Zur Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht

ein Beitrag von Hans-Christoph Loebel

Lesedauer 9 Minuten
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© Der Staat 1354px-Leviathan von Thomas Hobbes

Neuerdings werden von der regierungsservilen Presse zum Thema Impfpflicht gegen Covid-19-Erkrankungen auch Verfassungsrechtler zitiert. Der Grund ist verständlich: Einige dieser „Rechtsexperten“ sprechen sich für die Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht aus.

Hier soll geprüft werden, ob zwei Argumente dieser „Rechtsexperten“ haltbar sind.

Ein zentrales Argument zur Impfpflicht gegen Covid-19-Erkrankungen lautet: Die Impfpflicht sei zum Schutz des Lebens der anderen erforderlich.

Wer so argumentiert, muss Folgendes belegen:

  1. Jeder Geimpfte schützt das Leben der anderen mehr als jeder Nichtgeimpfte.
  2. Nichtgeimpfte können das Leben anderer nur schützen, indem sie sich impfen lassen.

Schon die erste Annahme ist schlichtweg falsch. Auch Geimpfte können andere anstecken. Es mag sein, dass dies statistisch seltener geschieht.1 Es ist aber nicht zu leugnen, dass der Geimpfte, der mit vielen Personen intensiven Kontakt hat, bei der Fahrt zur Arbeit, beim Besuch von Fußballspielen, beim Besuch von Kinos, Theatern oder sonstigen Veranstaltungen, für andere sehr viel „gefährlicher“ ist als der Nichtgeimpfte, der auf andere Rücksicht nimmt, indem er solche Kontakte möglichst vermeidet.

Das führt zur zweiten Annahme. Nichtgeimpfte haben viele Möglichkeiten, andere ggf. vor einer Ansteckung zu bewahren: Sie können ihre sozialen Kontakte beschränken (was sie derzeit aufgrund von 2G- und 3G-Maßnahmen zwangsweise tun), sie können Maske tragen, sie können sich regelmäßig testen lassen. Es ist also schlichtweg falsch, dass nur die Impfung andere schützt.

Der Staat als Inkarnation der Vernunft?

Ein Einwand liegt nahe: Der Staat müsse den Lebensschutz der anderen sicherstellen, dürfe sich also nicht auf freiwillige Aktionen der Nichtgeimpften verlassen. Das führt zu einem grundsätzlichen Problem: Die Verfassung gibt im Regelfall nicht vor, wie der Staat grundrechtlich begründete Schutzpflichten erfüllt. Doch hier geht es nicht darum, ob der Staat aufgrund seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zur Einführung der Impfpflicht verpflichtet ist, sondern darum, ob es ihm erlaubt ist.

Verfassungsrechtlich erlaubt ist die Einführung einer Impfpflicht allerdings nur, wenn es keine milderen Mittel zum Schutz der anderen geben würde. Doch die gibt es: Der Staat ist nicht gehindert, vor engen sozialen Kontakten zu anderen im Hinblick auf das Ansteckungsrisiko zu warnen. Dann ist es die Entscheidung eines jeden Einzelnen, ob das Restaurant, die Bar, die Diskothek, das Kino, das Theater, das Konzert oder die Sportveranstaltung überhaupt oder bei Beachtung bestimmter Sicherheitsvorkehrungen, die für einen gebotenen Abstand der Besucher sorgen, besucht wird.

Auch hier mag man einwenden: Solche Warnungen seien eben im Hinblick auf die Unvernunft des Einzelnen nicht in gleichem Maße effektiv! Doch abgesehen davon, dass man schon stark verkalkter Rechts-Hegelianer sein muss, um im Staat selbst die Inkarnation der Vernunft zu sehen, bleibt ein Grundrecht darauf, selbst bestimmen zu können, ob man sich bestimmten gesundheitlichen Risiken aussetzen möchte. Dieses Grundrecht nehmen wir als selbstverständlich hin, wenn es um Leistungssport (jedenfalls um sogenannten Extremsport) geht. Warum sollte dieses Grundrecht außer Acht bleiben, wenn es um das Risiko einer Covid-19-Erkrankung geht? Selbst wenn man staatliche Warnungen vor kontaktintensiven Einrichtungen und Veranstaltungen für unzureichend hielte: Meinen wir wirklich, der Staat dürfe die Risikoabwägung für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger treffen, weil diese selbst dazu nicht in der Lage seien?

Vom Urteilsvermögen des Bürgers

Wer diese Meinung vertritt, sollte zumindest zwei Fragen beantworten: Wie passt zusammen, dass wir alle Staatsgewalt auf Entscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern zurückführen (das nennt sich Demokratie), insofern also auf das Urteilsvermögen der Bürgerinnen und Bürger vertrauen, ihnen dieses Urteilsvermögen aber gerade dann absprechen, wenn es um Risiken für ihre eigene Gesundheit und ihr eigenes Leben geht?

Wie passt zusammen, dass der Staat den Bürgerinnen und Bürgern in den letzten Jahrzehnten immer mehr Risiken übertragen hat2, aber ausgerechnet bei der höchst individuellen Entscheidung über Risiken für die eigene Gesundheit und das eigene Leben von Seiten des Staates bevormundet werden muss?

Verfehlt ist hier jedenfalls der Hinweis auf die sogenannte Hospitalisierungsrate, die „Gefährdung des Gesundheitssystems“: Ein Staat, der in Zeiten der Pandemie durch Schließung von Krankenhäusern und Krankenhausabteilungen sowie durch Unterbezahlung von Pflegekräften selbst für eine Notlage gesorgt hat, darf sich zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen3 nicht auf diese in eigener Regie verursachte Notlage berufen! Denn hätte der Staat immer die Möglichkeit, die Umstände selbst zu schaffen, die spätere Grundrechtseingriffe rechtfertigen sollen, könnten Grundrechte ihre Funktion, Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, kaum noch erfüllen. Im Übrigen zeigt sich hier die Unvernunft der „verantwortlichen“ Gesundheitspolitiker, die kaum rechtfertigt, die Bürgerinnen und Bürger für noch weniger verantwortungsbewusst zu halten, um sie dann von staatlicher Seite her bevormunden zu dürfen.

Vom Sinn und Unsinn einer Impfpflicht

Ein weiteres Argument zur Impfpflicht gegen Covid-19-Erkrankungen lautet: Die Impfpflicht habe geringere „Eingriffstiefe“ als andernfalls erforderliche Freiheitseinschränkungen.4

Wer so argumentiert, muss Folgendes belegen:

  1. Freiheitseinschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind in jedem Fall erforderlich.
  2. Es gibt im Vergleich zur Impfpflicht keine staatlichen Maßnahmen, die ebenso effektiv sind wie die Impfpflicht und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger weniger stark einschränken.

Auf die erste Annahme muss hier nicht nochmals eingegangen werden. Dazu wurde oben schon einiges gesagt.5 Die zweite Annahme setzt voraus, dass eine bestimmte Impfquote erreicht werden muss, diese Impfquote mit Appellen aber nicht erreicht wurde und nicht erreicht werden kann.

Die Begründung für die Notwendigkeit einer bestimmten Impfquote lautet: Nur bei einer Impfquote von x% werde die Pandemie enden. Das politische Fernziel ist, eine sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Das politische Nahziel ist, zunächst die Zahl von Neuinfektionen zu senken, um in der Folge die Zahl der Neuerkrankungen zu senken. Die mit der Impfpflicht angestrebte Impfquote soll also folgende Zwecke zumindest fördern6:

  1. Die Zahl von Neuinfektionen senken.
  2. Die Zahl von Neuerkrankungen senken.
  3. Für Herdenimmunität sorgen.

Zu Punkt 1: Senkung der Neuinfektionen

Es mag sein, dass mit einer höheren Impfquote die Zahl der Neuinfektionen sinkt. Doch es ist selbst unter „Gesundheitsexperten“ keineswegs unumstritten, ob das überhaupt wünschenswert ist. Denn – von Impfungen abgesehen – kann das Immunsystem von Menschen nur infolge einer Infektion lernen, mit Erregern umzugehen. Deshalb gibt es „Gesundheitsexperten“, die Impfungen gegen Covid-19-Erkrankungen überhaupt für überflüssig halten, und „Gesundheitsexperten“, die zwar eine vollständige Erstimpfung befürworten, weitere sogenannte Auffrischungsimpfungen aber eher ablehnen, weil zumindest bei gesunden Personen ohne Vorerkrankungen der Körper selbst für eine erfolgreiche Bekämpfung der Erreger sorgen müsse.7

Mehrheitsmeinung und Wissenschaft

Es ist zwar einzuräumen, dass nach der derzeit in den Medien verbreiteten Mehrheitsmeinung der „Gesundheitsexperten“ eine Auffrischungsimpfung sinnvoll sein soll. Doch wir können „richtig“, „wahr“, „wissenschaftlich begründet“ nicht ersetzen durch das Votum von Mehrheiten. Wer das als Verfassungsrechtler bezweifeln wollte, dem sei die Lektüre des Art. 79 GG angetragen, der eben diese einfache Wahrheit zum Ausdruck bringt. Immerhin wird hier deutlich, dass es auch bei Fragen der Immunologie nicht „die“ Wissenschaft gibt. Offen bleibt, ob sich die für Gesundheitspolitik verantwortlichen Regierenden in solchen Fällen schlicht der Bequemlichkeit halber mal genehmen Meinungen anschließen dürfen oder ob hier nicht eine kritische Auseinandersetzung mit allen vertretenen Meinungen8 geboten ist.9

Zu Punkt 2: Senkung der Neuerkrankungen

Weniger Neuinfektionen bedeuten weniger Neuerkrankungen. Das hat auf den ersten Blick eine nachvollziehbare Logik. Doch auch Geimpfte können andere infizieren. Es mag sein, dass Infektionen durch Geimpfte statistisch seltener vorkommen. Können Impfungen bei den frisch Geimpften aber nicht auch zu einem Gefühl falscher Sicherheit führen mit der Folge zur Bereitschaft, höhere Risiken einzugehen und damit Neuinfektionen und Neuerkrankungen wieder steigen zu lassen? Vor allem bleibt die Frage: Wie viele Neuinfektionen führen denn wirklich zu neuen Erkrankungen, also Infektionen mit Krankheits-Symptomen? Und wie viele Neuinfektionen führen statt zu Erkrankungen zu einer Stärkung der Immunabwehr bei den Betroffenen?

Jedenfalls scheint die Logik, nach der weniger Neuinfektionen zu weniger Neuerkrankungen führen, ein wenig zu simpel zu sein.

Zu Punkt 3: Herdenimmunität

Mit einer hohen Impfquote erreiche man Herdenimmunität als Voraussetzung für ein Ende der Pandemie. Doch „Gesundheitsexperten“ haben im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie inzwischen schon bezweifelt, ob Herdenimmunität überhaupt erreicht werden kann. Auch Geimpfte können anstecken und angesteckt werden. Es gibt immer wieder neue Varianten der gefährlichen Viren und der Impfschutz lässt vermutlich schon nach wenigen Wochen oder Monaten nach. Deshalb bleibt offen, ob Impfen tatsächlich geeignet ist, Herdenimmunität zu erreichen.

Sollten wir entgegen allen Einwänden gleichwohl meinen, eine Impfpflicht fördere das Ziel geringerer Neuinfektionen, geringerer Neuerkrankungen und höherer Wahrscheinlichkeit, Herdenimmunität zu erreichen, bliebe immer noch offen, ob es keine anderen Maßnahmen gäbe, die ebenso effektiv seien, Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger aber weniger beschränken.10

Wer dies verneint, setzt zweierlei voraus:

  1. Zur Bekämpfung von Covid-19-Erkrankungen sind Freiheitseinschränkungen in jedem Fall erforderlich.
  2. Alle anderen Freiheitseinschränkungen sind entweder nicht so effektiv, die erwünschten Ziele zu erreichen, oder haben größere „Eingriffstiefe“.

Auf die erste Annahme muss hier nicht nochmals eingegangen werden; dazu wurde bereits einiges gesagt. Das gilt ebenso für die Frage nach der Effektivität milderer Mittel wie etwa Warnungen vor intensiven sozialen Kontakten oder der Einführung von Abstandsgeboten. Hier soll nur geprüft werden, ob eine weitreichende Testpflicht für alle, die bestimmte Einrichtungen nutzen (Bars, Restaurants, Diskotheken etc.) oder bestimmte Veranstaltungen besuchen (Konzerte, Sportveranstaltungen, Kinos, Theater etc.) zusammen mit der Pflicht für alle, in bestimmten Räumen eine Maske zur Bedeckung von Mund und Nase zu tragen, wirklich größere „Eingriffstiefe“ hätte als eine generelle Impfpflicht.

Zur Verhältnismäßigkeit als verfassungsrechtlichem Maßstab

Im Rechtsstaat müssen staatliche Maßnahmen, die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger einschränken, immer verhältnismäßig sein. Staatliche Maßnahmen sind verhältnismäßig, wenn mit ihnen ein legitimer Zweck verfolgt wird, sie geeignet sind, die Ziele des Gesetzgebers zumindest zu fördern, sie erforderlich sind, es also keine genauso effektiven, aber weniger einschränkenden Maßnahmen gibt, und wenn sie verhältnismäßig im engeren Sinne (angemessen, zumutbar, proportional) sind. Die Prüfung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne setzt immer voraus, dass genau bestimmt wird, wie intensiv staatliche Maßnahmen in Grundrechte eingreifen. Diese Bestimmung der Intensität von Grundrechtseingriffen hat mehrere Dimensionen. Die quantitative Dimension besagt: Je mehr Bürgerinnen und Bürger von einem Grundrechtseingriff betroffen sind, desto stärker ist er.11 Die zeitliche Dimension besagt: Je länger Grundrechtseingriffe andauern, desto stärker sind sie. Die qualitative Dimension hat viele Facetten. Sie besagt u.a.: Je weniger grundrechtlich geschützte Freiheit bleibt, je weitreichender die Folgen der Grundrechtseingriffe sind, je weniger transparent Grundrechtseingriffe sind, je weniger sich betroffene Bürgerinnen und Bürger wehren können, desto stärker sind die Grundrechtseingriffe.

Impfpflicht oder Testpflicht – ein Vergleich der „Eingriffstiefe“

Auf dieser Grundlage wollen wir die Intensität von Grundrechtseingriffen durch eine allgemeine Impfpflicht mit der Intensität von Grundrechtseingriffen durch eine allgemeine Testpflicht vor dem Besuch bestimmter Einrichtungen oder Veranstaltungen, ergänzt durch Maskenpflicht und Abstandsgebot vergleichen.

Eine allgemeine Testpflicht vor dem Besuch bestimmter Einrichtungen und Veranstaltungen ist sicher lästig. Doch es ist schon quantitativ ein relativ geringer Grundrechtseingriff, weil nur diejenigen betroffen sind, die eben solche Einrichtungen und Veranstaltungen besuchen wollen. Auch in der zeitlichen Dimension ist der Eingriff gering, die betroffenen Bürgerinnen und Bürger müssen nur einige Minuten Zeit aufwenden, um solche Tests durchführen zu lassen und das Ergebnis abzuwarten. Und wenn wir den Grundrechtseingriff nach qualitativen Kriterien bewerten, kommen wir ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Eingriff nur geringe Intensität hat: Wer negativ getestet wurde, darf die Einrichtungen und Veranstaltungen besuchen und muss allenfalls in Kauf nehmen, eine Maske zu tragen und Abstandsgebote einzuhalten. Wer positiv getestet wurde, darf die Einrichtungen und Veranstaltungen nicht besuchen und muss ggf. weitere Tests durchführen oder Quarantäne erdulden. Das lässt sich aber sehr gut rechtfertigen mit dem Gesundheitsschutz des Betroffenen und der anderen Bürgerinnen und Bürger und trifft nur wenige. Zudem ist der Verfahrensablauf transparent. Dass Veranstalter und Betreiber bestimmter Einrichtungen einen gewissen Aufwand zur Kontrolle von Testergebnissen haben, ist nicht zu leugnen. Doch erscheint dieser Kontrollaufwand vertretbar: Warum sollte es unverhältnismäßig sein, zusammen mit der Eintrittskarte ein aktuelles namensbezogenes Testzertifikat zusammen mit dem Personalausweis vorzeigen zu müssen? Und nur am Rande: Da auch Geimpfte anstecken und angesteckt werden können, erreicht man mit einer umfassenden Testpflicht insgesamt ein Mehr an Gesundheitsschutz.

Demgegenüber ist die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen Covid-19-Erkrankungen ein schwerwiegender Grundrechtseingriff. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein zentrales Grundrecht, weil es Grundlage für die Wahrnehmung aller grundrechtlich geschützten Freiheiten ist. Das Grundrecht auf Selbstbestimmung über körperliche Eingriffe ist Teil des Persönlichkeitsrechts, das selbst im Grundrecht auf Menschenwürde beruht, dem nach überwiegend vertretener Meinung12 einzigem Grundrecht, bei dem selbst vermeintlich geringfügige Grundrechtseingriffe verfassungswidrig sind.13

Eine allgemeine Impfpflicht für alle volljährigen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist in quantitativer Hinsicht ein massiver Grundrechtseingriff. Das Impfen selbst mag zwar mit einem relativ geringen Zeitaufwand verbunden sein, die Folgen des Impfens können jedoch lebenslang wirken, während die Schutzwirkungen bereits nach wenigen Wochen, spätestens Monaten deutlich nachlassen. Und selbst wenn aus medizinischer Sicht die gesundheitlichen Risiken des Nichtimpfens die gesundheitlichen Risiken des Impfens überwiegen sollten, muss es die Entscheidung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger bleiben, für sich selbst diese Risikoabwägung vorzunehmen. Der Einwand, dass diese Entscheidung im Hinblick auf das Ansteckungsrisiko auch andere betreffe, kann nicht überzeugen. Auch Geimpfte können andere anstecken und es gibt in Form einer umfassenden Testpflicht für alle, die bestimmte Einrichtungen nutzen oder bestimmte Veranstaltungen besuchen wollen, eine weniger in Grundrechte eingreifende Strategie. Die Umsetzung dieser Strategie führt sogar zu einem insgesamt höheren Gesundheitsschutz. Denn sie schützt auch die ansteckenden Geimpften und andere vor Ansteckungen durch Geimpfte.

Fazit

Die Argumentation, nach der es keine Alternative zur Impfpflicht gebe, die nicht noch stärker Freiheiten beschränke und zumindest ebenso effektiv sei, ist nicht haltbar. Wer das bezweifelt, möge die Inzidenzwerte in den Ländern mit Impfpflicht mit den Inzidenzwerten in Schweden vergleichen.14

1 Siehe etwa https://kurier.at/wissen/gesundheit/groesste-studie-bisher-so-stark-schuetzt-die-impfung-vor-schweren-verlaeufen/401765745 (2012.2021).

2 Man denke hier nur an die Erosion der Arbeitslosenversicherung, der Rentenversicherung und der Krankenversicherung.

3 Grundrechtseingriffe liegen nicht nur vor, wenn gezielt grundrechtlich geschützte Freiheiten beschränkt werden. Grundrechtseingriffe liegen selbst dann vor, wenn solche Freiheiten mittelbar beschränkt werden, also die Wahrnehmung von Freiheiten faktisch erschwert wird.

4 Eine Variante des Arguments lautet: Die Impfpflicht sei die mildere Alternative im Vergleich mit einem Lockdown.

5 Der Sache nach handelt es sich um die Prüfung der Geeignetheit einer staatlichen Maßnahme als Voraussetzung ihrer Verhältnismäßigkeit.

6 Staatliche Maßnahmen sind nicht nur dann geeignet, wenn sie bestimmte Zwecke erfüllen. Staatliche Maßnahmen sind schon dann geeignet, wenn sie die mit ihnen verfolgten Zwecke zumindest fördern. Das ist erst dann zu verneinen, wenn von vornherein feststeht, dass die Maßnahmen die mit ihnen verfolgten Zwecke gar nicht erfüllen können.

7 Siehe dazu das Interview des NDR mit dem Immunologen Drosten https://m.youtube.com/watch?fbclid=IwAR2aHXPxf2ZKiM5VSS-wt2o6JCNXKTNEtjxPwzh2LERTseoUJ-2vUY5ntOY&v=0Ut1c8t1mZc&feature=youtu.be (21.11.2021).
In diesem Interview erklärt Drosten, dass nach vollständiger Impfung „eigentlich“ der Körper die Immunabwehr übernehmen müsse. Gleichwohl scheint Drosten sich inzwischen ebenfalls für sogenannte Auffrischungsimpfungen auszusprechen. Der Grund: Die vorhandenen Impfstoffe wirken nur zeitlich begrenzt und nicht gegen alle Mutationen und Varianten der Erreger. Gleichwohl soll eine allgemeine Impfpflicht gelten?

8 Das Argument, man müsse bestimmte Meinungen vom öffentlichen Diskurs ausschließen, um keine falsche Balance zu erhalten, ist nicht haltbar. Man stelle sich nur vor, Galileo Galilei und seine Nachfolger wären auf Dauer gar nicht zu Wort gekommen: Möglicherweise würden selbst heute noch einige denken, die Sonne kreise um die Erde. Im Übrigen kann nur erstaunen, dass fremde Staaten immer wieder und zurecht für ihre Unterdrückung nicht genehmer Meinungen kritisiert werden, im eigenen Land aber hinter den Kulissen entschieden werden darf, welche Meinungen denn für überhaupt noch diskussionswürdig gelten dürfen.

9 Wer Impfskeptiker nicht nur als „Verschwörungstheoretiker“, „Aluhutträger“, „Rechtsradikale“ oder „Spinner“ abtun möchte, sondern zur sachlichen Auseinandersetzung bereit ist, sei beispielsweise auf

https://auf1.tv/aufrecht-auf1/dr-wodargs-appell-an-geimpfte-nehmen-sie-auf-keinen-fall-noch-eine-spritze/ (29.11.2021) verwiesen. Über Sachkenntnis und Informiertheit der Impfskeptiker informiert aufschlussreich eine Studie des MIT. Siehe dazu https://www.schildverlag.de/2021/08/07/mit-studie-covid-impfskeptiker-sind-hoch-informiert-gesellschaftlich-hochkompetent-und-wissenschaftlich-gebildet/ (20.12.2021).

10 Der Sache nach handelt es sich um die Prüfung der Erforderlichkeit einer staatlichen Maßnahme als Voraussetzung für ihre Verhältnismäßigkeit.

11 Es gilt aber nicht der Umkehrschluss: Je weniger Bürgerinnen und Bürger betroffen sind, desto milder ist der Grundrechtseingriff! Denn Grundrechte sind gerade auch Rechte von Minderheiten.

12 Einige Verfassungsrechtler meinen, dass in wenigen Ausnahmefällen selbst in das Grundrecht auf Menschenwürde eingegriffen werden darf. Dieser Streit spielt im Zusammenhang mit Corona-Schutzmaßnahmen keine Rolle.

13 Die Besonderheit des Grundrechts auf Menschenwürde folgt u.a. aus der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG.

14 https://www.n-tv.de/panorama/Warum-hat-Schweden-die-niedrigste-EU-Inzidenz-article22947411.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE (29.11.2021)
An der Impfquote liegt es nicht: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-schweden-sonderweg-inzidenz-100.html (29.11.2021) These: An der Bevölkerungsdichte liegt es! Eben! Einfach nur Abstand halten, soweit das möglich ist.

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