Teil 2v2: Der übliche Missbrauch der Lohnarbeit wird durch KI verschärft
Ein Tagungsbericht von Katja Leyhausen
Lesedauer 10 Minuten
Was man im YouTube-Video-Stream vom KI-Gegengipfel am 10. Februar 2025 in Paris nicht sieht, ist dessen Eröffnung. Die üblichen Medien, die allesamt KI-freundlich sind, machten eine Nachricht daraus: Die Veranstaltung sei von militanten Anti-Tech-Aktivisten (Anti-tech Résistance) gleich zu Beginn „gestürmt“ worden. Sie protestierten gegen die Ressourcenausbeutung und gegen die massive gesellschaftliche Überwachung unter Einsatz der KI, zuletzt bei den Olympischen Spielen in Paris. Die Zeitungen schrieben: Die Aggressionen hätten die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, gezwungen, den Ort schon vor ihrer Begrüßungsrede verlassen zu müssen. Nur die Direktorin des Théâtre de la Concorde habe noch die Unterstützung durch die Stadt bekunden können. Sogar die Besucher des Protestgipfels seien über diesen Protest empört gewesen.
Spalte und herrsche
Im Rahmen der regulären Veranstaltung werden an diesem Tag die beiden jungen Übersetzerinnen, die weiterhin viel lieber übersetzen würden als die „generative KI“ wie Kindergärtnerinnen beaufsichtigen zu müssen, die überzeugendsten Widerständlerinnen abgegeben haben: Pauline Tardieu-Collinet von der Protestvereinigung En cher et en os (Aus Fleisch und Knochen) und Laura Hurot von IA-lerte générale (Allgemeiner KI-Alarm) riefen zur Sabotage nach dem Vorbild Émile Pougets auf.
Die anwesenden Syndikate kennen den Anarchisten und Gründer des KP-nahen französischen Gewerkschaftsbundes CGT mit Sicherheit. Pougets Motto hieß: „Für schlechten Lohn schlechte Arbeit“ – wie sie bspw. die Lyoner Seidenweber nach der Julirevolution 1830 bei den Fabrikanten ablieferten. Die historische Anekdote kann man in Balzacs Romanreihe Die menschliche Komödie nachlesen. Die Existenzbedingungen für die Weber waren so elend geworden, dass sie die Seide, für die sie bezahlt wurden, mit ölverschmierten Händen herstellten und dadurch wertlos machten. Heute allerdings, so erläutern die Übersetzerinnen, sei für Freiberufler die Sabotage schwierig, denn bei ihnen greife das Prinzip „Spalte und herrsche!“ besonders gut. Es regiere die pure Angst: Wer sich wehrt, landet bei den Übersetzungsagenturen auf einer Blacklist.
Bei den freien Drehbuchautoren, wo auch (wie bei den Übersetzern) doppelt so viel gearbeitet und nur noch die Hälfte verdient wird, gilt die KI unter Umständen sogar als Versuchung, meint Romain Protat vom Syndicat des Scénaristes. Für diese Kollegen heiße das Argument: Nicht die KI ersetzt die Drehbuchschreiber, sondern die Drehbuchschreiber, die die KI beherrschen, ersetzen die Drehbuchschreiber, die das nicht tun. Nicht das Talent, die Ideen, der Stil unterscheiden die Künstler heutzutage mehr voneinander, sondern ihr LinkedIn-Profil. Sie behandeln sich selbst als austauschbares Mobiliar, und die „generative KI“ als neutrales Werkzeug wie einen Fotoapparat. Aber der Fotoapparat gibt ihnen den Ausschnitt der Welt, den sie fotografieren, nicht vor. Das tut die KI, sie sperrt sie in ihre Grenzen und Verzerrungen ein.
Der übliche Missbrauch lohnabhängiger Arbeit wird durch KI verschärft
Im Grunde verschärft die sogenannte „generative KI“ all diejenigen Missbräuche lohnabhängiger Arbeit, die es vorher schon gab und gegen die die Gewerkschaften schon lange antreten. So werden unter Missachtung der Urheberrechte fertige Drehbücher oft ohne Wissen der Autoren hinterrücks verändert. Wenn bspw. einer TV-Serie zwischenzeitlich das Geld ausgeht, dann wird die KI eingesetzt, um das Drehbuch zu kürzen – ohne dass der Autor gefragt würde. Die Produzenten mischen sich oft in den künstlerischen Prozess ein und setzen die Autoren unter Druck. Denn jede Filmproduktion ist eine Wette auf den Geschmack des Publikums. Das Risiko tragen zwar nicht nur der Produzent und der Vertrieb, sondern auch alle anderen, weil die Urheberrechte erst nach der Veröffentlichung und Verbreitung Geld einspielen. Doch die Produzenten meinen, mit der KI das Wettrisiko zu senken, indem sie mit KI-generierten Drehbüchern Effekte und Erfolge im Voraus berechnen. Die Drehbuch-Produktion wird in kleine Aufgaben zerstückelt: Erst muss eine Idee her und eine Story, dann werden die Dialoge dazugeflickt, dann noch ein paar Pointen … Wie die Übersetzer werden auch die Drehbuchautoren nur noch als Techniker für Reparaturen angefragt, die den KI-Fragmenten ein bisschen Ordnung und Leben hinzufügen müssen. Mit der Integrität einer kreativen Schöpfung hat das nichts mehr zu tun.
Content producer statt Journalisten
Der Journalist Éric Barbier von der Gewerkschaft SNJ berichtet von seiner Arbeit bei der Regionalzeitung Est Républicain: Schon seit 2017 ist, unter dem Slogan „Digital first!“, die online-Publikation wichtiger als die print-Ausgaben. Die Berufsbezeichnung für Journalisten ist seitdem auch intern producteur de contenu – content producer. Bei dieser Arbeit sei es im Grunde umgekehrt als bei den Übersetzern und Drehbuchautoren: Die Redakteure werden tatsächlich durch die „generative KI“ ersetzt. ChatGPT „überarbeite“ nach dem Prinzip Copy und Paste die Texte der Lokalreporter. Text, Teaser und Überschriften werden zusammengestückelt. Mittlerweile gibt es Software, die die ganze Seite einrichtet; die Entwicklung ist hier auf dem Weg zur „agentic AI“. Aus dem passiven KI-Assistenten wird ein Akteur. Die Maschine wird autonom, der Mensch ist es nicht mehr. Redakteure, die gegenwärtig noch die KI füttern, programmieren ihre eigene Obszoleszens. Ihre berufliche Funktion haben sie schon verloren – das muss man Barbiers Erfahrungsbericht entnehmen. Denn er sagt: Von den Verträgen, die bspw. die Zeitung Le Monde 2024 mit Open AI und AFP im Januar 2025 mit Mistral AI geschlossen haben, erfuhren die content producer erst aus den Medien.
Bullshit-Jobs statt Leidenschaft der Kunst: KI & Film
In den Tagungsabschnitten zu Stimme, Mikro und Bildern wird die Filmbranche thematisiert. Die traditionellen Berufe, die man bisher für Maske, Kostüm, Beleuchtung und Kameraführung brauchte, verschwinden gerade. Die Schauspieler spielen heute oft ohne jedes Dekor; es wird erst hinterher dazugefügt. Existentiell bedroht sind die Synchronsprecher; sie haben deshalb, unter dem Titel touchepasmavf – Rühr meine französische Synchronversion nicht an!, eine Videokampagne plus Petition initiiert. In Frankreich werden 85% der Kinofilme aus dem Ausland nicht in der Originalversion ausgestrahlt, sondern in der französischen Version (version française, VF); im Fernsehen sind es noch mehr. Aber die französische Kultusministerin hat die Synchronsprecher bis zu diesem 10. Februar immer noch nicht empfangen. Wer sich bei den Ministerien über die „generative KI“ beschwert, der wird mit der lapidaren Antwort abgefertigt, die Regierung habe andere Prioritäten.
Von allen Problemen der neuen KI besonders betroffen seien die Animationsfilme. Frankreich ist weltweit der drittgrößte Produzent von Animationsfilmen für Kinder und Jugendliche; die Branche der bandes dessinés (BD) wird nicht nur in ihrer gedruckten Variante als Herz der französischen kulturellen Identität angesehen. Das verkörpert auf der Tagung die Synchronsprecherin Brigitte LeCordier, deren markante Stimme das französische Publikum aus dem Manga Dragon Ball kennt. Frédéric Maupomé, Comic-Autor und -Zeichner, beklagt den Qualitätsverlust der Produktionen. Bei den Animationsfilmen sei die Informatik schon in den 80ern angekommen, 3D war schon sehr disruptiv. Heute spart die KI 40 bis 70% der Arbeitszeit ein. Dadurch entstehen rein kommerzielle Produkte für ein Durchschnittspublikum, mit einem Durchschnittsinhalt, für den es weder Transparenz noch Verantwortung gibt. Auch hier werden die Künstler nur noch für den Entwurf der ersten Bilder (images initiales) bezahlt. Alles andere macht die „generative KI“. Dass sie immer präsenter wird, bedeutet für die Künstler nicht weniger, als dass sie zunehmend in Konkurrenz mit dem kommerziellen, KI-generierten Durchschnitt treten müssen, um ihre Arbeit verkaufen zu können. Auch sie arbeiten heute in einer Industrie mit Bullshit-Jobs; vom Anspruch auf Kunst, Kreativität und Leidenschaft bleibt nichts mehr übrig.
„Das Schlimmste ist die Inflation der Inhalte“: KI & Musik
Für die Musik spricht Bertrand Burgalat, Musiker und Präsident der Gewerkschaft SNEP. Er kritisiert in seiner Rede sieben Punkte: Das Schlimmste sei die Inflation der Inhalte: Von 1 Mio Titel pro Woche auf deezer seien 15 % KI-generiert, mit allen ökologischen Problemen der Speicherung und Energieverschwendung, die damit einhergehen. Demnächst könnten es 1 Mio pro Sekunde sein. Manche Musiker versuchen gar nicht mehr, ein Stück zu produzieren, das auch in 10, 15 Jahren noch gehört werden soll. Sie wollen verkaufen – oft subventioniert durch öffentliche Gelder. Ein weiteres Problem sei die „falsche Perfektion“: Schon seit über 40 Jahren werden Hits maschinell produziert; seit 1997 werden die Stimmen der Hits autogetunt. Das macht den Erfolg und das Geschäft mit der Musik berechenbar und ändert unsere Hörgewohnheiten, wie Photoshop unsere Sicht der Bilder und Körper bereits verändert hat. Die Entwertung des Kunstwerks – der kreativen menschlichen Produktion – kommt dazu: Schon vor 25 Jahren wurde der Mythos in die Welt gesetzt, Musik sei, weil sie digital im Internet verbreitet wird, kostenlos zu haben. Die Uberisierung / das Uber-Prinzip, das heißt, die Abhängigkeit der Künstler von der Plattformökonomie, bewirkt, dass im audiovisuellen Bereich (musique à l’image in Filmen, Serien, Dokumentationen, Videospielen, Werbung …) nur noch weniger als 1% der Budgets für Originalmusik ausgegeben wird. Zwangseditionen (éditions coercitives) sind in dieser Industrie die Regel. Der fünfte Punkt sei die statistische Obsession, die aus den Musikern Influencer macht, der sechste die Entmenschlichung, d.h. das Verschwinden der Menschen, Instrumente, Körper von der Bühne. Die Inszenierungen der Olympischen Spiele wurden vollständig als Playback aufgeführt, viele Pop-Konzerte sind zur Hälfte Playback. Man habe heutzutage schon Glück, wenn man auch nur einen Künstler als vollständigen Menschen auf der Bühne zu Gesicht bekommt. Zum Schluss meint Burgalat, dass der, der auswählt, was gespielt wird, heute mehr zu sagen habe, als die Musiker selbst. Wer das alles kritisiere, werde wie ein Kind behandelt. Dabei gehen die Musiker seit 45 Jahren in den Studios mit den Algorithmen um. Sie sind nicht zurückgeblieben oder gegen die Gesetze der Physik und der Harmonie – zumal Musik und Mathematik, also die Algorithmen, sowieso miteinander verwandt sind.
Urheberrecht: Die „kulturelle Ausnahme“-Regelung
Die Urheberrechte erhitzen die Künstler und Journalisten am meisten. Man lebe schließlich im Land von Beaumarchais, der das Urheberrecht erfunden hat. Um sich juristisch zu wehren, setzen sie an diesem 10. Februar auf die exception culturelle – die „kulturelle Ausnahme“-Regelung. Das Gesetz besteht in Frankreich (nach Rücksprache mit der EU) seit 1993; es ermöglicht eine Mindest-Quotenregelung im französischen Radio für französischsprachige Lieder. Wikipedia erläutert: „Das Gesetz besagt, dass Kulturprodukte nicht als profane Handelsgüter behandelt werden dürfen. Kulturgüter und -dienstleistungen hätten einen besonderen, doppelten Charakter: Sie seien einerseits Wirtschaftsgüter und andererseits Träger von kultureller Identität und kulturellen Werten, und stehen somit gegenüber auswärtigen Substituten unter staatlichem Schutz, speziellen Regularien und Förderinteressen.“ Da diese Norm mittlerweile in internationalen Handelsverträgen fest etabliert ist, müsse es doch möglich sein, auf seiner Grundlage eine Quotenregelung für KI-freie Produktionen in den Medien zu etablieren. Sadin meint sogar, exception culturelle habe alle Voraussetzungen zum politischen Schlagwort zu werden. Diesem Vertrauen auf die europäische Gesetzgebung nimmt prompt jemand den Wind aus den Segeln: International mache man sich über solche Ideen bloß lustig, nach dem Motto: „Die Amerikaner erfinden, die Chinesen kopieren und die Europäer wollen regulieren.“
Nachlässigkeit oder Inkompetenz? Die Rechtsstaatlichkeit versagt
Stéphanie le Cam, Juristin und Generaldirektorin der Gewerkschaft für Buchautoren (Ligue des Auteurs Professionnels), bestätigt das Misstrauen in die europäische Rechtsstaatlichkeit. Alle gesetzlichen Instrumente, die man für den Umgang mit der „generativen KI“ braucht, seien schon da. Man müsste sie anwenden, doch es fehlt der politische Wille. Die Urheberrechte seien international eigentlich geschützt, sie werden aber ausgebeutet für die KI. Es ist überall wie bei den Zeichnern und Übersetzern: Auch die Texte der Buchautoren werden geplündert; im Gegenzug bekommen sie synthetische Texte zurück, mit denen sie in Konkurrenz treten müssen und die ihre menschliche Arbeit im Wert mindern.
Sie erklärt die Geschichte der gesetzlichen Regelung: Ausnahmen des Urheberrechts, die darin bestehen, dass der Inhaber der Rechte die Nutzung seiner Werke nicht im Vorhinein autorisieren muss, gab es schon immer, bspw. für Zitate und private Kopien. 2019 wurde durch eine europäische Direktive dieselbe Ausnahme für Text-&Data-Mining (TDM) beschlossen. Erst seit dem Erscheinen der „generativen KI“ 2022 allerdings sind die Folgen zu sehen. Möglicherweise haben die Gesetzgeber (wissentlich oder unwissentlich) diese Entwicklung, dass die geistige Arbeit wie ein Rohstoff unkontrolliert ausgebeutet wird, selbst ausgelöst.
Absicht unterstellt die Juristin nicht. Die Intransparenz der Gesetzgebungsverfahren thematisiert sie nicht. Kein Wort über Korruption und Interessenkonflikte etwa eines Thierry Breton, der als CEO u.a. bei France Telecom und Atos große Übernahme-Deals machte, in der Zeit zwischen diesen beiden Jobs den französischen Finanzminister abgab und schließlich zum EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen gemacht wurde. Die wahre Ursache für die falsche europäische Gesetzgebung seien die Tech-Lobbyisten, die in den europäischen Institutionen genauso wie in der französischen Regierung ein- und ausgehen. Sie gestalten die Gesetzesvorlagen maßgeblich mit und streichen aus ihnen jeden juristischen Hebel, so die Juristin. Als Sinnbild gilt ihr Elon Musk, der sich im Weißen Haus quasi wohnlich eingerichtet habe.
Die Frage, ob Nachlässigkeit oder Inkompetenz zur TDM-Ausnahmeregelung geführt habe, müsse aber gestellt werden. Die Gesetzgeber der EU haben in der Regel zwei Tage, um technisch und juristisch hochkomplexe Dossiers durchzuarbeiten. Die Gewerkschaftsjuristin weiß, wovon sie spricht, weil sie ja dieselben Dossiers in derselben Zeit verfolgen muss. Durch den Zeitmangel ist die Nachlässigkeit oder auch Schlampigkeit institutionalisiert. Zudem wurde damals, im Jahre 2019, hauptsächlich nur darüber diskutiert, wie der Gewinn aus den KI-Produkten zu verteilen wäre. Das hat vom Urheberrecht abgelenkt, die Zustimmung zum unautorisierten TDM ist im Stillen passiert. Inkompetenz kommt dazu, hat die Juristin beobachtet. Die, die 2019 darüber abstimmten, haben sich über Text-&Data-Mining nicht informiert; sie haben nicht darüber nachgedacht, dass das zu Datenplünderung führen wird. Als es dann später nicht mehr ignoriert werden konnte, hat Breton die Kritiker mit dem Verweis auf das in der Direktive mit beschlossene Optout nur verhöhnt. „Die neuen Regeln ermöglichen es Rechteinhabern, der Nutzung ihrer Inhalte für TDM-Zwecke zu widersprechen“. Doch genau mit diesem Optout-Verfahren, so die Juristin, wurde ja das Urheberrecht ausgehebelt. Das rechtliche Prinzip wurde umgedreht. Anstatt die Autoren vorher nach ihrer Erlaubnis zu fragen, gilt jetzt: Wenn ihr nicht einverstanden seid, dann seht zu, wie ihr da selbst wieder rauskommt. Das Fazit der Juristin ernüchtert: Das Recht müsse von einem wirklichen Rechtsstaat geschützt werden und das passiere nicht mehr.
Gemeinsam organisierter Widerstand oder kollektive Verantwortung?
Ein Charakteristikum der Veranstaltung, deren Redner fast alle aus einer Gewerkschaft kamen, war, dass immer wieder zur „kollektiven Verantwortung“ und zum „kollektiven Engagement“ aufgerufen wurde – ob nun von den freiberuflichen Übersetzerinnen oder dem Musiker. Dass sich Angestellte und Freischaffende politisch organisieren und zusammenschließen, das ist fraglos notwendig. Allerdings führt die gewerkschaftliche Vorstellung von der Kollektivität des Individuums auch zu solchen Vorschlägen wie dem der Juristin: Sie traut zwar der europäischen Rechtsstaatlichkeit kaum noch etwas zu, fordert aber dennoch Regulierung und Sanktionierung. Öffentliche Subventionen für die Kunst müssten angepasst werden. Der Preis für die synthetischen, KI-generierten Produktionen müsste hochgetrieben werden: Wer 500 Euro sparen will, indem er für sein Buchcover ein KI-generiertes Bild verwendet, der solle eben trotzdem 500 Euro bezahlen müssen. Niemand hält ihr entgegen, dass sich die mächtigen Big-Tech-Oligopole von solchen Geldbeträgen bestimmt nicht einschüchtern lassen werden. Wenn die Gewerkschafter an ihrem Tag des Protests gegen Regierung, EU und Big Tech solche Sanktionen im Namen der „kollektiven Verantwortung“ fordern, dann würde das nur zu Lasten genau derjenigen freien Künstler und Kleinunternehmen gehen, deren Interessen sie vertreten wollen.
„Wir laufen auf dem Kopf“
„Wir laufen auf dem Kopf“, so fasst Sadin die Tagung dann auch zusammen. Er meint: All das, was besprochen worden ist, interessiere nämlich beim AI-Gipfel im Grand Palais niemanden. Die gewählten Volksvertreter der französischen Regierung reagieren bloß mit „Indifferenz, Verachtung, Zynismus“. Statt politisch zu diskutieren, wollen sie vorentschiedene Programme optimieren. Das zeige die Demokratiefeindlichkeit des Industrialisierungsprojekts.
Bezeichnenderweise rechtfertigte Sadin seinen Gegengipfel ausdrücklich selbst damit, dass zu Zivilisation und Demokratie ein pluralistischer Diskurs gehöre. So sehr sind Diskurs und Demokratie schon in der Defensive, dass man diese Selbstverständlichkeit zur Selbstrechtfertigung herausstellen muss! Sadin meint: Es ist ein Kampf um die kulturelle Hegemonie, den wir eigentlich bereits total verloren haben. In Gegenwart der bekannten Massenmedien (AFP, Le Nouvel Observateur, Le Monde, Libération …) formuliert der Philosoph als Hauptforderung: Man müsste – im Jahre 2025 endlich! – eine Charta beschließen, in der ethische Standards der Arbeit in den Berufen von Bildung und Kunst niedergelegt werden, eine Art neuer Menschenrechtscharta.
Man kann allerdings nach der 6-stündigen Tagung auch noch zu einem anderen Ergebnis gelangen: Es braucht viel mehr individuelle Reflexion und Verantwortung, mehr Sabotage des Smartphone- und KI-Gebrauchs mindestens im privaten Alltag und vermutlich deutlich mehr laute Anti-Tech-Aktionen nach Vorbild der friedlichen Aktion von Anti-Tech-Résistance am 10. Februar 2025 im Théâtre de la Concorde.
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