von Katja Leyhausen
Lesedauer 7 MinutenDer Schweigefuchs wird in den Bremer Kindergärten und Schulen verboten, denn rein optisch ist er vom Gruß der türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe nicht zu unterscheiden. Dass der Wolfsgruß im Fußballstadion gezeigt wurde, signalisiert die Gefahr im Verzug: Die Dreijährigen könnten ihre Lieblingskindergärtnerin mit einem türkischen Nationalisten und Neonazi verwechseln. Besonders die Lustige, die mit dem offenen Lachen und dem freundlichen sprachlichen Akzent!
Man könnte meinen, mit dieser politischen Entscheidung (die sich nicht aufs Fußballstadion bezieht) ist das Thema der gefährlichen Vieldeutigkeit von Zeichen dort angekommen, wo es hingehört: In den Kindergarten. Man würde allerdings die Intelligenz unserer Kinder sträflich beleidigen. Sie hat mit dem Verhalten kindischer Erwachsener und Technokraten eben nichts zu tun.
Der Umgang mit vieldeutigen Zeichen als Kulturtechnik
Wenn sich am Sonntagabend, bei der Ziehung der Lottozahlen im Fernsehen, der Vierjährige völlig perplex anhören muss, zu den Lottozahlen gäbe es „alle Angaben ohne Gewähr“, dann tut er, was alle Kinder in einer solchen Situation tun. Er schaut sich vernünftigerweise nach seinen Eltern um und fragt: „Mama, warum ohne Gewehr?“ Diese selbstverständliche Reaktion bei Kind und Eltern nennt man in den Erziehungswissenschaften „Enkulturation“.
Unsere Kultur ist eine Kultur der Zeichen, und Zeichen sind vieldeutig, eine richtige Pandemie von Vieldeutigkeit. Ich bleibe bei den Wörtern, die ebenfalls Zeichen sind, sprachliche Zeichen. In den Bedeutungswörterbüchern unserer Gegenwartssprache – sei es deutsch, französisch, polnisch – wird man kaum ein Wort finden, das nur einen einzigen Bedeutungseintrag hat. Die Mehrdeutigkeit der Zeichen ist die Voraussetzung dafür, dass sie funktionieren. Viel zu groß, zu bunt, zu offen ist in der irdischen Welt die Vielfalt der kommunikativen Situationen, Interaktionskonstellationen, Wirkungsabsichten, Bezeichnungsanlässe. Wörter sind, wie die Lexikologen sagen, polysem, und sie werden, im Kontext des jedesmaligen Sprechens von den Kommunikationsteilnehmern situationsadäquat monosemiert. Diejenige Bedeutung, die in den jeweiligen Kontext passt, wird von den Sprechern abgerufen bzw. gesucht und entdeckt. An der gescheiten Frage des Vierjährigen sieht man: Die Monosemierung ist eine uralte, universelle Kulturtechnik, die sogar die Kinder einwandfrei beherrschen. Die kommunikative Situation muss schon sehr schwer zugänglich sein, hochabstrakt oder sagen wir mal, medial grottenschlecht vermittelt, damit die Identifikation von Zeichen und Bedeutung so schwierig wird, dass diese Kulturtechnik bei erwachsenen Politikern – des Bildungsressorts ausgerechnet – komplett versagt.
Gefährliche Wörter eineindeutig machen
Der Spiegel, der über die Bremer Entscheidung berichtet hat, hält den Schweigefuchs im Kindergarten für ein „vermeintlich harmloses Handzeichen“. Eigentlich hält er ihn für kreuzgefährlich. Nun, für Technokraten und ihre Steigbügelhalter ist jedes Zeichen, jedes Sprechen undjede Kultur gefährlich, weil sie mehrdeutig sind. Schon im Zeitalter des Rationalismus hat die Mehrdeutigkeit der Zeichen die Aufklärer geärgert. Das Sprach- und Kommunikationsideal, das sie in ihren philosophischen Schriften und Grammatiktraktaten, in ihren Wörterbüchern und Aufsatzlehren formulierten, umfasste den richtigen Ausdruck richtiger Gedanken. Nach ihrem rational-wissenschaftlichen Weltbild sollte ein Wort genau eine einzige Bedeutung haben. Es sollte sich im Gebrauch immer nur auf ein und dieselbe Klasse von Gegenständen beziehen lassen und es sollte genau einen Begriff im Denken repräsentieren, damit die Sprache die richtige kognitive Abbildung der außerprachlichen Welt nicht durcheinanderbringe. Umgekehrt sollte es für jeden Gegenstand und jeden Begriff auch nur ein einziges Wort geben. Die fleißige Sprachnormierungsarbeit dieser Zeit erklärt sich durch diesen sprachreinigenden Purismus: Aus dem Sprachgebrauch heraushalten wollte man gleichlautende, d.h. homonyme Wörter und gleichbedeutende, d.h. synonyme Wörter. Außerdem Dialektalismen, Vulgarismen, Archaismen, sogar Metaphern, Fremd- und Lehnwörter. Denn die Eineindeutigkeit der Zeichen sahen die Rationalisten nicht nur als eine notwendige Voraussetzung der richtigen Welterkenntnis an, sondern auch der richtigen Kommunikation. Insbesondere die sprachliche Volksaufklärung, die am Ende des 18. Jahrhunderts Fremdwörter systematisch eindeutschte, war sehr darauf bedacht, dass leicht verständliche und nach Möglichkeit eineindeutige Zeichen zwischen den Menschen herumgereicht werden. Nichts Zweifelhaftes und Fragwürdiges sollte zwischen ihnen stehen.
Für die Eindeutigkeit den Mund weit aufsperren: Gewehr und Gewähr
So haben seit den Tagen der Aufklärung die Sprachnormierer dafür gesorgt, dass wir heute das Gewehr mit dem Buchstaben e in der zweiten Silbe von der Gewähr mit ä unterscheiden, die Ehre von der Ähre, die Lerche von der Lärche. Man nennt diese Paare gleichlautender Wörter völlig unterschiedlichen Sinns Homonyme. Für ihre Oberflächenunterscheidung brauchte es die Normierung der Orthographie. Auch die von den Sprachautoritäten überwachte richtige Aussprache, die Orthophonie, unterschied jahrzehntelang das lange /e:/ in Gewehr vom langen /ɛ:/ in Gewähr. Das war die Regel der seit 1898 geltenden Deutschen Bühnenaussprache, die später auch im Radio und Fernsehen eingehalten werden musste.
Das für den Buchstaben ä gesprochene lange /ɛ:/ nennen die Sprachhistoriker ein Lesephonem. Denn dieser bedeutungsunterscheidende Laut – sprachwissenschaftlich: dieses Phonem – wurde herausgebildet durch überkorrektes Lautlesen alter Druckerkonventionen. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte man im niederdeutschen Sprachraum die Lutherbibel eifrig studiert. Sie war aber auf Hochdeutsch abgefasst, das heißt, in einer Fremdsprache. Beim Bibelstudium und Fremdsprachenerwerb buchstabierte man die Wörter beim Lesen, und wo der Drucker einen morphologischen Umlaut mit dem Buchstaben ä (æ, ả) realisiert hatte (bspw. die Gräben zu der Graben), da gab man ihm aus ganz praktischen Gründen des Leseverstehens einen eigenen Lautwert. Die Aufklärer fanden das später richtig gut, schließlich stand für sie sowieso alles im Zeichen der Präzision. Es sollte nicht nur ein Wort präzise für eine Bedeutung stehen, sondern auch ein Buchstabe präzise für einen semantisch relevanten Laut.
Für unsere Ohren klingt dieses /ɛ:/, für das man den Mund so lange aufgesperrt lassen muss, bis heute unästhetisch, weil es ins Laut- bzw. Phonemsystem unserer Standardsprache gar nicht passt: Hier werden nur geschlossene, gespannte Vokale lang gesprochen (wie i, u, o, in lieber guter Opa), aber offene, ungespannte Vokale kurz (wie a, o, i in alle Onkel irren). Das war seit dem 16. Jahrhundert so. Das lange, ungespannte, offene /ɛ:/ hat in das (sich damals aus den Schreibdialekten erst herausbildende) Hochdeutsche nie gepasst. Es ist gut möglich, dass es sich ohne die künstliche Unterscheidung solcher Wortpaare wie Gewehr und Gewähr schnell wieder verloren hätte. Aber die Rationalisten stellen sich nun einmal bis heute vor, dass auch im Mündlichen niemand der drohenden Gefahr ausgesetzt werden solle, die juristische Gewährleistung mit einer Waffe zu verwechseln, das gesellschaftliche Ansehen mit der Getreidefrucht oder einen Vogel mit einem Baum, nur weil deren Bezeichnungen sich auf ihrem wortgeschichtlichen Wege zufällig zu Homonymen entwickelt haben.
Für Technokraten gibt es keine unschuldigen Wörter
Sie meinen wohl, ein Baum kann gar nicht singen wie ein Vogel? Die Ehre wird kaum jemand auf dem Felde dreschen? Die Lottofee der ARD sei noch nie bewaffnet aufgetreten? Und womöglich wollen Sie sagen, Sie haben noch nie von einem Rechtsextremisten gehört, der mit stillen Handzeichen im Kindergarten für den türkischen Nationalismus agitiert? Die Verwechslungsgefahr der zwei Zeichen – Schweigefuchs und Wolfsgruß – sei also inexistent? Der Schweigefuchs bleibe weiter harmlos, es bestehe gar kein Regelungsbedarf? Kein Anlass zum Verbot?
Für Rationalisten und Technokraten gibt es keine harmlosen, unschuldigen Wörter. Wenn der französische Soziologe Pierre Bourdieu Recht behält, dann sind alle kommunikativen Beziehungen Machtbeziehungen und das rationalistische Ideal der Eineindeutigkeit war, mit seiner logischen Konsequenz, der praktischen Abschaffung von Mehrdeutigkeit, schon immer ein Herrschaftsinstrument. Ein Zeichen – eine Bedeutung, eine Bedeutung – ein Zeichen, und das Verstehen darf keine Umstände machen. Sonst lässt sich das Volk nicht effektiv und wissenschaftlich führen. Stellen Sie sich einmal das Gegenteil vor: die freie Funktionalität der Zeichen, ihre Ambiguitäten, ihr Anspielungsreichtum, die Lust an Rhetorik und stilistischen Nuancen, der Spielraum zwischen ich und du, eine pädagogische Gestaltungsfreiheit für Lehrer und Erzieher! Man stelle sich vor, in unseren staatlichen Bildungsanstalten könnte noch jemand die praktischen Unterschiede zwischen Zeichen intellektuell differenzieren und soziale Beziehungen erfolgreich damit gestalten! Kreativ, selbständig, den Kindern und Menschen in seiner Umgebung zugewandt! Doch die sprachliche und kulturelle Entmündigung, die wir uns von den Technokraten gefallen lassen, ist schon so alt. Wir haben sie akzeptiert bis in die artikulatorischen Verrenkungen beim Aussprechen unseres Grundvokabulars hinein. In den Schulen lassen wir unsere Kinder täglich damit schurigeln.
Verlust der Vielfalt
Natürlich wollen wir nicht, nach Art der sogenannten Neuen Rechten, über Kulturverluste und Verwahrlosung jammern. Der Wolfsgruß ist verzichtbar, und das lange /ɛ:/ war ohne Frage ein materieller Zusatzgewinn. Kultur- und sprachgeschichtlich wird die verlorene Vielfalt an der Oberfläche durch neue Vielfalt fortlaufend ersetzt: Die klassische Literatur mögen wir nicht mehr verstehen, dafür verstehen wir aber die neue Komplexität des Digitalen. Wir kennen die Kategorien der griechisch-lateinischen Rhetorik, Logik und Grammatik nicht mehr, uns fehlt das terminologische Werkzeug für eine verständige Sprachkritik. Aber wir können uns in globalem Englisch mit ChatGPT unterhalten. Die Regeln bürgerlicher Höflichkeit, die Unterscheidung von du und Sie in der direkten Ansprache haben wir aufgegeben. Gewonnen haben wir aber das Gendern. Zudem regiert das Fortschrittsargument: Mit dem immer detaillierteren Wissen des wissenschaftlich-technischen Zeitalters habe die Zahl der Bezeichnungen immer nur zugenommen, so preist man uns die deutsche Wortschatz-Entwicklung an.
Was allerdings nachweislich abgenommen hat, das ist die Kulturtechnik, durch situationsangemessene Monosemierung mit der Vielfalt und Vieldeutigkeit von Zeichen und Sprache so umzugehen wie der aufmerksame Vierjährige am TV. Man muss nur einmal ein altes oder historisches Bedeutungswörterbuch aus der Zeit vor der Aufklärung aufschlagen, beispielsweise ein Wörterbuch der Lutherzeit. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (FWB), das aktuell unter der Leitung von Oskar Reichmann und Anja Lobenstein-Reichmann an der Göttinger Akademie der Wissenschaften fertiggestellt wird und die Zeit von 1350 bis 1650 zum Gegenstand hat, verzeichnet für das Wort Abenteuer 17 verschiedene Bedeutungspositionen (neben zahlreichen abenteuerlichen, damals noch nicht zentral normierten Schreibvarianten). Diese vielen Bedeutungen waren zwar über drei Jahrhunderte und im ganzen hochdeutschen Sprachgebiet unterschiedlich verteilt, und die Menschen waren räumlich und sozial nicht so mobil wie heute. Dennoch heißt die Hypothese der Lexikographen: Wer damals das Wort Abenteuer verwendete, musste zwischen einer großen Vielzahl von Möglichkeiten des situationsadäquaten Verstehens entscheiden. Heute verzeichnet der Online-Duden noch vier Bedeutungen dieses Wortes. Und ob es nun um die Präzision des Abenteuers, um die wirkliche Ehre, die erlaubte Gender-Aussprache, das richtige Schweigezeichen oder andere alltägliche Sprach- und Lebensrisiken geht – immer häufiger hat irgend jemand ein wachsames Auge darauf, dass wir uns beim Zeichengebrauch nicht etwa ohne Anleitung durch einen anderen unseres eigenen Verstandes bedienen.
Zeichen der Macht
Die Stadt Bremen lässt zur Begründung ihrer Intervention mitteilen, die mit „dem Handzeichen […] verbundene politische Bedeutung […] sei mit [ihren] Werten […] absolut unvereinbar“. Man irrt sich also, wenn man denkt, es gehe ausschließlich um die richtige Bezeichnung richtiger Gedanken in einer eindeutigen Situation. Die Situation ist sowieso eineindeutig: Den Schweigefuchs gibt es gar nicht, den Schweigefuchs gibt es nur als Schweigefuchs in Kindergruppen. Dort gehört er hin wie die Ehre zum Gentleman – völlig egal, wem oder was die beiden Zeichen sonst noch zufällig ähnlich sehen. Aufdringliche religiöse oder ideologische Symbole dagegen – der Tauhid-Finger, der Wolfsgruß, die Regenbogenfahne – die gehören ins Fußballstadion eher nicht, und zwar völlig unabhängig davon, ob ihre Bedeutung mit den Werten der Stadt Bremen vereinbar ist.
Wie über die Jahrhunderte hinweg geht es auch heute um die Verkörperung symbolischer Macht: Die korrekte Aussprache des langen, sperrigen /ɛ:/ hat sich nicht so lange gehalten, weil sie präzise ist, sondern weil man damit den Wert der eigenen Person und Institution im Machtgefüge symbolisieren kann. Für den einzelnen ist sie schon immer ein Symbol der gehobenen Schicht und Sprachbeherrschung gewesen, für die staatlichen Institutionen Symbol ihres allfälligen kulturpolitischen Zugriffs. Es gibt keinen Zweifel: In den Bremer Kindergärten und Grundschulen wird das puristische Schweigefuchs-Verbot fortan bereitwillig befolgt werden, nicht nur zur Symbolisierung der öffentlichen Macht, sondern auch im persönlichen Interesse der Erzieher und Lehrer. Sie können sich damit nämlich ihre eigene politische Aufgeklärtheit und moralische Größe beweisen, ihren herausgehobenen gesellschaftlichen Status. Die freundlichen unter ihnen, die mit dem großen Lachen im Gesicht, werden das alles nicht verstehen. Aber die anderen werden sich gern der Anleitung durch die Stadt Bremen und ihre gebildeten Politiker bedienen: Ohne die leiseste Verständnisfrage haben diese Pädagogen noch die kleinsten Kinder mit Maske und Test für die große Corona-Gefahr sensibilisiert. Mit Lehrbuchunterweisung und Gender-Jargon sensibilisieren sie sie für die überragende Vielfalt der Geschlechter. Nun werden sie ihnen wohl fraglos den Schweigefuchs wegnehmen, um sie für den türkischen Nationalismus zu sensibilisieren.