«Geistige Gefangenschaft» – Ein Hörspiel

Ein Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten
August Malmström: Älvalek (1866)

Die Corona-Politik der letzten drei Jahre führte zu erschreckenden sozialen Verwerfungen und untergrub schrittweise das Vertrauen in staatliche Institutionen. Nun hat die Zeit der Aufarbeitung begonnen. Dazu trägt unter anderem die Kunst bei, wie das Hörspiel «Geistige Gefangenschaft» eindrucksvoll demonstriert. Die gemeinsame Produktion der beiden Schauspieler Philine Conrad und Dieter Brandauer beschäftigt sich kritisch mit den gesellschaftlichen Entwicklungen während der Pandemie-Zeit, indem sie in 16 fiktionalen Kurzgeschichten verschiedene Aspekte beleuchtet – solche wie Denunziation, Polizeigewalt oder Ausgrenzung von Andersdenkenden.

Erzählt werden diese Episoden jeweils aus unterschiedlicher Perspektive. Mal berichten die Opfer über ihre Erfahrungen, mal schildern die Täter ihre Eindrücke oder rechtfertigen ihre Entscheidungen. Gelegentlich kommt auch ein auktorialer Erzähler zum Einsatz, der die Geschehnisse kommentiert und einordnet. Nicht wenige Protagonisten scheinen sich im eigenen Land fremd zu fühlen, wie mehrmals in unterschiedlichen Worten zum Ausdruck kommt. Gleich in der ersten Kurzgeschichte beschreibt eine Frau in einem inneren Monolog die eigene Angst vor Hass und Anfeindungen ihrer Nachbarn. In ihren Aussagen spürt man die geistige Gefangenschaft, die als Sinnbild für die gesamte Krisenzeit dient. Die Protagonistin hat das Gefühl, dass sie ihre Meinung nicht frei äußern darf; dass sie sofort gesellschaftlich sanktioniert wird, sobald sie den Rahmen offizieller Narrative verlässt.

Geschichten aus dem wirklichen Leben

Eine andere Kurzgeschichte nimmt das Thema Quarantäne auf, spielt aber an einem Urlaubsort im Ausland, wo die Reisenden nach einem positiven Testergebnis in einem Hotel stranden und dort vierzehn Tage eingesperrt verbringen müssen. Vermittelt wird diese angespannte Situation in einem Dialog. Dieses Stilmittel kommt in vielen Episoden zum Einsatz, zum Beispiel dann, wenn eine Frau ihrem Mann mitteilt, dass sie aus der gemeinsamen Wohnung auszieht. Grund dafür ist seine kritische Haltung gegenüber den Corona-Maßnahmen. Geht es in dieser Kurzgeschichte um den gesellschaftlichen Riss, der sich durch Freundschaften, Familien und Ehen zieht, thematisiert eine andere die gesteigerte Lust, „Regelbrecher“ an die Behörden zu melden.

Gerechtfertigt wird das damit, dass man „nach bestem Gewissen gehandelt“ habe. Allerdings sind solche Ereignisse nicht aus der Luft gegriffen, sondern bilden die Realität ab. Das beweisen die Aussagen eines Zuhörers. „Im Dorf seiner Eltern ist Ähnliches geschehen“, heißt es auf der Produktseite des ars-vobiscum-Verlags heißt, wo «Geistige Gefangenschaft» erschienen ist. „Die Nachbarn, die das Zusammenkommen von vier Jugendlichen bei der Polizei melden und dabei zuschauen, wie die jungen Burschen abgeführt werden: ‚Wir haben richtig gehandelt. Wir melden, wenn’s was zu melden gibt‘.“

Vom Text zum Hörspiel

Alle Erzählungen stammen aus der Feder Philine Conrads, die sie größtenteils im Mai 2021 geschrieben hat. Dieter Brandecker entwickelte später die Idee, aus dem gesamten Werk ein Hörspiel zu produzieren. Dafür wurden unter anderem Cathleen Baumann, Miguel Abrantes Ostrowski, Philipp Schepmann und Inga Stück engagiert, die den verschiedenen Charakteren ihre Stimme liehen. Der Produzent und Komponist Tobias Morgenstern sorgte hingegen für die musikalische Untermalung zwischen den Kurzgeschichten. Wer sich diese so unterschiedlichen wie düsteren Episoden anhört, erkennt ihren besonderen Charakter. Sie stellen auf authentische Weise eine Momentaufnahme dar, indem sie in einer Art Zeitzeugenbericht die Stimmung im Land wiedergeben.

Eine der eindringlichsten Geschichten handelt von einer Frau, die während der Ausgangssperre den Müll wegbringt. Prompt greift die Polizei zu und startet ein grausames Verhör, das darin mündet, dass die vermeintliche Delinquentin eine Anzeige bekommt und sich vor einem Richter verantworten muss. Als nicht weniger aufwühlend erweist sich eine Geschichte, in der die bedrohliche Atmosphäre in einer kleinen Ortschaft beschrieben wird, wo die Polizei massiv Präsenz zeigt – zum Schutz der Bevölkerung, so die Rechtfertigung. Solche Phrasen ziehen sich durch das ganze Hörspiel. Wer gegen Maßnahmenkritiker vorgeht, sie denunziert oder diffamiert, liefert zwar keine stichhaltigen Argumente, wähnt sich aber stets auf der richtigen Seite. Man befolge lediglich die Regeln, führe Befehle aus oder sei solidarisch.

Viele spätere Ereignisse antizipiert

Conrads fiktionale Kurzgeschichten erweisen sich nicht nur als im höchsten Maß realistisch, sondern haben auch eine geradezu prophetische Kraft. Obwohl sie zu einem Zeitpunkt geschrieben worden sind, als es noch kein Vakzin gegen Covid-19 gab, nehmen sie die späteren Ausgrenzungen mithilfe der 2G-Regeln vorweg. In einem Stück muss ein Gast das Café verlassen, weil er nicht belegen kann, dass er „geschützt“ ist. In einer anderen Kurzgeschichte unterbrechen Sicherheitsbeamte eine Theateraufführung, um das Publikum zu kontrollieren. Dabei gerät ein älterer Herr ins Visier, der als langjähriger Mitarbeiter der Einrichtung erkennbar wird. Trotz zweier negativer Tests üben die Beamten Druck auf ihn aus und werfen ihm vor, eine Straftat begangen zu haben. Verweise darauf, dass seine Frau erst kürzlich nach der Impfung verstorben sei, nötigen ihnen kein Verständnis ab. Stattdessen berufen sie sich kaltherzig auf die derzeit geltende Verordnung.

«Geistige Gefangenschaft» dokumentiert so schonungslos wie einfühlsam das Versagen breiter Teile der Gesellschaft. In dem Werk liegt die Hoffnung, dass zumindest einige Menschen, die die Corona-Politik mitgetragen haben, über die Ungerechtigkeit und das angerichtete Leid reflektieren – so wie der Journalist in der Abschlussgeschichte. Sein Monolog über die Art und Weise der Berichterstattung macht deutlich, dass ihn Gewissensbisse plagen. Obwohl ihm Fälle von Impfnebenwirkungen bekannt sind, werden sie in den Medien nicht abgebildet. Er aber will nicht länger schweigen, selbst wenn ihm der Jobverlust droht. Auch diese Geschichte hat die Realität mittlerweile überholt. Wer nachziehen muss, sind die Journalisten der Leitmedien. Noch halten sie sich mit Schuldeingeständnissen zurück.

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