eine Rezension von Eugen Zentner
Lesedauer 4 MinutenUm die Meinungsfreiheit ist es in Deutschland derzeit schlecht bestellt. Es grassiert die Cancel Culture. Was von vorherrschenden Narrativen abweicht, wird ausgemerzt. Wer eine entgegengesetzte Meinung vertritt, darf an dem öffentlichen Diskurs nicht teilnehmen. Sogenannte Fakten-Checker und diverse Redaktionen erheben den Anspruch auf Deutungshoheit, indem sie mit diskriminierenden Strategien den Debattenraum immer weiter verengen. Das gefährdet sowohl die Demokratie als auch die pluralistische Ausrichtung der Gesellschaft, weshalb eine Rückkehr zu einer offenen und respektvollen Diskussionskultur notwendig ist.
Dieses Ziel verfolgt unter anderem der Westend Verlag, der die Reihe «Streitfragen» ins Leben gerufen hat. Im Mittelpunkt jeder Ausgabe steht ein umstrittenes Thema, zu dem zwei Autoren eine jeweils entgegengesetzte Position beziehen. Dabei soll es jedoch nicht um Angriff und Verteidigung gehen, sondern darum, beiden Betrachtungsweisen genügend Platz zur Entfaltung einzuräumen. Deswegen werden beide Beiträge ohne Kenntnis des jeweils anderen verfasst. Mit dieser Herangehensweise möchte der Westend Verlag „Lust am Selberdenken und dem Entwerfen einer eigenen Position wecken wie auch das offene Gespräch verteidigen“. Es sei ein großes Gut und Zeichen von Freiheit, dass es andere Standpunkte gibt, die den eigenen in Frage stellen. „Nur so können Gedanken sich formen und umformen“, schreibt der Verlag jedes Mal im Vorwort, „nur so kann Neues entstehen, kann Gesellschaft wachsen und sich entwickeln.“
Das Recht des Kollektivs aufs Organ?
Nachdem in der Vergangenheit Bücher zu den Themen „Wachstum“, „Digitalisierte Gesundheit“ und „Transhumanismus“ erschienen sind, beschäftigt sich die jüngste Ausgabe mit der „Organspende“. Als Autoren treten die Biologin, Humangenetikerin und Ethikerin Sigrid Graumann und der Philosoph Dieter Birnbacher auf. Letzterer spricht sich in seinem Beitrag dafür aus, die Bereitschaft zur Organspende „nicht nur als eine löbliche und wünschenswerte Handlung zu begreifen, sondern nicht weniger als eine moralische Verpflichtung“ zu begreifen. Sie sollte in die „moralische Erziehung der nachwachsenden Generationen aufgenommen als auch gesellschaftlich nach Kräften unterstützt werden“.
In typischer Philosophen-Manier stellt Birnbacher zunächst die Positionen seiner wahrscheinlichen Kritiker vor, um daraufhin seine eigene These argumentativ zu untermauern. Einer der Einwände, so der Autor, dürfte sich darauf beziehen, dass das Postulat einer moralischen Pflicht zur Organspende auf eine Kollektivierung des eigenen Körpers hinausläuft. „Eine Verpflichtung des Individuums, seine Organe für die Transplantation zur Verfügung zu stellen, bedeute nicht weniger, als der Gesellschaft, dem Medizinsystem oder gar dem Staat das Recht zuzuerkennen, sich der Organe des Einzelnen zu bemächtigen. Ein solches Recht komme jedoch einer Teilenteignung gleich“, formuliert Birnbacher die vorweggenommene Gegenposition.
Er selber bindet die moralische Pflicht zur Organspende an das Solidaritätsprinzip und sieht die moralische Dringlichkeit darin, dass durch diese Hilfeleistung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Linderung der Hilfsbedürftigen bewirkt werde. Die Organspende sei „erforderlich, um einer Notlage abzuhelfen, sie ist nach den Umständen zumutbar, und sie ist in der Regel ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten erfüllbar“. Dieses Hauptargument stützt Birnbacher in der Folge in klassischer Begriffsarbeit und streift Aspekte, die vor Augen führen, wie facettenreich das Thema ist. So sollen etwa in Deutschland jedes Jahr knapp zehntausende Schwerkranke darauf warten, eine neue Niere, ein neues Herz oder eine neue Leber zu erhalten. Lebenswichtige Organe sind für eine Transplantation jedoch nur dann nutzbar, wenn sie bis kurz vor der Entnahme durchblutet werden. Aus diesem Grund basiert die Organspende auf dem „Hirntodkriterium“. Als tot gilt ein Mensch, wenn es zu einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall kommt.
Wann ist man wirklich tot?
An diesem Kriterium stört sich Sigrid Graumann in ihrem Beitrag. Die Professorin für Ethik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfallen-Lipp lehnt die Organspende nicht grundsätzlich ab, sieht aber einige grundlegende und schwerwiegende ethische Probleme. Eines davon liege in der Widersprüchlichkeit des Hirntodkriteriums: Um brauchbare Organe transplantieren zu können, dürften die Menschen nicht „wirklich tot“ sein. Außerdem beziehe dieses Kriterium seine Überzeugung daraus, „dass die betreffenden Menschen sich ihrer selbst nicht mehr bewusst sind, sich keine Handlungsziele mehr setzen und keine Wünsche mehr äußern können“. Doch was bedeute das für diejenigen, die diese Kriterien zwar erfüllen, jedoch keinesfalls tot sind“, fragt Graumann: „etwa Wachkomapatienten, Menschen mit geistgien Behinderungen oder solchen einer fortgeschrittenen Demenz.“
Sind die als hirntot Diagnostizierten wirklich tot, fragt die Ethikerin, oder befinden sie sich eher in einem Stadium zwischen Leben und Tod? Ebenso dringlich erscheint ihr die Auseinandersetzung mit den Anforderungen, die an eine gültige Einwilligung zur Organspende zu stellen sind. Es ist geradezu ein Vergnügen, beiden Autoren bei der Gedankenentwicklung zu folgen. Birnbacher ist in seiner Argumentationsführung stringenter, dafür beleuchtet Graumann das Thema aus verschiedenen Perspektiven und berücksichtigt anthropologische, rechtliche, psychologische, soziale und kulturelle Aspekte. Ihr grundsätzliches Anliegen besteht darin, die Frage nach Organtransplantationen „nicht auf die individuelle, persönliche Entscheidung zu reduzieren, sondern sie als hochpolitische zu begreifen, deren gesellschaftliche Folgen unbedingt mitdiskutiert werden sollten“.
Skandale der Transplantationsmedizin
Zur sozialen Dimension des Organspende-Themas zählt Graumann auch die Folgen für die Sterbekultur. Denn sowohl das Hirntodkriterium als auch die Organtransplantation selbst, so ihr Argument, verändern den gesellschaftlichen Umgang mit Sterben und Tod – „und beeinflussen dadurch subjektive Sichtweisen“. Gegen Sanktionierung und moralischen Druck sprechen sich beide Autoren aus, selbst Birnbacher, obwohl er die Pflicht zur Organspende aus ethischer Sicht als gerechtfertigt ansieht. Davon zu sprechen, bedeute jedoch nicht zwangsläufig ein Mehr an Druck und Last. „Wie das Recht der Besteuerung muss die Moral eine Balance halten zwischen Unter- und Überforderung.“
Während Birnbacher im Zusammenhang mit der Organspende die Unterschiede zwischen Pflichten und Rechten erläutert, führt Graumann die Leser in die Praxis der Transplantationsmedizin ein und verschafft dabei einen tiefen Einblick in das deutsche Gesundheitssystem. Neben strukturellen Schwächen weist es Probleme dort auf, wo die Hirntoddiagnostik misslingt. Mehrere Skandale sollen das Vertrauen in die Transplantationsmedizin untergraben haben. Es lässt sich viel lernen aus den zwei Beiträgen, nicht nur in ethischer, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Welche Sicht auf die Organspende überzeugender ist, müssen die Leser selber entscheiden. Impulse zum Nachdenken erhalten sie allemal. Eine eindeutige Parteinahme erweist sich ohnehin als schwierig. Dafür ist das Thema zu komplex.