Dichtung im sich auflösenden Rechtsstaat

von Eugen Zentner

Lesedauer 6 Minuten
Dichtung im sich auflösenden Rechtsstaat
© Porträt Heinrich Heine, 1831 von Moritz Daniel Oppenheim, Hamburger Kunsthalle

Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Wohin die Reise geht, ist nicht abzusehen. Was sich bemerken lässt, sind gesellschaftliche Verwerfungen und Auflösungserscheinungen der demokratischen Ordnung. Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus verlieren zunehmend an Relevanz. Die letzten knapp 20 Monate wirken geradezu revolutionär. Solche Phasen sind in der Geschichte immer die Stunde der Literaten, die das Zeitgeschehen kunstvoll konservieren und poetisch verarbeiten. Man erinnere sich nur an die Jahre des Vormärz zwischen 1830 und 1850, als Schriftsteller vor allem auf die Lyrik zurückgriffen, um für den Liberalismus einzutreten. Dichter wie Heinrich Heine, Georg Herwegh oder Ferdinand Freiligrath hielten in ihren Werken die demokratischen Freiheitsrechte hoch, kritisierten die Zensurpraktiken und sagten der herrschenden Klasse sprachgewaltig den Kampf an.

Und nehmen sich die Luft, und wer ist der Schuft

Lyriker mit politisch-zeitkritischer Tendenz melden sich auch in der Corona-Krise zu Wort. Eine von ihnen ist Motschi von Richthofen, die in mehreren Gedichten die Ereignisse rund um die Corona-Krise verarbeitet hat. Sie liegen mittlerweile in zwei Büchern vor. Während «Friedliche Solidarität für die Freiheit» lyrische Werke bündelt, die unterschiedliche Aspekte der gesellschaftlichen Fehlentwicklung akzentuieren, konzentriert sich «Gegenwart gestalten in Menschlichkeit walten» auf die Grundrechte. Jedem von ihnen ist jeweils ein Gedicht gewidmet, in dem der Inhalt der Aussage poetische Form annimmt.

„Würdevoll miteinander umgehen, / den anderen sehen. / Versuchen zu verstehen“, lauten etwa die ersten Verse zum Grundrecht, das an oberster Stelle steht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im Gesetzestext. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Was das in der Praxis bedeutet, drückt von Richthofen psychologisch aus, mit einem Verhalten, das auf Reflexion beruht: „Sich gegenseitig begreifen, / aneinander reifen, / seine Ecken und Kanten schleifen.“ Zur Meinungsfreiheit, die derzeit besonders stark eingeschränkt ist, findet die Autorin ebenfalls treffende Worte. Sie akzentuieren den Prozess des Hinterfragens, weshalb die wichtigsten Fragewörter am Ende jeder Strophe stehen: „Hinter die Kulissen blicken / aus freien Stücken. / Wer? Wie? Wo? Was? Warum?“

In ihren Gedichten zieht von Richthofen alle Register und erweist sich dabei als sehr vielseitig. Mal verwendet sie eine metaphernreiche Sprache, mal greift sie zur Alliteration. Mal spielt sie mit Schüttelreimen, mal schreibt sie ein Haiku. Die beiden Bücher sind ein Sammelsurium von verschiedenen Vers-, Strophen- und Gedichtformen, in denen traditionelle Stilformen aus der Rhetorik zum Einsatz kommen. Von Richthofens Lyrik wirkt traditionell und modern zugleich, vor allem aber aktuell. Sie beschäftigt sich mit dem Leid, das die Corona-Maßnahmen bei den Kindern verursachen. Es geht um die Umwandlung des Reisepasses in einen Impfausweis, um das Versagen der journalistischen Zunft, um totalitäre Tendenzen und die allgegenwärtige Panikmache. „Willkommen in der Absurdität“, heißt es in einem besonders prägnanten Gedicht. „Der neuen Normalität / Menschen verschränken / Ihr eigenes Denken / Und nehmen sich die Luft / Und wer ist der Schuft / Die Regierung und die Medien / Macht alles zwar keinen Sinn / Aber man macht es halt / Aus dem Hinterhalt“.

Was mir so, wie es jetzt passiert, noch unbekannt

Warum von Richthofen das Zeitgeschehen lyrisch zu verarbeiten versucht, erklärt sie damit, dass diese Gattung die Seele zu befreien vermag. Lyrik sei Musik, sagt sie, Singsang, der die Menschen berühre und sie tiefer durchdringe: „Im Reim ist der Keim für alles Sein“, lautet ihr Leitspruch. Für Christoph Köhler gilt er dagegen nur bedingt. Der Karlsruher Lyriker rückt weniger den Reim als den Klang ins Zentrum seines Schaffens. „Literatur muss sich gut rezitieren lassen“, sagt er. Deswegen erscheinen seine Gedichte nicht auf Papier, sondern im Internet auf der Online-Plattform SoundCloud, wo Köhler regelmäßig neue Werke hochlädt, nachdem er sie mit wohlklingender Stimme vorgelesen und aufgenommen hat. Unter der jeweiligen Audiodatei befindet sich meistens der dazugehörige Text, so dass die User mitlesen können.

Wie von Richthofen bringt auch Köhler in seinen Gedichten kritische Töne unter. Seit Beginn der Corona-Krise setzt er sich mit den Maßnahmen auseinander, deren Sinnhaftigkeit infrage gestellt wird. Beschäftigte sich der Lyriker anfangs noch intensiv mit der Kontaktsperre, schrieb er später pointierte Zeilen zum sogenannten «Verweilverbot», das im letzten Winter in vielen deutschen Innenstädten galt. „Dass das Absurde / keine Grenzen / kennt / ist doch bekannt“, heißt es in einem gleichnamigen Gedicht. „Doch dass die Wirklichkeit / zum Absurden wird, / das Absurde / zur Wirklichkeit / weniger, / und dass Politiker und Wissenschaftler / zu Hanswursten werden / zu Till Eulenspiegels / zu Hofnarren, / und dass dies / ganz wie im echten Theater / im Handumdrehen / (Saallicht aus und Vorhang auf) / geschehen könnte, / war mir so / wie es jetzt passiert / noch unbekannt.“

Knapp ein Jahr später sorgen nicht mehr Verweilverbote und Kontaktsperren für Aufsehen, sondern die umstrittenen G-Regeln. Köhler nimmt sich auch dieses Themas an und verarbeitet es aus der Perspektive eines Maßnahmenkritikers, der sich kategorisch gegen Tests und Impfung ausspricht. Es sind autobiografisch gefärbte Gedichte, in denen der Lyriker seine eigene Haltung zum Ausdruck bringt. Wer diese Zeilen liest, spürt den Unmut, der beim Schreiben die Hand führt: „Und, Moment… ich darf nun, weil ich NICHT geimpft bin, / nicht mehr einfach so ins Café?“, heißt es in dem kürzlich erschienenen Gedicht «Mein Recht», „Moment! Moment … Wo bin ich? Bin ich im falschen Film? / Ich als GESUNDER, ALS GESUNDER, / soll mich zuerst auf irgendwas testen, und dies für Geld!, das ich nicht habe, DAS ICH NICHT HABE, um ins Café hinein zu dürfen?!“

Der Lyriker kann es nicht nachvollziehen, dass der Staat die Bürger derart unter Druck setzt. „Es handelt sich hier um meine persönliche, freie Entscheidung“, sagt er. „Und diese Entscheidungsfreiheit müsste eigentlich vom Staat geschützt werden.“ So profan dieses Grundprinzip ist, so prosaisch drückt Köhler es aus. Seine Lyrik erscheint sehr modern. Sie bedient sich einer ungebundenen Sprache, bleibt aber poetisch, indem sie einem wohltemperierten Rhythmus folgt. In ihr dominieren Laute und Klänge, Betonungen und Wiederholungen, so wie in dem Gedicht «Vorsicht, öffentlicher Raum»: „Auf einer Scheibe steht: Vorsicht Scheibe / Über einer Stufe steht: Vorsicht Stufe / An einem Hochspannungsmast steht: Vorsicht Hochspannung“. So geht es Zeile für Zeile, bis sich am drittletzten Vers eine Wende ereignet: „Nirgends steht: Vorsicht Viren / Nirgends steht: Vorsicht Corona / Nirgends steht: Vorsicht Ansteckung“.

Nicht mehr selbst entscheiden, ob sie an Krankheit oder Einsamkeit leiden

Eine lyrische Stimme im Kreis kritischer Künstler ist auch Jens Fischer Rodrian. Wie Köhler setzt er auf das gesprochene Wort, fühlt sich jedoch dem Slam-Poetry angehörig, einer literarischen Strömung, die in den USA ihre Wurzeln hat und ins Deutsche mit Bühnendichtung oder Performancepoesie übersetzt werden kann. Bis Corona war der Berliner in diesem Metier sehr aktiv und trat auf mehreren Bühnen auf. Sein Programm «Wahn & Sinn» erfreute sich eines großen Zulaufs. Als die Politik dann die harten Maßnahmen verhängte, entschloss sich Rodrian, lyrischen Protest zu betreiben.

Kurz darauf verarbeitete er die «neue Normalität» in einem Werk, das unter dem Titel «Es gibt ein Leben vor dem Tod» relativ große Bekanntheit erlangte. Die Zeilen geben die allgemeine Stimmung wieder. Sie sind getragen von einer noch immer andauernden Verwunderung darüber, wie sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse so radikal verändern konnten. „Egal wie man es betrachtet, welch Sorge Dich umnachtet / Was jetzt passiert ist fern von dem, was ich für möglich hielt“, beginnt das lyrische Kleinod. „Menschen dürfen nicht mehr selbst entscheiden, ob sie an Krankheit oder Einsamkeit leiden / Alles ist der Illusion von Sicherheit verschrieben / Ein altbewährter Helfer kriecht aus seinem Loch, die Angst, sie funktioniert immer noch / Angst macht gefügig – Angst macht taub.“

Rodrian vertonte das Stück und veröffentlichte es auf YouTube, genauso wie das Werk «Die Armada der Irren», das im Frühjahr erschien. Der Lyriker und Musiker wendet sich darin direkt an die Politiker und wählt durchaus deutliche Worte, um ihre Verfehlungen zu beschreiben. Er arbeitet mit Anaphern, Anspielungen und ausdrucksstarken Reimen. Der Text ist eindringlich und enthält klare Botschaften, die nur wenig Interpretationsraum lassen. Weniger eindeutig ist das neue, aber noch nicht vertonte Werk «Seelenritzen», das sich mit dem Leid der Kinder in Folge der Corona-Maßnahmen beschäftigt. Es liest sich wie eine Anklage, deren Adressaten nicht beim Namen genannt werden, aber aufgrund des Kontextes dennoch leicht erkennbar werden. Die Zeilen entfalten eine poetische Kraft, die fesselt und mitreißt.

Von Richthofen, Köhler und Rodrian sind nur drei Beispiele für eine Lyrik, die auf die antiliberalen Tendenzen der Gegenwart reagiert. Sie durchzieht unterschiedliche Genres und erscheint in einem jeweils anderen Gewand. So groß die formalen Unterschiede aber sind, der Inhalt bleibt nahezu deckungsgleich. In den Gedichten drückt sich eine teilweise scharfe Kritik an der Corona-Politik aus, die auf unterschiedlichen Ebenen als unmenschlich, autoritär und antidemokratisch erschient.

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