Verschwörungstheoretiker und Extremismusexperten (Teil 2v2)

Teil 2: Extremismusexperten, Expertenextremismus und eine Alternative *

von Katja Leyhausen

Lesedauer 6 Minuten

1bis19 - Verschwörungstheoretiker und Extremismusexperten (Teil 2v2)
Die Hexenprobe  – Stich von G. Franz (1878)

Meiner Analyse der Figur des Demonstranten, Extremisten und Verschwörungstheoretikers möchte ich nun noch ein Gegenbild hinterherschicken – ein Bild der Extremismusexperten selbst. Ich halte dieses Bild für realistischer, weil man es aus den publizierten Forschungsergebnissen methodisch herausarbeiten kann. Alles, was ich gesagt und zitiert habe, ist belegt (hier nur an Beispielen).

1. Aus empirischen Befragungen, so sagen die Experten, sei als Forschungsergebnis hervorgegangen: Wer gegen die COVID-Impfpflicht auf die Straße geht, will sich nicht impfen lassen. Wer Opposition auf der Straße macht, der wählt oft eine Oppositionspartei (CeMas 17.02.22). Das heißt: Die Experten geben Selbstverständlichkeiten als Forschungsergebnisse aus. Aber das, was schwierig ist, erforschen sie nicht.

2. Da sie keine Zusammenhänge finden zwischen dem Extremismus und den Maßnahmenkritikern, konstruieren sie welche. Dafür überinterpretieren sie zeitliches und räumliches Zusammentreffen. Sie nehmen z.B. den Mörder von Idar-Oberstein, der vielleicht gar kein Extremist war, sondern psychisch krank. Für sie war er ohne Frage ein Extremist. Der Mörder habe, bevor er zur Tat schritt, die Webseiten bzw. Twitter-Accounts von Autoren- und Wissenschaftsblogs besucht (Achse des Guten, um mal ein Beispiel für “Gefährlichkeit” zu nennen). Die Autoren und Leser dieser Blogs (Journalisten, Wissenschaftler, Familien, Hippies, Selbständige, ihr wisst schon) werden dadurch alle auf einen Schlag zu potentiellen Mördern erklärt (ZDF heute live 21.09.2021, ab min 8.43). So werden Kausal- und Sachzusammenhänge simuliert, und die können immer noch unsinniger werden:

Die Impfgegner (also: die radikalen, gefährlichen Impfgegner), die vom Immunsystem reden, würden die menschliche Natur idealisieren. Das aber bedeute “Menschenfeindlichkeit”. Impfgegner meinen, man dürfe sich “nicht einmischen, wenn Menschen sterben, etwa an Corona”. Sie lassen es geschehen, dass Menschen sterben, und das bilde die “Brücke zu völkischen Bewegungen” und zur rechtsradikalen Gesinnung. Wenn man so etwas liest, versteht man schlagartig, warum sich diese Spezialisten Experten “für Irreführung und Desinformation” nennen (Chrismon 25.06.21).

3. Aus solchen empirischen Umfragen und Theorien darüber, wie man zum Mörder wird, schlussfolgern sie: Zwischen 25 und 30 % der Bevölkerung tendierten in Deutschland zu “Verschwörungstheorien” (Tagesschau 19.02.2021). Das ist wieder ein Appell an die Strafverfolgungsbehörden. Kaum muss man hinzufügen: Wer diejenigen als völkische Extremisten bezeichnet, die von einem Immunsystem gegen Erkältungskrankheiten sprechen oder einem unabhängigen Autorenblog folgen, der verharmlost selbst den Nationalsozialismus. Wer öffentlich dazu aufruft, fast ein Drittel der Bevölkerung unter strafrechtliche Beobachtung zu stellen, der verbreitet selbst extremistisches Gedankengut.

4. Wenn sich die Experten ihre korrelativen Pseudo-Sachzusammenhänge ausdenken, dann verdrehen sie Ursache und Wirkung. Vor ein paar Wochen hieß es in einer „Studie“ über Impfgegner und ihre Demonstrationen: Angeblich würden sie “die Einführung einer Impfpflicht … schon jetzt für die Mobilisierung” von neuen Anhängern nutzen. Das ist natürlich “besorgniserregend” (CeMas 17.02.22), weil die Gefahr von Demonstrationen nun einmal darin besteht, dass sie größer werden. Aber der Sache nach verdrehen die Experten hier Ursache und Wirkung. Sie unterstellen, dass die sogenannten Impfgegner selbst an einer Impfpflicht interessiert sind (also wie Spinatgegner an einer Spinatpflicht), weil sie dadurch neue Anhänger für ihren Radikalismus anwerben können. Auch das weist wieder nur zurück auf die Kriminalisierungstechnik dieser angeblich gemeinnützigen Forschung. Denn es bedeutet: Diese Experten – nicht die Demonstranten! – behalten sich vor, jeden neuen gesellschaftlich-politischen Konflikt zu benutzen, um gegen fast 30 % der Bevölkerung zu mobilisieren (MDR 17.06.2021; web.de 23.08.2021; RND 27.10.2021; “Klimawandel” wird ausdrücklich erwähnt).

5. Zu erwähnen bleibt schließlich die Psychopathologisierung der Demonstranten: Sie erklären sie für verrückt (Correctiv 28.06.2021). Nicht nur der Gesundheitsminister behauptet, für Impfgegner bedeute seine Impfpflicht eine psychische “Erleichterung”. Die Experten haben ihm dafür das Stichwort gegeben. Denn sie meinen, durch eine Impfpflicht könnten die Impfgegner es auf den Staat schieben, wenn sie sich am Ende doch impfen lassen (ZDF heute 04.12.2021). Die Pflicht verschafft ihnen ein Gefühl von Freiheit – da sie doch selbst beim Gedanken an den kleinen Pieks unter lauter Zwangsvorstellungen leiden! Solche Anmaßungen geben den besten Aufschluss über die Qualität der gesamten “Forschungsrichtung”:

Das Schüren einer paranoiden Stimmung

Die unplausiblen Sachzusammenhänge, die sich diese „Forscher“ da zusammenreimen, können sie durch Psychologisierung in ihr Untersuchungsobjekt hineinprojizieren. Der Zusammenhang ist unsinnig, weil die Verschwörungstheoretiker und Impfgegner nicht ganz bei Trost sind. Die Experten verbergen mit der Methode ihr eigenes Unvermögen. Auch die Kriminalisierung profitiert davon. Denn wer psychische Probleme hat, den kann man schnell für unberechenbar und gefährlich erklären. Verhöhnen tun sie die Demonstranten sowieso. Am Gesundheitsminister und der großen Medienpräsenz sehen wir außerdem: Die Experten finden für solche Realitätssimulationen immer einen Abnehmer. Je verrückter, je unzusammenhängender, desto eher finden sie jemanden, der ihnen das abkauft und nachplappert. So finanzieren sie sich! Diesen Forschungsaufwand genehmigen wir uns, das lassen wir uns was kosten!

Das Empörendste daran ist aber, dass mit all dem kein einziges Problem gelöst wird. Man muss sich nur vor Augen halten, was ein Bürgermeister, der samt Familie und Kindern tatsächlich von Extremisten bedroht wird, oder was die Opfer des NSU von dieser Art von Forschung haben, was sie ihnen nützt und was sie davon halten. Wir haben es schon bei Regierungs-Virologen, Prozessmodellierern und Ethikprofessorinnen gesehen: Auch die teuren Extremismusforscher sind nicht in der Lage, einen Gegenstand wissenschaftlich einzugrenzen, relevante Fragestellungen zu formulieren und sie mit passender Methode zu untersuchen. Sie schüren nur eine paranoide Stimmung in der Bevölkerung und bei den Behörden: An die 30% sind gefährlich und böse! Und man erkennt die Bösen noch nicht einmal, denn sie treten ja als Familien, Hippies, Unternehmer, Wissenschaftler und unabhängige Journalisten auf; sie verstecken sich im Internet. Alle sind verdächtig, wie beim Virus. Und mit dieser Stimmung, ich will es nochmal erwähnen, geht Deutschland gerade in einen Sanktionskrieg gegen den russischen Überfall – man hat den Eindruck, in einen Krieg gegen alles Russische überhaupt.

Wie gehen nun wir Demonstranten mit all dem um? Was können wir tun (что делать / schto djelatj, heißt es auf russisch)? Wir sind ja Zeitgenossen, und da muss man aufpassen, dass man nicht in genau dieselben Muster verfällt. Nicht, dass wir auch so auftreten, als wollten wir die ganze Welt retten und andere zu besseren Menschen erziehen. Ich will keine Bekenntnisse nachplappern und Symbole der allerbesten Absicht vor mir hertragen. Man muss auch aufpassen, dass man sich nicht selbst dauernd auf billige Weise über andere lustig macht oder in eine Dauerempörung verfällt. Auch bringt es nichts, mit grandiosem Alarmismus vor der großen Gefahr solcher Realitätssimulationen zu warnen. Drohungen verbieten sich erst recht, weil der Protest der Demonstranten gewaltfrei ist.

Antidisziplin als Alternative

Die teuer bezahlte Realitätssimulation dient – besonders in Krisenzeiten – dazu, die pluralistische Gesellschaft zu disziplinieren, zu kontrollieren. Deshalb muss ich an dieser Stelle noch etwas über Antidisziplin sagen. Antidisziplin ist ein Konzept, das der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau 1980 in seinem Buch über die “Kunst des Handelns” entwickelt hat. Certeau meint: Wir sind Konsumenten, wir sind Medienkonsumenten, das stimmt. Aber Konsumenten sind nicht passiv. Dieses Vorurteil vom trägen, denkfaulen Zuschauer an den Bildschirmen auf dem Zwischengeschoss wird von der Medienindustrie selbst geschaffen. Die Medienproduzenten sind es (wie auch manche Universitätsprofessoren), die sich gerne in der Vorstellung wiegen, sie würden das Land informieren und bilden, sie würden ihre Adressaten erziehen und sie müssten es ihnen immer einfach machen, weil diese Menschen “nur ihre tägliche Ration” abgrasen “wie eine Hammelherde” (Certeau 1988, 294).

Certeau entwirft ein ganz anderes Bild. Er vergleicht den Medienkonsum (und den Konsum überhaupt) mit der Kolonialisierung. Die Geschichte zeige, dass die indigene Bevölkerung aus der jeweils neuen Kultur, der sie sich beugen musste, immer etwas anderes gemacht hat. Sie unterwanderte den Kulturimperialismus nicht, indem sie die neue Kultur ablehnte oder als solche zielgerichtet veränderte. Sie veränderte sie, indem sie sie ihren eigenen Zwecken “listenreich” und leise anpasste. (Man kann das z.B. an den Kreolsprachen sehen). Das nennt Certeau “Antidisziplin” (ebd. 13-16): den produktiven, kreativen und subversiven Umgang mit Konsumprodukten, die uns mit lautem Spektakel zur Passivität verdammen sollen, zum bloßen Wiederkäuen und vor allem dazu, alles mitzumachen.

Diese leise und trickreiche Aneignung ist ein “Wildern”, so sagt Certeau (ebd. 293 ff.). Jedesmal, wenn wir vom Alltag zu Wissenschaft und Nachrichtenkritik nach oben ins Dachstübchen laufen und von dort wieder zurück ins Leben, müssen wir sowieso die Zwischenebene der medialen Realitätssimulationen queren. Wir leben ja doch alle in einem Haus, wir kommen an den smarten Dashboards und Herz-Schmerz-Geschichten, an den großen Experten und Weltenrettern nicht vorbei. In der Figur des dummen und bösen Verschwörungstheoretikers, die dort täglich ihr Bett neu aufgeschüttelt bekommt, werden wir uns selbst immer wieder begegnen müssen. Das ist eine gute Gelegenheit zu wildern! Wir nehmen uns diese böse Figur, die Bilder von Bergamo, die Zahlen der Meldeinzidenzen, ein Wort wie Solidarität, die Einschüchterungsversuche … und wir machen etwas anderes daraus. Die politische Kunst besteht in der “Findigkeit der Schwachen, Nutzen aus den Starken zu ziehen” (ebd. 20 f.).

Ich hoffe hier auf die Jugend, man mag gegen sie sagen, was man will. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass wir sie schon viele Jahre vor die Bildschirme von Smartphone, Tablet und Spielekonsole ins Zwischengeschoss ausgelagert haben. Doch die Kreativität und das Spielerische wird man ihnen nicht austreiben können. Deshalb ist es weiter wichtig, dass wir da sind, dass wir in die Öffentlichkeit gehen, dass wir sichtbar sind. Denn Jugendliche werden sich noch lange an das erinnern, was sie hier sehen. Deshalb danke ich allen, die bei ihrem Protest ein so buntes und kreatives Bild abgeben.

Literatur: Michel de Certeau (1988): Kunst des Handelns (frz. 1980). Berlin (Merve Verlag)

* Rede, gehalten am 12.März 2022 auf einer Veranstaltung der Offenen Gesellschaft Kurpfalz

Teilen