Spaltung überall: Neue Sitzordnung im Orchester?

Gastkommentar von Martina Binnig

Die Beitragsreihe “Wie geht’s weiter” beleuchtet offen die Frage, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen kann. Hat die Corona-Zeit Probleme zu Tage gebracht, die wir beleuchten sollten? Sind wir mit dem Status Quo unseres Zusammenlebens zufrieden? Wir lassen in den kommenden Monaten Menschen aus Politik, Wirtschaft, aus den Medien, dem Bildungsbereich und der Kultur zu Wort kommen.

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Impfordnung statt Stimmordnung?

Quelle: Aerial RGB

Bislang saßen die Mitglieder eines Orchesters nach Stimmgruppen verteilt: hier die Geigen, dort die Bässe, hinten das Blech und so weiter. Damit könnte jetzt Schluss sein, denn demnächst dürfte für die Sitzordnung ein ganz anderes Kriterium ausschlaggebend sein: der Impfstatus. Das sei übertrieben, denken Sie? Nicht unbedingt, wenn man sich den Schlagabtausch unter Musikerinnen und Musikern anschaut, wie er derzeit etwa auf Facebook tobt. Vor Corona waren gerade die freien Orchester, die sich selbst organisieren und finanzieren, geprägt von einem besonderen Teamgeist. Schließlich gibt es dort keine Festanstellungen, sondern gebucht wird, wer durch seine Leistung überzeugt und sich kollegial verhält. Dazu muss man wissen, dass freie Orchester keineswegs mit Amateurensembles gleich zu setzen sind, sondern dass sie beispielsweise im Bereich der Neuen oder der Alten Musik den Normalfall darstellen. Genau diese professionellen Freiberufler waren und sind von den Corona-Maßnahmen am stärksten betroffen, während etwa Orchester in kommunaler Trägerschaft grundsätzlich auch im Lockdown finanziert werden.

„Diskriminierung von Ungeimpften ist ethisch gerechtfertigt“

Jetzt droht zusätzliches Ungemach für die freien Professionellen, denn wer im Kollegium erwünscht ist oder nicht, wird zunehmend an die Impfbereitschaft gekoppelt: Wer sich nicht impfen lasse, sei ein „a-hole“, schreibt etwa ein Musiker in einem Facebook-Chat und erhält Zustimmung. Anlass des Chats war der von ZEIT ONLINE am 23. Juli 2021 veröffentlichte Artikel „Corona-Impfung: Eine Diskriminierung von Ungeimpften ist ethisch gerechtfertigt“. Ein weiterer Chat-Teilnehmer fügt hinzu, dass Impfgegner „alle einen an der Waffel“ hätten und dagegen leider „kein Pieks der Welt“ helfe. Dabei zieht er offenbar keine Sekunde lang in Betracht, dass Skepsis gegenüber den neuen Technologien, die buchstäblich nicht mit herkömmlichen Impfungen vergleichbar sind und bisher nur eine Notzulassung erhalten haben, nicht unbedingt mit genereller Ablehnung von Impfungen korreliert. Ein anderer fordert, dass diejenigen, die sich nicht impfen lassen, im Falle einer Covid-19-Erkrankung die Kosten auf der Intensivstation selbst bezahlen sollten, und wieder pflichten ihm einige bei. Und dann wird es konkret. Bei einem anstehenden Projekt seien zwei „Impfunwillige“ dabei, berichtet einer, und plötzlich steht die Frage im Raum: „Warum werden die nicht ausgeladen?“

In Zukunft: Ausschluss der Ungeimpften?

Wohlgemerkt: Diese Diskussion entspann sich nicht im anonymen virtuellen Raum, sondern unter Musikern und Musikerinnen, die sich persönlich kennen, und sogar unter der Annahme, dass sie selbst, da geimpft, geschützt seien. Dennoch wollen sie mit Ungeimpften nichts zu tun haben. Es ist daher tatsächlich keineswegs ausgeschlossen, dass künftig ungeimpfte Orchestermitglieder von geimpften räumlich separiert werden und sich ein ungeimpfter Bratscher plötzlich neben einer ebenfalls ungeimpften Tubistin wiederfindet. Sofern sie überhaupt noch mitspielen dürfen. Denn schließlich seien die Ungeimpften ja auch schuld, wenn im Herbst die Beschränkungen wieder verschärft werden müssten und es deswegen zu Konzertausfällen komme. Doch was ist, wenn sich der auf einer Studie beruhende Hinweis der US-Gesundheitsbehörde C.D.C, Geimpfte seien in Hinblick auf die Deltavariante ebenso ansteckend wie Ungeimpfte („The New York Times“, 30. Juli 2021), weiterhin bewahrheiten sollte? Was ist, wenn immer mehr Menschen bewusst wird, dass die propagierte Massenimpfung kein Allheilmittel ist und sich Coronaviren nicht ausrotten lassen wie etwa Pocken? Können die Fronten dann noch aufrecht erhalten werden? Vielleicht erübrigen sich derlei Überlegungen bald auch schlichtweg dadurch, dass kaum noch Konzerte in größerer Besetzung stattfinden werden. Nämlich aus ökonomischen Gründen. Falls irgendwann doch alles wie auch immer durchgestanden sein sollte: Wie werden sich die von ihrer moralischen Überlegenheit überzeugten Geimpften und die diffamierten Ungeimpften begegnen? Werden sie wieder vertrauensvoll miteinander musizieren, als wäre nie etwas gewesen?

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