Wir brauchen eine neue Kommunikation in der Medizin

Ein Gastbeitrag von Tristan Nolting

Lesedauer 5 Minuten
Portrait des englischen Arztes Thomas Sydenham (1624-1689) von Mary Beale

Wann hat es eigentlich in der Medizin angefangen, dass Menschen nur noch als Körper betrachtet werden? Wieso kann die moderne Medizin kaum einen wirklichen Beitrag zur Prävention leisten? Und gibt es möglicherweise schlüssige Alternativen zur derzeitigen Medizintheorie, die den Behandlungserfolg so verbessern, dass das Gesundheitssystem auch in Krisenzeiten resilienter wird?

Medizin in der Form, wie heute geforscht und praktiziert wird, ist eindeutig nicht der Weisheit letzter Schluss. Sie ist das Ergebnis eines wissenschaftshistorischen Prozesses, welcher der stetigen Weiterentwicklung unterworfen ist. In Krisenzeiten lässt sich am besten prüfen, ob die dominanteste Medizintheorie – in den westlichen Ländern die Biomedizin – den besten Erfolg bei Diagnose, Prävention und Therapie leistet. Und die COVID-19-Pandemie hat ganz eindeutig die Schwachstellen der bisherigen Medizintheorie aufgezeigt. Oder wie Prof. Dr. Dr. Schubert es im Gespräch mit Gunnar Kaiser ausgedrückt hat: „Das ist die größte Krise der westlichen Medizin!“

Wir haben seit Beginn der COVID-19-Pandemie gemerkt, dass die Reduzierung des Menschen auf den Körper zu erheblichem Schaden geführt hat, dessen Ausmaß erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vollständig erkennbar wird. Wir haben gemerkt, dass die Ignoranz der körpereigenen Abwehr zu einer immer weiteren medizintechnischen Abhängigkeit von neuartigen Impfstoffen geführt hat, deren Einsatz bei COVID-19 erst den Beginn einer neuen Form von Therapie und Prävention markiert hat – die Anwendung bei anderen Erkrankungen wie Krebs wird derweil schon erprobt. Und vielleicht am wichtigsten: Wir haben gemerkt, dass die Kommunikation über Viren – oder besser gesagt den Kampf gegen „den unsichtbaren Feind“ – aus einem fatalen Blickwinkel geschieht. Nämlich einem Blickwinkel, der den Menschen in seiner Ganzheit und Würde zu einer linearen, seelenlosen Maschine reduziert.

Wider besseren Wissens!

Diese Sichtweise ist vornehmlich ein Produkt des 18. / 19. Jahrhunderts, welches im Kampf zwischen den verschiedenen vitalistischen und mechanistischen Schulen entstanden ist. Während vitalistische Anhänger wie Georg Ernst Stahl (der das Denken von Friedrich Schiller wesentlich prägte) und Thomas Sydenham den Animismus neu in die Medizin einführten und damit der Seele bzw. dem Geist eine maßgebende Bedeutung bei der Pathogenese beimaßen, konzentrierten sich mechanistische Denker der Wiener und Pariser Schule (etwa Giovanni Morgagni oder Rudolf Virchow) aber auch deutsche Forscher wie Robert Koch und Paul Ehrlich auf biologische (physiologisch und anatomische) Grundlagenforschung, dessen Ziel es sein sollte, Krankheit als lokale und kausal-determinierbare Störung des Körpers zu erklären.

Noch immer dominiert das mechanistisch-empirische Denken die Medizin – die vom Philosophen Rene Descartes im 17. Jahrhundert geschaffene Grundlage (Trennung zwischen Körper und Geist: Cartesianismus) führte zu erheblichen Fortschritten in der Kenntnis über den Körper. Den Fortschritten in Zellbiologie, Chemie und auch medizinischer Physik ist es zu verdanken, dass wir den Körper heute in seinen verschiedenen Systemen (zentrales Nervensystem, endokrines System, Immunsystem etc.) denken können.

Jede medikamentöse Behandlung beruht auf der Prämisse, in die Regelkreisläufe der verschiedenen Körpersysteme eingreifen und bestehende Schwachstellen ausgleichen zu können. Doch die von Sydenham (der auch als „englischer Hippokrates“ bezeichnet wurde) und anderen geäußerte Kritik über den „Abgrund der Kausalitäten“, der sich angesichts der reinen Betrachtung des Körpers öffnet und die bisher unwiderlegte These, dass das Funktionieren des menschlichen Organismus nicht nur auf Mechanismen reduziert werden kann, wird heute, in einer Zeit eines nahezu übermächtigen pharmazeutisch-technisch-wirtschaftlichen Komplexes, bei dem der Arzt mehr und mehr eine Rolle als Konsument und Unterhändler einnimmt (wie die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger es nannte), wichtiger denn je.

Biologie und Leben

Es war kein Geringerer als Ludwig von Betalanffy, Begründer der System-Theorie, der ebene jene Auffassung teilte: das Lebendige am Menschen geht durch die reduktionistische Sichtweise komplett verloren; die Biologie wird zu einer sehr beschränkten Physik, das Subjekt zum Objekt degradiert. So hat Bertalanffy den Streit zwischen Vitalismus und Mechanismus im 20. Jahrhundert zu lösen versucht, indem er den „Organismus“ postuliert hat, der in der Theorie beide Positionen in einem übergeordneten Kontext als gleichwertig koexistierten lässt. Oder, wie ich es in meinem Essay formulierte: „So sind weder Mechanismus noch Vitalismus falsch, beide Positionen werden in einem übergeordneten Rahmen betrachtet, in welchem die Qualität des Lebens nicht zu einem Epiphänomen der Naturwissenschaft verkommt, sondern die Erhaltung und Weiterentwicklung des Lebens als logisches telos aufgefasst wird.“ [1]

Was wir daraus schließen können, ist, dass die heutige hauptsächlich mechanistische Prämisse der Biomedizin zu eingeschränkt ist, um die Ätiopathogenese (Lehre von der Entstehung von Krankheiten) zufriedenstellend zu erklären. Ein Umdenken ist die logische Folge dieser Einsicht.

Eine mögliche Lösung für dieses Dilemma bietet das interdisziplinäre Biopsychosoziale Modell, 1977 vom Internisten George L. Engel postuliert, in welche auch die System-Theorie und Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie eingearbeitet sind und welche die Möglichkeit bietet, die durch den Cartesianismus begünstigte Zwei-Welten-Theorie (Körper und Geist sind grundsätzlich verschieden) theoretisch wie auch praktisch zu überwinden. Die Prämisse der Biopsychosozialen Medizin (BPSM) ist die Gleichwertigkeit der verschiedenen Seinsbereiche des Menschen – Körper, Geist und (soziale) Umwelt.

Eine Störung ist nicht nur im Körper zu lokalisieren, sondern im Sinne der integrativen Betrachtung von Organismen als ein gleichsames, analoges Wirkgeschehen zu betrachten. Dem Menschen als Manager seines Systems kann eine gewisse autoregulative Selbstkompetenz zugeschrieben werden – er ist der Krankheit demnach nicht hilflos ausgeliefert und von Spezialisten abhängig (kann aber selbstverständlich von Diagnose und Therapie profitieren; mehr dazu im Essay).

Prof. Dr. Josef Egger, Pionier auf dem Gebiet der Biopsychosozialen Medizin, bezeichnet die BPSM als die derzeit kohärenteste Medizintheorie.

Die Biopsychosoziale Sprache

Doch auch wenn diverse Forscher die BPSM als ein erstrebenswertes Ideal auffassen, so gibt es derzeit noch eine überwindbare Hürde, die den Erfolg und die weitere Anwendung des Modells behindert. Anders als in der Biomedizin oder der Psychosomatik gibt es kein einheitliches und logisches Begriffssystem, welches sich Therapeut wie auch Patient bedienen können. So wird in der Biopsychosozialen Medizin eine Entwicklung kritisiert, für die (bisher) keine Lösung geboten wurde.

Hier habe ich einen Versuch unternommen, eine Biopsychosoziale Terminologie zu finden, bei der alle Begrifflichkeiten nicht nur gleichsam biologisch, psychologisch und öko-sozial betrachtet werden können, sondern die auch der Arzt-Patienten-Beziehung dienlich ist. Denn ein Fachjargon wie in der Biomedizin schafft eine hierarchische Ordnung im Gesundheitswesen, bei der der Arzt aufgrund seines Wissens in eine Bevormundungsstellung gerät. Eine wiederum rein symbolische und volkstümliche Terminologie, wie sie in der Psychosomatik praktiziert wird, lässt empirisch feststellbare Merkmale außer Acht. Wären jedoch Begrifflichkeiten vorhanden, die sowohl eine empirische Grundlage haben als auch ein subjektiv-intuitives Gespür ermöglichen, wäre ein verbesserter Behandlungserfolg die logische Konsequenz:

„Am Anfang einer jeden Behandlung, sogar einer jeden Krankheit steht der Ausdruck. Das Leid, der Schmerz, das Unwohlsein will vom Patienten beschrieben werden. Durch die Schaffung einer gemeinsamen Wirklichkeit (vgl. Uexküll) kann der Arzt nicht nur genauere Diagnosen erstellen und Therapien verschreiben, der Patient kann sich auch besser verstanden fühlen. Carl R. Rogers, Begründer der personenzentrierten Gesprächstherapie, erkannte ähnlich wie Uexküll: ‚Es ist die Beziehung, die heilt.‘“

In der von mir vorgenommenen Aufteilung in pathogenetische (Stress, Schmerz, Trauma) und salutogenetische Elemente (Kohärenz, Bedürfnisse, Resilienz, Selbstwirksamkeit, Ressourcen, Coping, Spontanität) gelingt die Schaffung eines einheitlichen Fundus, aus dem Patienten wie Therapeuten gleichermaßen schöpfen können. Weitere Informationen hierzu findest du in meinem Essay.

Die kurze Einführung sollte aufzeigen, weshalb eine psychosoziale Erweiterung der derzeitigen Medizin notwendig ist – und ganz besonders wie eine Überwindung der Zwei-Welten-Theorie mit einer Biopsychosozialen Sprache gelingen kann. Die COVID-19-Pandemie kann als Lektion dienen, was für Krisen dem Gesundheitswesen in Zukunft drohen, wenn weiterhin das Wesen des Menschen auf den Körper reduziert wird. Und wie die gleichsame Berechtigung des biologischen, psychologischen und öko-sozialen Bereichs das Leben nicht nur länger und wohlständiger, sondern auch lebenswerter machen kann.


[1]  S. 19, Nolting, T. (2022). Der Biopsychosoziale Code ­– Sprache der Medizin des 21. Jahrhunderts. ResearchGate, Open-Access. URL: https://www.researchgate.net/publication/365892330_Der_Biopsychosoziale_Code_-_Sprache_der_Medizin_des_21_Jahrhunderts

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