Sachbuch: «Fehlalarm! 2.0 (2021)»

Eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten
Im Auge des Jägers

Die Angst ist ein tückisches Gefühl. Sie führt, wie während der Corona-Krise besonders deutlich wurde, zu irrationalem Handeln. Sie schaltet den Verstand völlig aus und lässt den Eindruck entstehen, dass hinter jeder Ecke eine Gefahr lauert. Genährt wird die Angst seit Jahrzehnten, sowohl politisch als auch medial. So ist mit der Zeit eine Mentalität entstanden, in deren Mittelpunkt die Sicherheit steht. Täglich sind die Menschen darum bemüht, mögliche Gefahren zu vermeiden. Das Resultat ist eine Null-Risiko-Gesellschaft. Doch sie hat einen Motor – die Panikmacher. Ihnen hat der Publizist Leopold Stummer ein Buch gewidmet. «Fehlalarm!» heißt es und entlarvt die täglichen Schreckensbotschaften auf so scharfsinnige wie humorvolle Weise.

Um das perfide Spiel mit der Angst allegorisch zu veranschaulichen, bedient sich der Autor gleich zu Beginn einer Fabel des griechischen Dichters Aesop, das von einem Jungen handelt, der immer „Wolf! Wolf!“ rief. Als Schäfer soll sich dieser so gelangweilt haben, dass er sich eines Tages den Spaß gönnte, die Dorfbewohner vor dem Angriff eines fiktiven Wolfs zu warnen. Aus Angst um die eigenen Schafe brach die alarmierte Gemeinde in Panik aus und ergriff Maßnahmen, um die Gefahr wirksam abzuwenden. Doch der Wolf kam nicht. Dieses Spiel wiederholte sich so lange, bis das Dorfkollektiv dem Hirten nicht mehr glaubte, aber völlig unvorbereitet war, als schließlich der reale Wolf erschien. 

Wölfe in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen

Das Raubtier steht als Sinnbild für aufgebauschte Bedrohungen, die in Wirklichkeit gar nicht existieren oder sich als harmlos erweisen. Die Metapher zieht sich wie ein roter Faden durch Stummers Buch, in dem der österreichische Publizist verschiedene Wölfe unter die Lupe nimmt – den Terror-Wolf, den Technik-Wolf, den Umwelt-Wolf oder den Pandemie-Wolf. Er beleuchtet verschiedene gesellschaftliche Bereiche und benennt die Panikmacher, die aus dem Spiel mit der Angst Profit schlagen. Stummer bezeichnet dieses Konglomerat aus Politik und Wirtschaft als „Sicherheitsindustrie“. Mit fiktiven Wölfen lasse sich viel Geld verdienen. „Sicherheit ist «big business» – wer wollte denn auch daran sparen?“, fragt er rhetorisch.

„Wenn das Unsicherheitsbewusstsein in der Bevölkerung hoch genug gehalten wird, sind Unbequemlichkeiten, finanzielle Opfer und Einschränkungen der persönlichen Freiheit leicht durchzusetzen.“

Die wirtschaftlichen und politischen Interessen gehen Hand in Hand. Eine Gesellschaft in Angst füllt nicht nur die Kassen großer Konzerne, sondern ist vor allem leichter zu beherrschen. „Individualität, Rationalität, Ökonomie, Bürgerrechte usw. werden der versprochenen oder vermeintlichen Sicherheit gerne geopfert“, schreibt Stummer. „Möglicher Erklärungsbedarf für einen obrigkeitlichen Eingriff kann mit dem Hinweis auf die Sicherheitslage zuverlässig befriedigt werden. Es besteht also, abgesehen von den kommerziellen Interessen kleiner Gruppen, wie Sicherheitsindustrie, Medien usw., auch ein übergeordnetes politisches Interesse daran, die Angst niemals schwinden zu lassen.“

Der Österreicher weiß, wovon er spricht. Seine Expertise erwarb er unter anderem als «expert evaluateur» bei diversen EU-Forschungsprogrammen und als Berater bei verschiedenen Schutzmaßnahmen im Umweltbereich. Im Rahmen dieser Tätigkeiten recherchierte der Publizist zu Sicherheitsthemen jeglicher Art und ließ seine Erkenntnisse in sein Buch einfließen. Wer es liest, stellt sofort fest, wie hochgebildet und belesen der Autor ist. Darauf deuten nicht nur die vielen Rückgriffe auf religiöse, politische, literarische oder philosophische Schriften hin, sondern auch das breite Themenspektrum, das er in seinem Buch abdeckt. Was die Lektüre neben dem Informationsgehalt aber wirklich ausmacht, ist ihr Unterhaltungswert.

Lektüre mit viel Unterhaltungswert

Bereits im Vorwort stimmt der Publizist seine Leser auf eine eher ungewöhnliche Reise ein, indem er die folgenden Ausführungen als „vielfach polemisch, unpräzise, einseitig, stark verkürzt, oberflächlich sowie zynisch und menschenverachtend“ bezeichnet. „Oft wird sogar ein etwas ironischer, wenn nicht sogar satirischer Unterton wahrnehmbar.“ Und Stummer hält Wort: Seine Darstellungen atmen so viel Esprit, sind so pointiert formuliert und kommen so witzig daher, dass allein die Sprachkunst über so manche inhaltlich mäßige Passage verhilft.

Lacher sind garantiert, wie ein Beispiel demonstrieren soll, in dem der Autor beschreibt, inwiefern Furcht zuverlässige Einkommensquellen erschließt: „Sogar relativ harmlose Produkte können mit diesem Argument besser verkauft werden“, lautet seine These, die er dann folgendermaßen begründet: „Oder fürchten gerade Sie etwa in diesem Augenblick nicht, dass ihr Deo (oder Tampon) zum falschen Zeitpunkt versagt? Können Sie sicher sein, dass … (Auftritt eines beruhigend aussehenden, seriös gekleideten Schauspielers …) Ihre Bank-, Versicherungs- oder Gesundheitsleistungen auch ‚sicher‘ sind. Oder wollen Sie etwa, dass ihre Familie in einem Auto zerschmettert wird, bei dem nicht sämtliche erdenkliche Warnlämpchen eingebaut wurden? Sorgen Sie sich nicht bei jeder Mahlzeit darum, ob sie auch wirklich das täglich notwendige Quantum an Spurenelementen aufgenommen haben?“

Wie man’s macht, macht man’s falsch

In diesem Stil geht es über Seiten, auf denen Stummer auch die vielen Experten aufs Korn nimmt. Diese beträten meist dann die Bühne, wenn auf einem Gebiet noch nicht viel Erfahrung und Wissen vorhanden sei – oftmals sogar „durch spontane Selbstdeklaration“. Ihr Horizont erweise sich jedoch als eindimensional, weshalb zum Beispiel Menschen, die sich einfach nur krank fühlen und zum Doktor gehen, ganz unterschiedliche Diagnosen bekommen – je nachdem, um welchen Arzt es sich handelt. „Zusammenfassend kann gesagt werden“, so Stummer, „wie man’s macht, macht man’s falsch. Die Gesundheit durch ‚richtige‘ Lebensweise erhalten zu wollen ist – wenn man den Experten glauben darf – eigentlich ein aussichtsloses Unterfangen.“

Auf den Markt gekommen ist «Fehlalarm! 2.0 (2021)» bereits 2012. Die Neuauflage aus dem letzten Jahr enthält allerdings Ergänzungen, die sich auf einschneidende Ereignisse aus der Zeit dazwischen befinden. Dazu zählt auch die Corona-Panikmache, die Stummer bisweilen kritisch, aber doch schonend behandelt. Nichtsdestotrotz stellt sein Buch ein veritables Vergnügen dar, zumal es ins Bewusstsein rückt, wie leicht sich ein Phänomen zu einer Gefahr aufblähen lässt. Der Autor veranschaulicht das quasi performativ – anhand eines bekannten Elements und in gewohnt eloquenter Manier: „Die gefährliche Chemikalie heißt wissenschaftlich Dihydrogenmonoxid (engl: hydroxi-acid). Dieser Stoff ist weltweit verbreitet, sogar im Eis der Antarktis wurde er nachgewiesen. Durch diese Substanz werden – meistens durch unfreiwillige Aufnahme in die Lunge – jährlich tausende Menschen getötet. Millionen an Sachschäden werden durch sie verursacht. Die Chemikalie beschleunigt Korrosion und Rost bei Metallen, ist Hauptbestandteil des ‚sauren Regens‘, ist an vielen Autounfällen und elektrischen Kurzschlüssen beteiligt und wurde in Tumoren von Krebspatienten gefunden …. – Ach ja, unwissenschaftlich kennt man diese Chemikalie unter der Trivialbezeichnung ‚Wasser‘.“

< Fehlarm! 2.0> von Leopold Stummer, 300 Seiten, Softcover, Seifert Verlag, Wien 2021

Cover FEHLALARM
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