Zur Ungleichbehandlung von Nichtgeimpften

ein Beitrag von Hans-Christoph Loebel

Lesedauer 6 Minuten
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Die Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG

Neulich soll ein ehemaliger Generalsekretär der CDU folgendes gesagt haben:
Aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebe sich: Gleiches müsse gleich, Ungleiches müsse ungleich behandelt werden. Geimpfte und Nichtgeimpfte seien ungleich. Also müssten auch Geimpfte und Nichtgeimpfte ungleich behandelt werden. Mit dieser Schlussfolgerung sollten dann alltägliche Nachteile für Nichtgeimpfte gerechtfertigt werden. Eine solche Argumentation führt Art. 3 Abs. 1 GG ad absurdum. Wenn nämlich irgendeine Ungleichheit von Personen zu jeder beliebigen Ungleichbehandlung dieser Personen führen dürfte, wäre durch Art. 3 Abs. 1 GG Willkür letztlich gar geboten, jedenfalls erlaubt, während der allgemeine Gleichheitssatz stattdessen staatliche Willkür im Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern gerade ausschließen soll.

Die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes:
Rechtfertigungsgründe für eine Ungleichbehandlung Nichtgeimpfter

Die richtige Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG führt demgegenüber zu folgender Frage:

Rechtfertigt die konkrete Ungleichheit (die einen sind geimpft, die anderen sind nicht geimpft) die konkrete Ungleichbehandlung (die einen dürfen Museen, Konzerte, Theater, Kinos, Sportveranstaltungen, Restaurants … besuchen, die anderen nicht)?

Rechtfertigungsgrund 1: Die Ansteckungsgefahr für die eigene Person (Selbstgefährdung)

Rechtfertigungsgrund 2: Die Überlastung des Gesundheitssystems (Inanspruchnahme zu vieler Intensivpflegebetten)

Rechtfertigungsgrund 3: Die Ansteckungsgefahr für andere Personen (Fremdgefährdung)1

Die Selbstgefährdung

Rechtfertigungsgrund 1 kann nicht überzeugen. Denn wie alle Bürgerinnen und Bürger selbst entscheiden dürfen, ob sie einen Berg über 8000 Meter Höhe besteigen, Bungeejumping betreiben oder barfuß durch die Wüste oder zum Nordpol gehen, so dürfen sie auch selbst entscheiden, ob sie sich bestimmten Gesundheitsgefahren aussetzen oder nicht. Den erwachsenen Bürgerinnen und Bürgern wird ja auch nicht der Genuss von Tabakprodukten, Alkohol oder den vielen ungesunden Lebensmitteln verboten. Regierungen und Gesetzgeber haben bei erwachsenen Personen in der Regel hinzunehmen, dass die Bürgerinnen und Bürger einer Freude oder eines Genusses wegen ein kürzeres Leben in Kauf nehmen. Manchen gelten solche Personen sogar als Helden.

Die Überlastung des Gesundheitssystems

Rechtfertigungsgrund 2 kann nicht überzeugen. Denn seit Jahren werden in der Bundesrepublik Deutschland Krankenhausbetten „abgebaut“. Diesen einst beschlossenen „Abbau“ von Krankenbetten haben die Regierungen mit Beginn der Corona-Pandemie nicht aufgehalten, sondern fortgesetzt. Die Regierungen haben damit selbst erst die Bedingungen geschaffen, die sie zur Rechtfertigung von Freiheitsbeschränkungen der Bürgerinnen und Bürger und zu einer Ungleichbehandlung der Nichtgeimpften gegenüber den Geimpften und Genesenen anführen. Demzufolge sind Freiheitsbeschränkungen und Ungleichbehandlung unverhältnismäßig, weil nicht erforderlich. Es gibt eine Alternative: Den Abbau von Krankenhausbetten unterbrechen oder ganz beenden.

Im Übrigen steigen mit Verbreitung der Omikron-Variante von SARS-Cov-2 zwar die Inzidenzwerte exponentiell, doch der im Allgemeinen mildere Verlauf einer Infizierung führt nur zu einer geringfügig erhöhten Hospitalisierungsrate. Eine Überlastung des Gesundheitssystems ist also – entgegen verbreiteter Panikmache – nicht zu erkennen.2

Sollte es entgegen begründeter Erwartungen tatsächlich zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen, bliebe immer noch offen, ob ausschließlich Nichtgeimpfte für eine signifikant erhöhte Hospitalisierungsrate sorgen würden. Mit dem Rechtfertigungsgrund 2 könnte implizit behauptet werden, dass lediglich Nichtgeimpfte infolge von Covid-19-Erkrankungen intensivmedizinische Behandlung benötigten. Das wäre aber dezidiert falsch. Auch Geimpfte können schwer an Covid-19 erkranken. Hilfsweise könnte dann allerdings immer noch behauptet werden, dass Nichtgeimpfte jedenfalls häufiger und schwerer an Covid-19 erkranken als Geimpfte, also überproportional für die signifikant erhöhte Hospitalisierungsrate sorgen würden. Selbst wenn dies wahr sein sollte, würde das die Ungleichbehandlung von Nichtgeimpften durch Ausschluss von dem Besuch bestimmter Einrichtungen nicht rechtfertigen. Denn es bedürfte in diesem ohnehin höchst unwahrscheinlichen Fall des Nachweises, dass just durch diese zur Ungleichbehandlung führenden 2G-Regelungen die Hospitalisierungsrate sinken würde. Das wäre aber keineswegs plausibel. Warum sollte es ausgerechnet in den Einrichtungen, die Nichtgeimpfte derzeit nicht besuchen dürfen, ein erhöhtes Infektionsrisiko geben? Infizieren sich in den Geschäften des Einzelhandels tatsächlich mehr Menschen als beispielsweise am Arbeitsplatz, in der Familie oder in öffentlichen Verkehrsmitteln? Und könnte ein erhöhtes Infektionsrisiko in diesen Geschäften wirklich nur durch den Ausschluss von Nichtgeimpften bekämpft werden?

Die Fremdgefährdung

Rechtfertigungsgrund 3 lässt sich nicht so leicht bewerten. Hier sind zunächst zwei Sachverhalte zu unterscheiden:

Sachverhalt 1: Die Fremdgefährdung bei im Wesentlichen gleicher Gefährlichkeit von Geimpften und Nichtgeimpften

Nach dem Sachverhalt 1 sind Geimpfte wie Nichtgeimpfte für dritte Personen gleichermaßen gefährlich. Es gibt also keine signifikanten Unterschiede von Geimpften und Nichtgeimpften im Hinblick auf Ansteckungsgefahren für andere Personen.3 Die Fremdgefährdung ist gleich.

Wenn der Sachverhalt 1 richtig ist, gibt es keinen rechtfertigenden Grund für eine Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften.

Sachverhalt 2: Die Fremdgefährdung bei im Wesentlichen ungleicher Gefährlichkeit von Geimpften und Nichtgeimpften

Nach dem Sachverhalt 2 sind Geimpfte und Nichtgeimpfte für dritte Personen nicht gleichermaßen gefährlich, Nichtgeimpfte sind vielmehr gefährlicher für andere. Es gibt also einen signifikanten Unterschied im Hinblick auf Ansteckungsgefahren für andere Personen. Die Fremdgefährdung ist ungleich.

Notwendige Differenzierungen bei im Wesentlichen ungleicher Gefährlichkeit

Wenn der Sachverhalt 2 richtig ist, sind weitere Überlegungen geboten.

Dabei lassen wir hier einige möglicherweise entscheidungserhebliche Faktoren außer Acht: Das Alter der ansteckbaren Personen, der sozial-ökonomische Status der ansteckbaren Personen, die Qualität des Immunsystems der ansteckbaren Personen, die Vorerkrankungen der ansteckbaren Personen.

Wenn wir vom Sachverhalt 2 ausgehen, sind zwei Szenarien zu unterscheiden.

Sachverhalt 2.1: Die Ansteckungsgefahren lassen sich nicht anders als durch Ausschluss der Nichtgeimpften minimieren

Sachverhalt 2.2: Die Ansteckungsgefahren lasse sich anders als durch Ausschluss der Nichtgeimpften minimieren (Abstandsregeln, Trennwände, Masken auf dem Weg vom und zum Platz/Tisch, reduzierte Zahl von Besuchern etc.)

Wenn wir vom Sachverhalt 2.2 ausgehen, gibt es keinen rechtfertigenden Grund für eine Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften, jedenfalls keinen Grund, sie zwangsläufig ungleich zu behandeln. Denn es geht um die Vermeidung einer Ansteckung für die anderen Personen. Wenn dieses Ziel auf andere Weise als durch den Ausschluss von Nichtgeimpften erreicht werden kann, dann spricht alles dafür, das Ziel auf eben diese andere Weise zu erreichen. Denn es handelt sich um mildere Mittel, der Ausschluss der Nichtgeimpften ist nicht erforderlich.

Wenn wir vom Sachverhalt 2.1 ausgehen, müssen wir erneut differenzieren.

Fall 1: Der Nichtgeimpfte ist gesund
Fall 2: Der Nichtgeimpfte ist genesen
Fall 3: Der Nichtgeimpfte ist infiziert, hat aber keine oder nur geringe Krankheitssymptome
Fall 4: Der Nichtgeimpfte ist infiziert mit erheblichen Krankheitssymptomen

Wenn der Nichtgeimpfte gesund ist, kann er andere Personen nicht anstecken. Ein Ausschluss dieser Nichtgeimpften ist nicht zu rechtfertigen.

Wenn der Nichtgeimpfte genesen ist, kann er – jedenfalls eine Zeitlang – ebenfalls keine anderen Personen anstecken. Ein Ausschluss dieser Nichtgeimpften ist – jedenfalls eine Zeitlang – ebenso wenig zu rechtfertigen.4

Wenn der Nichtgeimpfte infiziert ist, ohne Krankheitssymptome oder nur geringe Krankheitssymptome zu haben, ist eine Ungleichbehandlung unter der Voraussetzung höherer Fremdgefährdung durch Nichtgeimpfte gerechtfertigt.

Nichtgeimpfte mit erheblichen Krankheitssymptomen sind von einem Besuch bestimmter Einrichtungen auszuschließen. Dieser Fall ist allerdings zu vernachlässigen: Wer beispielsweise hohes Fieber oder erhebliche Atemprobleme hat, besucht im Allgemeinen keine Restaurants, keine kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen, keine Geschäfte des Einzelhandels, keine Altersheime.

Ergebnisse

Die nach Fallgruppen differenzierende Analyse hat also ergeben, dass allein die Nichtimpfung kein Grund für den Ausschluss nicht geimpfter Personen sein kann. Das gilt erst recht, wenn bedacht wird, dass durchaus auch Geimpfte andere Personen anstecken können.

Eine Ungleichbehandlung von Nichtgeimpften und Geimpften mit der Folge, dass allein Nichtgeimpften verboten wird, bestimmte Einrichtungen zu besuchen, wäre nur unter folgenden Voraussetzungen gerechtfertigt:

  1. Nichtgeimpfte gefährden andere Personen signifikant stärker als Geimpfte, haben also eine höhere Fremdgefährdung.
  2. Die von Nichtgeimpften ausgehende höhere Fremdgefährdung kann nur durch ein Verbot, bestimmte Einrichtungen zu betreten, minimiert werden.
  3. Eine Unterscheidung unter den Nichtgeimpften nach den genannten Fallgruppen ist nicht praktikabel.

Jedenfalls die letztgenannte Voraussetzung ist nicht erfüllt. Genesenen kann attestiert werden, dass sie genesen sind und somit für eine bestimmte Zeit andere nicht stärker gefährden als Geimpfte. Und gesunden Nichtgeimpften kann nach einem seriösen Test ebenfalls attestiert werden, dass sie andere nicht mehr gefährden als Geimpfte.

Das Ergebnis: Die Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften mit der Folge, dass letzteren der Zugang zu bestimmten Einrichtungen verboten ist, ist nicht gerechtfertigt. Die in den Bundesländern verordneten 2G-Regelungen verletzen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.5

1 Es wird gelegentlich noch ein vierter Rechtfertigungsgrund genannt: Die Vermeidung stärkerer Freiheitsbegrenzungen (Lockdowns, Ausgangssperren etc.). Das Argument ist nicht leicht zu bewerten, weil es das Verhältnis grundrechtlich geschützter Freiheit zu grundrechtlich geschützter Gleichheit (Gleichbehandlung) betrifft.

Das hier vorgeschlagene Kriterium zur Bewertung des Arguments ist die Erforderlichkeit stärkerer Freiheitsbegrenzungen im Falle unterbleibender Ungleichbehandlung. Die zur Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften führenden 2G-Regelungen wären also mildere Mittel im Vergleich zu einem sonst erforderlichen Ausschluss aller, auch der Geimpften und Genesenen.

Doch mildere Mittel können immer nur verfassungsmäßige Mittel sein. Wenn staatliche Maßnahmen zu einer sonst nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung führen, dann sind sie verfassungswidrig und können damit auch keine angeblich geringeren Freiheitsbegrenzungen rechtfertigen.

Sollte also die Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften nicht zu rechtfertigen sein und somit gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, kann diese Ungleichbehandlung auch nicht rechtfertigen, dass andernfalls noch stärkere Freiheitsbegrenzungen erforderlich wären.

Zudem ist das Argument der sonst erforderlichen stärkeren Freiheitsbegrenzungen nicht stimmig.

Sollten ohne Ungleichbehandlung (Benachteiligung) der Nichtgeimpften stärkere Freiheitsbegrenzungen gar nicht erforderlich sein, wären sie unverhältnismäßig, also verfassungswidrig.

Sollten ohne Ungleichbehandlung (Benachteiligung) der Nichtgeimpften aber tatsächlich stärkere Freiheitsbegrenzungen erforderlich sein, gibt es zumindest einen Grund für die Erforderlichkeit, der zugleich auch die Ungleichbehandlung von Nichtgeimpften und Geimpften rechtfertigt. Daraus folgt, dass – für sich genommen – die Erforderlichkeit stärkerer Freiheitseingrenzungen im Falle unterbleibender Ungleichbehandlung kein rechtfertigender Grund für die Ungleichbehandlung ist.

2 Siehe dazu die zahlreichen Nachweise bei Volker Boehme-Neßler, Ist eine allgemeine Impfpflicht gegen das SARS-Cov-2 verfassungsgemäß? Rechtsgutachten im Auftrag von Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V., S. 51 Fn. 138 ff.

3 Es spricht vieles dafür, dass die Fremdgefährdung durch Nichtgeimpfte nicht signifikant höher ist als durch Geimpfte. Siehe dazu mit zahlreichen Nachweisen Volker Boehme-Neßler, a.a.O., S. 38 f.

4 Sollte sich aus medizinischer Sicht herausstellen, dass auch Genesene andere Personen anstecken können, würde sich am Ergebnis nichts ändern, solange die Fremdgefährdung durch Genesene nicht höher ist als die Fremdgefährdung durch Geimpfte.

5 Im Ergebnis ähnlich beispielsweise das OVG Lüneburg, das in seinem Beschluss vom 16.12.2021 (13 MN 477/21) die 2G-Regelungen für den Einzelhandel in Niedersachsen vorläufig außer Kraft gesetzt hat; siehe dazu http://www.dbovg.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=MWRE210004286&st=ent&doctyp=juris-r&showdoccase=1&paramfromHL=true#focuspoint (06.02.2022). Das Gericht meinte, die 2G-Regelungen seien keine notwendigen Schutzmaßnahmen im Sinne von § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Zur Pressemitteilung: https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/vorlaufige-ausservollzugsetzung-der-2-g-regelung-im-einzelhandel-207054.html (06.02.2022)

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