeit mit der Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg, ist von Wallwitz überzeugt: „Eine Reihe der damals wichtigen Treiber fehlt heute.“ Zu ihnen gehörten unter anderem die im Vergleich zu heute sehr schwachen staatlichen Institutionen, die nur dürftig funktionierten. Besonders auffällig war das in der Steuerverwaltung. Es fehlten nicht nur die dafür notwendigen Strukturen, das Reichsfinanzministerium machte auch taktische Fehler. Deutschland sei in der Nachkriegszeit nach heutigen Standards eine Steueroase gewesen, schreibt von Wallwitz. Wer Geld hatte, konnte es leicht vor dem Zugriff des Staates retten.

Ein weiterer Treiber der Inflation waren die Reparationszahlungen an die Siegermächte, die mit ihren Forderungen über alle Stränge schlugen und so die deutsche Wirtschaft extrem schwächten. Ein Großteil der Einnahmen musste an sie weitergeleitet werden, womit sich die Staatskasse erst gar nicht füllen konnte. Diese Faktoren fehlen heute völlig. Deswegen, schlussfolgert von Wallwitz, werde die nächste Inflation aus einer Richtung kommen, „aus der sie niemand erwartet, und vielleicht erst zu einem Zeitpunkt, da kaum noch jemand einen Begriff von ihr hat“. Im Frühling 2022 dürften die Menschen eine gut ausgeprägte Vorstellung davon haben, was eine Inflation ist. Aber sie kommt tatsächlich aus einer anderen Richtung, zumindest teilweise – und auf jeden Fall überraschend, wenn man sich in die Zeit kurz vor Beginn der Corona-Politik versetzt.

Ukrainekonflikt und großer Corona-Geldsegen

Als diese dann begann, hat die Regierung Lieferengpässe bewirkt, indem sie die Lieferketten unterbrach. Mit ihren Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Betriebsschließungen und Berufsverboten wurde das Angebot an Ressourcen, Waren und Dienstleistungen so verknappt, dass die zirkulierende Geldmenge das Angebot bei weitem überstieg. Nicht weniger überraschend kam dann der russische Einmarsch in die Ukraine, auf den der Westen seinerseits mit Sanktionen reagierte. Diese könnten nun Moskau wiederum dazu provozieren, die Öl- und Gaslieferungen einzustellen. Wenn das passiere, befürchten Volkswirte, dürfte die Inflationsrate mit Sicherheit in den zweistelligen Bereich steigen.

Allerdings sei der Krieg nur einer der Gründe, so die Einschätzung des Unternehmensberaters Daniel Stelter, der in einem Beitrag im Handelsblatt einwendete, dass jene Ökonomen, die die Inflation nicht haben kommen sehen, sie nun einfach auf den Ukraine-Konflikt schieben. In seinem Artikel vom 1.4.2022 zielt er vor allem auf die Anhänger des Keynesianismus ab, eines auf den britischen Volkswirten John Maynard Keynes zurückgehendes Theoriegebäude, innerhalb dessen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage im Vordergrund steht. Keynesianer setzen eher auf Fiskalpolitik, um aus Wirtschaftskrisen zu kommen. Die Geldmenge wird für unerheblich gehalten.

Stelter bemängelt diesen Ansatz – gerade in der gegenwärtigen Situation: „Vor allem keynesianisch-orientierte Ökonomen verkennen die Bedeutung des Geldmengenwachstums für die Inflationsentwicklung“, schreibt der Gründer des wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionsforums „beyond the obvious“, der eher als Anhänger des Monetarismus betrachtet werden kann. Beim Monetarismus handelt es sich um eine wirtschaftspolitische Theorie, die auf den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman zurückgeht. Ihr zufolge lässt sich die Inflation allein über die direkte Steuerung der Geldmenge im Zaun halten. Diese wurde in den letzten Jahren aber deutlich erhöht, und zwar gerade dann auch in der Corona-Krise, wie der ehemalige Präsident des ifo-Instituts Hans-Werner Sinn in seiner Weihnachtsvorlesung 2020 erläuterte. Infolge der Lockdowns und Betriebsschließungen seien bei den Unternehmen Umsatzerlöse weggebrochen, sodass die Staaten Steuermittel verloren hätten. Die fehlenden Einnahmen habe man dann teilweise durch Kreditmittel ersetzt. Doch diese seien nicht nur von den Sparern gekommen, sondern in zunehmendem Maß auch aus der Druckerpresse des Eurosystems.

Der Kutscher und die verlorenen Zügel

Das funktioniere zunächst einmal klassisch: Der Staat gibt Anleihen heraus und lässt sie von der Zentralbank kaufen. Insofern, so Sinn, komme auch das Kurzarbeitergeld aus der Druckerpresse, weil die Einnahmen durch Anleihen-Verkäufe an die Betriebe weitergegeben werden. Auf diese Weise habe der Staat während der Corona-Krise alle seine Hilfsprogramme finanziert. Seit Beginn der Maßnahmen sei die Geldmenge somit extrem ausgeweitet worden. Warum gab es dann nicht schon 2020 oder im Jahr darauf eine Inflation, warum spürt man sie erst heute? Sinn erklärt dies mit dem Phänomen der Liquiditätsfalle. Sie stelle vereinfacht ausgedrückt eine Situation dar, in der das Geld trotz dessen Mengenerhöhung nicht in den Kreislauf gelange, weil es über die Ersparnisse in Horten wie Banken, Firmen oder Haushalten lande. Gerade in Phasen geringer oder – wie schon seit geraumer Zeit – negativer Zinsen sei die Bereitschaft groß, die liquiden Mittel liegen zu lassen. Es handelt sich somit um eine widersprüchliche wirtschaftliche Situation: Obwohl die Zinsen niedrig seien, steige die Sparquote.

Dass es bislang keine höhere Inflation gab, liege also an der Liquiditätsfalle, so Sinn. Das viele Geld bleibe in den Horten. Allerdings könne sich das immer ändern, gibt der Wirtschaftswissenschaftler zu bedenken. Um das zu erklären, bemüht er das Bild des Kutschers, der die Zügel nicht finden kann. Diese repräsentieren die Geldpolitik. Man kann sie so lange machen, wie man möchte, die Pferde laufen trotzdem nicht – weil sie müde sind. Man kann mit den Zügeln nur bremsen, aber nicht anschieben. Das gelte auch für die Geldpolitik. Allerdings können sich die Pferde erholen oder das Gelände wird abschüssig, sodass die Tiere wieder zu galoppieren anfangen. Wenn die Zügel aber zu lang gelassen worden sind, hat der Kutscher seine liebe Not, sie wieder einzufangen und anzuziehen. „Also die Inflation wird nicht erzeugt durch die langen Zügel der Geldpolitik“, schlussfolgert Sinn dieser Allegorie gemäß. „Aber wenn sie zu lang sind, kann man auch nicht bremsen.“

Ergebnisse des Staatsinterventionismus

Die Pferde, so lässt sich im Frühling 2022 feststellen, haben sich erholt und legen ein ordentliches Tempo an den Tag. Und es scheint, als würde das zutreffen, was Sinn schon in jener Vorlesung vor knapp anderthalb Jahren vorhersagte. Damals skizzierte er dieses Szenario: „Corona ist überwunden, die Weltwirtschaft zieht allmählich an, die Produktionskapazität ist lädiert, die Ölpreise steigen, und es ergibt sich eine Lohn-Preis-Spirale. Die Inflationserwartungen ändern sich, Konsumgüterkäufe werden vorgezogen, die Inflation beginnt zu traben, und aus dem Trab wird ein Galopp.“

Eine Geldentwertung wie in der Weimarer Republik ist gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Nun rächt sich, wovor die von Friedrich von Hayek gegründete Mont Pèlerin Society nach dem Zweiten Weltkrieg warnte – Staatsinterventionismus, vor der Neigung also, in die Wirtschaft einzugreifen. Hätte der Staat nicht die vielen Rettungsprogramme mithilfe der Druckerpresse aufgelegt, würde der Schaden nicht so groß ausfallen wie gerade zu beobachten. Am besten hätte er erst gar nicht die Corona-Maßnahmen ergriffen, dann müsste er jetzt auch nicht gegensteuern.

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