Eine Rezension von Eugen Zentner
Lesedauer 4 MinutenJede moderne Gesellschaft bemüht sich darum, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Wie das erreicht werden soll, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Seit geraumer Zeit dominieren vor allem woke Ideologen und Identitätspolitiker die Diskussion mit einem moralischen Überlegenheitsgestus und einem Ansatz, der Verbote und Tabus ins Zentrum rückt. Im Kern geht es ihnen darum, die Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe von Menschen wie Frauen, Personen mit bestimmten Hautfarben oder geschlechtlichen Neigungen zu einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz zu verhelfen. Um das zu erreichen und die politische, gesellschaftliche sowie ökonomische Situation dieser Gruppen zu verbessern, verurteilen Identitätspolitiker den Gebrauch bestimmter Wörter oder definieren Sprachregeln, tabuisieren Verhaltensformen, hantieren mit Kampfbegriffen und ergreifen „moralisch korrekte“ Erziehungsmaßnahmen.
Dass die gegenwärtige Diskussion der Identitätspolitiker über soziale Gerechtigkeit, Diskriminierung, Rassismus, Gendern oder das fluide Geschlecht auf schiefen Argumenten beruht, erklärt der Psychologe Bernhard Hommel in seinem neuen Buch «Gut gemeint ist nicht gerecht». Zwar befürwortet er die gleichen Ziele, kritisiert jedoch die Sinnhaftigkeit identitätspolitischer Ansätze. Dabei bezieht er sich oftmals auf die zentralen Thesen prominenter Identitätspolitiker und begegnet ihnen mit Gegenargumenten, die auf Erkenntnissen aus seiner eigenen Disziplin basieren.
Meinung entsteht erst in der Artikulation von Gedanken
Eindrucksvoll demonstriert Hommel diese Methode gleich im Anfangskapitel, wo er erläutert, dass bloße Meinungen für die gesellschaftliche Diskussion über jene Themen völlig unerheblich sind – oder sein sollten. Denn Meinungen, so der Psychologe, entstehen oftmals aus Gründen, die Menschen weder selbst verstehen noch vernünftig herleiten können. Sie entstehen erst dann, wenn Gedanken artikuliert und verbalisiert werden. Hommel veranschaulicht das am Beispiel von Umfragen. Diese kommen mit dem Ziel daher zu eruieren, welche Meinungen es zu einem Thema gibt, bewirken aber genau das Gegenteil: Sie erzeugen erst eine bestimmte Meinung. Der Autor stützt sich dabei auf die „sozial-intuitive Entscheidungstheorie“, nach der der wesentliche Unterschied zur herkömmlichen Idee menschlichen Entscheidens in der Annahme bestehe, „dass ‚Gründe‘ nicht mehr den Ausgangspunkt von Entscheidungen darstellen, sondern nur zur sozialen Rechtfertigung von in Wirklichkeit schon längst intuitiv (…) gefällten Entscheidungen dienen.“
Nach diesem Muster handelt Hommel zentrale Begriffe der Identitätspolitik ab, solche wie „Diskriminierung“, „Identität“, „Repräsentativität“ oder „Klischee“. In seinen Erläuterungen verwendet der Psychologe eine einfache und verständliche Sprache, ohne dabei an Argumentationsstärke zu verlieren. Seine Thesen zeichnen sich durch Konsistenz und logische Gedankenführung aus; sie sind nachvollziehbar und überzeugend. Mit diesem Ansatz gelingt Hommel der Spagat zwischen Kritik und Sympathie, auch wenn nicht zu übersehen ist, dass er sich darum bemüht, den moralischen Ansprüchen der Identitätspolitiker gerecht zu werden.
Ist alles Rassismus?
Wie treffend Hommels Argumente sind, zeigt sich beispielsweise in der Auseinandersetzung mit den gängigen identitätspolitischen Abhandlungen über Rassismus und andere Formen der Diskriminierung in Deutschland. Begründet wird diese meist mit Verweisen auf die Kolonialpolitik des deutschen Kaiserreichs. Dass solche Thesen verzerrt sind und sich jenseits der geschichtlichen Realität bewegen, belegt der Autor, indem er vor Augen führt, worum es in der damaligen Kolonialpolitik wirklich ging: wirtschaftliche Interessen deutscher Kaufleute. „Mit anderen Worten“, so Hommel: „Deutsche haben die Bevölkerung deutscher Kolonien aus finanziellen und nicht aus rassistischen Gründen unterdrückt und ausgebeutet.“
Gesellschaftliche Diskriminierung beruhe stattdessen auf der intentionalen Kränkung anderer aufgrund von Merkmalen, „die man selbst nicht persönlich ablehnen muss, von denen man aber weiß, dass die zu kränkende Person mit diesen Merkmalen ein Problem hat.“ In anderen Fällen speise sie sich aus einer unzureichenden Kenntnis der diskriminierten Person und der damit verbundenen Unsicherheit bei deren Beurteilung. Je weniger Menschen in der Lage seien, das Verhalten einer anderen Person vorherzusagen, lautet Hommels Erklärung, „desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Konflikt zu groß wird, als negativ und verunsichernd wahrgenommen wird und mich letztlich dazu bewegen wird, der diesen Konflikt erzeugenden Person aus dem Weg zu gehen. Dies ist der Grundstein für die Ablehnung alles Fremden, Neuen und Ungewohnten.“
Reduktion auf ein einziges Merkmal
Ebenso einleuchtend hören sich seine Argumente im Zusammenhang mit Identität an. Woke Ideologen reduzieren sie gerne und oft auf ein einziges Merkmal. Menschliche Identitäten seien jedoch viel mehr als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, entgegnet Hommel. Dies führe zu einer systematischen und folgenreichen Unterschätzung der jeweiligen Gemeinsamkeiten mit den Mitmenschen: „Die Fokussierung auf ein einziges identitätsstiftendes Merkmal geht zulasten der Gewahrwerdung unserer anderen Merkmale und führt zur Ignoranz von denjenigen Merkmalen, die und den Anschluss an andere Gruppen eröffnen würden.“
Anregend ist die Lektüre insbesondere dann, wenn Hommel sich mit dem identitätspolitischen Bemühen auseinandersetzt, die Sprache teilweise autoritär zu regulieren und sie von diskriminierenden Begriffen zu befreien. Diesem Vorgehen liege seiner Meinung nach ein Sprachmodell zugrunde, das aus drei Annahmen bestehe: Zum einen übe Sprache die Funktion aus, die Realität abzubilden. Zum anderen sei sie verantwortlich für die Vorstellungsbilder, die Menschen haben. Die mentalen Repräsentationen ergäben sich somit direkt aus der Sprache. Und diese Vorstellungsbilder, so die dritte Annahme, steuerten das menschliche Denken und Handeln. Hommel entkräftet dieses Modell, indem er jede dieser Prämissen widerlegt. Dabei führt er unter anderem Beispiele aus dem Medienalltag an und zeigt etwa am Umgang mit dem Fußballspieler Dennis Aago oder dem Kabarettisten Uwe Steimle, inwiefern die Argumente der Identitätspolitiker ins Leere laufen oder ebenfalls aus Klischees bestehen. Das Hauptargument lautet jedoch, dass es nicht die Aufgabe von Sprache und Begriffen ist, für soziale Gerechtigkeit in einer Gesellschaft zu sorgen.
Der Psychologe untermauert seine Ausführungen oftmals mit anschaulichen Comics, die den Sachverhalt noch einmal erläutern und dazu beitragen, den Gedankengang besser zu verstehen. Allerdings beschränkt er sich nicht nur auf Kritik, sondern leistet am Ende einen konstruktiven Beitrag zur Diskussion. Hommel spricht sich unter anderem für eine aktive Arbeit „gegen monothematische Selbst- und Fremddefinitionen“ aus, gegen die Entwicklung von Selbstkonzepten, die sich auf ein einziges Merkmal beschränken. Nicht weniger wichtig erscheint ihm die „Konzentration auf Merkmale, die möglichst breit geteilt werden, um den Fokus weg von der Besonderheit und hin zu den verbleibenden Gemeinsamkeiten zu lenken“. Angesichts der gegenwärtigen Spaltung der Gesellschaft verspricht dieser Ansatz mehr Erfolg als die Strategie der Identitätspolitiker, die mit ihrer Verbots- und Tabuisierungspraxis den gesellschaftlichen Riss eher vergrößern.
“Gut gemeint ist nicht gerecht“ von Bernhard Hommel, 240 Seiten, Klappenbroschur, Westend Verlag, Frankfurt 2023, 22,- €