eine Entgegnung von Tristan Nolting
Lesedauer 4 MinutenDass es Auseinandersetzungen zwischen Wissenschaftlern schon immer gab, dürfte logisch sein. Ein Beispiel hierfür ist der Positivismus-Streit der 1960er-Jahre zwischen Karl Popper / Hans Albert und Theodor Adorno / Jürgen Habermas. Verschiedene Schulen von Denkern haben verschiedene Perspektiven auf die Wirklichkeit. Naturwissenschaftler sind eben auch nur Menschen, die Ihre Meinung haben. Karl R. Popper, der anerkannte Wissenschaftsphilosoph, bekannte sich 1962 in seinem Referat Die Logik der Sozialwissenschaften zu der Ansicht:
“Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, dass die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt. Und es ist gänzlich verfehlt zu glauben, dass der Naturwissenschaftler objektiver ist als der Sozialwissenschaftler. Der Naturwissenschaftler ist ebenso parteiisch wie alle anderen Menschen, und er ist leider – wenn er nicht zu den wenigen gehört, die dauernd neue Ideen produzieren – gewöhnlich äußerst einseitig und parteiisch für seine eigenen Ideen eingenommen.”
Und:
“Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischen Tradition; in jener Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren. Anders ausgedrückt, die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihres Gegeneinanderarbeitens.”
Wissenschaftsjournalismus mit Deutungshoheit
Diskussionen und neue Perspektiven sind demnach unentbehrlich, um zu neuen Urteilen zu gelangen. So würde sich nach Poppers Theorie des Falsifikationismus die beste wissenschaftliche Theorie letztlich durchsetzen. Und diese müsste nur mit einem funktionieren Wissenschaftsjournalismus einer breiten Öffentlichkeit dargelegt werden.
Doch was passiert, wenn Wissenschaftsjournalisten nicht mehr neutral über Meinungsverschiedenheiten von Wissenschaftlern berichten, sondern selbst versuchen, die Deutungshoheit zu gewinnen? Welchen Eindruck erweckt es, wenn im selben Atemzug unveröffentlichte und unfertige wissenschaftliche Arbeiten durch anonyme Kritiker “verrissen” werden? Und welchen Zweck verfolgt eine Beteiligung von Wissenschaftsjournalisten am wissenschaftlichen Diskurs – nicht etwa die Beeinflussung wissenschaftlicher Ergebnisse?
Dass Wissenschaftsjournalisten versuchen, sich zum unfehlbaren Wissenschaftler (oder besser: Wahrheitspächter) zu erheben, ist ein Rückschritt im Erkenntnisgewinn und ist exemplarisch am SZ-Artikel Was hat in der Pandemie wirklich geholfen? von Christina Berndt zu beobachten. Anhand zahlreicher ihrer Bemerkungen lässt sich erkennen, dass der Artikel versucht, Meinung zu machen, anstatt wissenschaftliche Ergebnisse einem breiten Publikum zu kommunizieren.
Nun fängt es schon damit an, dass niemand außer Frau Berndt und ihren anonymen Quellen überhaupt die Möglichkeit hat, die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit des Sachverständigenausschusses nach §5 Absatz 9 zu bewerten. Erst am 30. Juni 2022 soll der Bericht der Bundesregierung vorgelegt werden, am 30. September 2022 wiederum an den Deutschen Bundestag übersandt werden.
Tiefpunkt des Wissenschaftsjournalismus
Aber schon hier stellt sich die Frage: Wieso sollten überhaupt unfertige Arbeiten beurteilt werden? Hierbei handelt es sich schließlich nicht um ein Preprint, das im Peer-Review-Verfahren von Experten bewertet werden muss, sondern ganz einfach um einen unfertigen Entwurf. Sichtlich verblüfft zeigten sich auch die Virologen Prof. Dr. Hendrik Streeck (Mitglied des Sachverständigenausschusses) und Prof. Dr. Jonas Schmidt-Chanasit.
Noch tiefer lassen jedoch zwei Formulierungen aus dem Artikel von Frau Berndt blicken:
- „Es steht allerdings zu befürchten, dass die wichtige Evaluation am Ende nicht die Erwartungen erfüllen wird, die Politikerinnen und Bürger sich erhoffen.“
- „Nur weil es keine Evidenz gibt, heißt es nicht, dass Maßnahmen nicht wirken, mitunter fehlen eben nur die Daten, die die Wirkung belegen. “Absence of evidence is not evidence of absence”, sagen Wisenschaftler dazu.“
Zu 1. – Seit wann haben Wissenschaftler die Erwartungen von Politikern und Bürgern zu erfüllen? Wissenschaft hat unbequem zu sein, muss im Idealfall selbst den Wissenschaftler enttäuschen. Andernfalls wird hier ein Dogma, gar eine Religion verfolgt. Alleine dieser Satz würde eine eigene psychologische Analyse interessant machen und verrät vermutlich mehr über die Gesinnung von Frau Berndt, als sie sich selbst darüber bewusst ist.
Zu 2. – Diese Schlussfolgerung von Frau Berndt ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Auf der einen Seite hat der Sachverständigenausschuss die Aufgabe, bereits vorhandene Daten zu systematisieren und auszuwerten. Innerhalb von zwei Jahren Pandemie dürften durchaus genügend Daten gesammelt worden sein, um ein Zwischenfazit zu ziehen. Dieses Fazit ist sicherlich nicht unumstößlich und muss auch kritisiert werden. Aber es ist nicht so, dass es keine (!) Evidenz für bestimmte Maßnahmen gibt, vielleicht eingeschränkte Evidenz.
Was Christina Berndt ausblendet
Auf der anderen Seite präsentiert Frau Berndt hier (im Sinne von Platons logischen Irrtümern) ein falsches Dilemma: Wenn Daten fehlen und nacherarbeitet werden müssen, kann sich im Nachhinein genauso gut herausstellen, dass Maßnahmen nicht gewirkt haben. Sie erweckt in dieser Passage jedoch den Eindruck, die Anordnung von Maßnahmen sei grundsätzlich besser, als wenn keine Maßnahmen angeordnet werden. Im Sinne von: „Better safe, than sorry.“
Dabei darf natürlich auch nicht vergessen werden, dass Maßnahmen gewirkt, aber eben mehr geschadet haben können. Das lässt Frau Berndt leider völlig außen vor. Wir haben hier also vier mögliche gesellschaftliche Dimensionen, nicht nur zwei, die durch die essentielle Betrachtung der Kollateralschäden angeordneter Maßnahmen sichtbar werden.
a) Die Maßnahmen haben gewirkt und es gab wenig Kollateralschäden
b) Die Maßnahmen haben gewirkt, aber es gab mehr Kollateralschäden
c) Die Maßnahmen haben nicht gut gewirkt und es gab wenig Kollateralschäden
d) Die Maßnahmen haben nicht gut gewirkt, hingegen gab es viele Kollateralschäden
Es wird vermutlich noch einige Jahre dauern, bis wir hier ein eindeutiges Fazit ziehen können. Die Arbeit des Sachverständigenausschusses ist hier ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Mit meiner Masterarbeit COVID-19 aus biopsychosozialer Perspektive habe ich ebenfalls versucht, die Anstrengungen während der COVID-19-Pandemie einzuordnen, nur eben nicht auf dem klassisch biomedizinischen Weg, sondern aus der erweiterten Perspektive der biopsychosozialen Medizin.
Es ist völlig klar, dass auf politischer Ebene eine Gewissheit notwendig ist, mit Schutzmaßnahmen nicht mehr Schaden anzurichten (und angerichtet zu haben), als Nutzen zu erzielen. Doch lässt sich nach 27 Monaten Pandemie nicht mehr nur eine gewisse Engstirnigkeit von Politikern, Journalisten und sogar Wissenschaftlern bescheinigen (z. B. in der grundsätzlichen Frage: Mit welcher Medizintheorie soll die COVID-19-Pandemie überwunden werden?).
Weder Distanz noch Demut
Der Artikel von Frau Berndt stellt einen Angriff auf wissenschaftliche Integrität dar. In einem Land vor unserer Pandemie wäre die kritische Distanz zwischen Journalist und Wissenschaftler gewahrt geblieben, Demut wäre Standard. Stattdessen statuiert die Wissenschaftsjournalistin des Jahres 2021 ein mageres Exempel. Es grenzt an Perfidität, dass der Artikel in der Medienlandschaft bisher keinerlei kritische Betrachtung findet.
Denn welche Intention sollte der Artikel sonst haben, eine unfertige und unzugängliche wissenschaftliche Arbeit zu rügen, als der Bevölkerung zu vermitteln, dass der Sachverständigenausschuss nicht seriös, womöglich sogar nicht evidenz-basiert arbeitet?
Diese Antwort bleibt Frau Berndt ihren Lesern schuldig.
Referenzen:
Berndt, C. (2022): Was hat in der Pandemie wirklich geholfen? SZ online, URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-massnahmen-1.5599050
Nolting, T. (2022): Biopsychosoziale Aspekte der COVID-19-Pandemie in Deutschland. Eine Analyse der Pandemie in Deutschland. Tectum-Verlag. https://doi.org/10.5771/9783828878754
Popper, K. R. (1962): Die Logik der Sozialwissenschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. URL: https://www.vordenker.de/ggphilosophy/popper_logik-sozialwiss.pdf