von Thierry Simonelli
Lesedauer 4 MinutenDie Hand Gottes, oder: „Ich bin der Regulator”!
„Die einfachen Leute dürfen nicht reden“, warnt Jorge von Burgos, der blinde Wächter der Klosterbibliothek in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. Und sie dürfen vor allem auch nicht die falschen Bücher lesen. Die falschen Bücher, so der Bibliothekar Jorge, hätten „den Gedanken rechtfertigen können, die Sprache der einfachen Leute sei Trägerin einer Wahrheit. Das musste verhindert werden, und das habe ich getan. Du sagst, ich sei der Teufel. Du irrst: Ich bin die Hand Gottes gewesen.“ Bis heute ist es notwendig, die guten Bücher und dienlichen Informationen von den gefährlichen zu trennen und diese vom Volk fernzuhalten.
Die Zensur ist wahlweise die Hand Gottes und die seiner Repräsentanten oder die des Staats und seiner Experten. Sie möchten die einfachen Leute vor deren Ignoranz und den daraus resultierenden Unwahrheiten schützen. Zensur ist in dieser Sicht ein politisch wichtiger und ein moralisch wertvoller Akt: Zensur dient dem Gemeinwohl.
Daran erinnerte kürzlich Thierry Breton, der Kommissar des europäischen Binnenmarktes, während eines Interviews auf France Info. Breton, einer der mächtigsten Männer Frankreichs seit den späten 1990er-Jahren, hat kürzlich seine Karriere in Großindustrie und Politik mit der Ernennung zum EU-Kommissar für Binnenmarkt und Industriepolitik in Brüssel fortgesetzt. Seit 2020 widmet er sich hier einer neuen Berufung: „Ich bin der Regulator“, erklärte er in autoritärem Duktus vor den Journalisten des öffentlich-rechtlichen Radios. Nicht nur das französische Publikum fühlte sich an den Sonnenkönig Ludwig XIV. erinnert, der einmal gesagt haben soll: „Der Staat bin ich.”
Bereits im Januar 2022 hatte der Regulator in einer Rede im EU-Parlament versprochen, dass es mit dem „Wilden Westen“ im Internet bald ein Ende haben würde. Damals nahm Breton den Schein-Angriff auf das Capitol in Washington als Beispiel dafür, welche verheerenden Wirkungen unüberwachte und nicht-reglementierte elektronische Plattformen haben können.
Mit einem neuen Plan wollte Breton die EU zum „Maßstab der Demokratien auf der ganzen Welt“ machen. Der große Lümmel des Volkes sollte von politisch kooptierten Regulatoren und deren Wahrheitsexperten zum geordneten Schweigen gebracht werden. Keine politische Freiheit ohne Bevormundung. Und keine politische oder wissenschaftliche Wahrheit ohne Zensur: Die Wunderwaffe Bretons heißt Digital Services Act (DSA). Er soll die digitalen Medien dazu veranlassen, hasserfüllte oder falsche Inhalte „sofort“ zu löschen.
Die Erweiterung der Zensurzone
Im kanonischen Recht des Mittelalters ist die Zensur, so definiert der Historiker Martin Laurent, „jene Gesamtheit von Regeln, Vorschriften, Disziplinen und Zwangsmaßnahmen, mit denen heterodoxes, abweichendes Sprechen oder Denken verhindert und das Monopol der ‚geraden Linie‘ gesichert werden kann.“
Hört man auf den neuen europäischen Regulator, scheint diese Definition erstaunlich zeitgemäß. Denn Zensur ist selbstverständlich immer Zensur der anderen. Auch der DSA dient dem Zweck, diejenigen, die von der „geraden Linie“ der EU oder der nationalen Regierungen abweichen, zum Schweigen zu bringen. Man beachte dabei die regulatorischen Grundfunktionen des DSA: Während seine Vertreter vorwiegend auf der rechtlichen Absicherung des europäischen Marktes insistieren, hat er auch die Funktion der repressiven Krisenbewältigung.
Das Löschen von unerwünschter Information und unzulässigen Gedanken beschränkt sich selbstverständlich nicht auf Hassreden und angebliche „Unwahrheiten“. Und es beschränkt sich nicht auf die sogenannten „sozialen Medien“, mit denen es fast ausschließlich in Verbindung gebracht wird. Die europäischen Zensoren haben viel weiter gedacht als Facebook, Twitter und TikTok. Denn dank des DSA können alle digitalen Medien – auch alle traditionellen Medien, die Inhalte auf dem Internet veröffentlichen – falls gewünscht, sofort zum Schweigen gebracht und europaweit „abgeschaltet“ werden.
„Informationsverschmutzung“
Die Zensurmaßnahmen, betont Breton ausdrücklich in seinem Interview, gelten für jegliche Art von Desinformation, Falschinformation (misinformation) und schädlicher Information (malinformation). Das heißt, sie gelten zugleich für Informationen, die, auch wenn sie nicht hasserfüllt sind oder zur Gewalt aufrufen und gar nicht falsch oder irreführend sind, trotzdem „tatsächliche oder vorhersehbare negative Auswirkungen auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit, von Minderjährigen, des zivilen Diskurses oder Auswirkungen auf Wahlprozesse und die öffentliche Sicherheit“ (DSA, § 57) beinhalten können.
Diese Arten von Informationsstörung bezeichnet die EU-Kommission als „Informationsverschmutzung“ (Wardle & Hossein, 2019). Und der DSA soll der Säuberung und dem Schutz der Information vor dieser Verunreinigung dienen. Damit die Säuberung der digitalen Informationskultur aber nicht den Verschwörungstheorien und propagandistischen Verunreinigungen hinterherlaufen muss, wird Bretons Regulation darüber hinaus ex-ante wirken. Das heißt, die Herausgeber und Verteiler von Inhalten müssen im Voraus, aufgrund von Annahmen und Vorhersagen, auf mögliche falsche Informationen und negative Auswirkungen von richtigen Informationen reagieren.
Damit hat sich der Regulator einen beeindruckenden Handlungsspielraum für seine Zensur zurecht reguliert: Jegliche Information, die er als falsch oder fehlgeleitet ansieht und die seiner Ansicht nach tatsächliche oder vorhersehbare negative Auswirkungen haben könnte, soll nicht nur „äußerst schnell“ eliminiert werden. Viel besser: Breton erwartet von den Herausgebern digitaler Inhalte, dass sie beseitigt wird, noch ehe sie veröffentlicht wird.
Verhinderung von Prä-Verbrechen
Hier fühlt man sich an Philip K. Dicks Science-Fiction-Kurzgeschichte Minoritätsbericht erinnert. John Anderton, der Protagonist von Dicks Kurzgeschichte, arbeitet als Chef der Polizeieinheit des Prä-Verbrechens. Die Einheit besteht aus Personen mit hellseherischen Fähigkeiten, die mithilfe von Drogen Vorhersagen über mögliche Verbrechen und Vergehen treffen. Diese Vorhersagen werden dann von einem Computer auf Überschneidungen und somit auf die beste Wahrscheinlichkeit hin ausgewählt – menschliche Vorahnung und digitale Algorithmen im Dienst der Gefährlichkeitsprognose.
„Wie wir alle wissen“, erklärt der junge Assistent des Polizeikommissars, „war die Bestrafung nie sehr abschreckend und hätte einem bereits toten Opfer wohl kaum Trost spenden können.“ Die Erfolge der vorauseilenden Maßregeln sind frappierend: In der Gesellschaft der Prä-Verbrechens-Polizei gibt es fast keine Verbrechen mehr. Dafür gibt es umso mehr Gefängnisse, in denen potenzielle Kriminelle untergebracht sind.
So soll es dann auch in der Welt Thierry Bretons und seiner nicht majoritären Institution, der Europäischen Kommission, aussehen. Keine Unwahrheiten, keine Fehlinformationen und keine Informationen mit möglichen negativen Wirkungen werden die EU der Zukunft mehr verschmutzen. Es soll nur noch volle elektronische Papierkörbe geben, die von Algorithmen mit potenziell unerwünschten Aussagen und Informationen gefüllt werden.
Dadurch wird der Gefahr von ungebildeten Laien, falschen Experten und propagandageleiteten Verschwörungstheorien Einhalt geboten. Obwohl Kritiker hier eine empfindliche Einschränkung der Meinungsfreiheit und der demokratischen Meinungsvielfalt befürchten, darf man Bretons Absichten nicht missverstehen. Aufgrund des digitalen Eingriffs werden der offene demokratische Diskurs, die kontroversen Debatten und die deliberativen Prozesse öffentlicher Meinungsbildung von den europäischen Regulatoren und den nationalen Regierungen vor Unwahrheiten geschützt und von deren Experten auf die gerade Linie gebracht.
Politik der Wahrheit
In der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie gilt gemeinhin, dass liberale Demokratien, im Gegensatz zu autoritären Regimen, auf politische Wahrheitsregulation verzichten. Wenn die Demokratie durch Wahrheitsbestimmungen normativ aufgeladen wird, ist nicht nur der innere Friede gefährdet (Miliopoulos, 2016). Wenn die Wahrheit in der Demokratie nicht mehr auf der Grundlage der freien öffentlichen Debatte steht, die sich im Kontext von Meinungs- und Pressefreiheit abspielt, ist die minimale Möglichkeit liberaler Demokratie im Prinzip nicht mehr gegeben.