Sachbuch: «Die Herrschaft der extremen Mitte (2021)» – Eine Diagnose der Gegenwart

Eine Rezension von Eugen Zentner

Lesedauer 5 Minuten

„Die Mittelmäßigen haben die Macht übernommen.“ So lautet die These des kanadischen Soziologie-Professors Alain Deneault, die er in seinem neuen Buch formuliert. Der Titel präzisiert sie in provokanter Manier: «Die Herrschaft der extremen Mitte». Doch wer ist mit der Mitte gemeint? Und was macht sie extrem? Die bürgerliche Mitte ist es nicht. Nicht jene Menschen, die seit über anderthalb Jahren weltweit auf die Straße gehen, um für die Grundrechte zu demonstrieren. Deneault bezieht sich vielmehr auf die politische Klasse – Funktionäre, Abgeordnete und sogenannte Experten. Sie bezeichnen sich gerne als „vernünftig“, „besonnenen“, „normal“ oder „verantwortungsbewusst“. Sie sind, so schreibt es der Autor, die legitimen „Vertreter der Mitte“, während alle, die ihre Politik kritisieren, mit Hilfe der Medien als „unverantwortliche, anarchische, paranoide, verschwörerische, idealistische, verrückte oder extremistische Elemente“ gebrandmarkt werden.

Deutschland als Exempel demokratischer Verzerrung

Das klingt erstaunlich aktuell. Dabei setzt sich Deneaults Buch aus mehreren Artikeln und Beiträgen zusammen, die der Soziologieprofessor zu unterschiedlichen Zeiten in Zeitschriften und Sammelbändern veröffentlicht hat. Wer sich die Situation in Deutschland anschaut, wird überrascht feststellen, von welcher Weitsicht seine Analysen zeugen. Für Deneault selbst eigne sich kein anderer Staat besser dazu, den Begriff der «extremen Mitte» besser zu veranschaulichen. „Der Sozialdemokratischen Partei auf der einen Seite“, schreibt er im Vorwort zur deutschen Ausgabe, und dem Zusammenschluss aus Christlich-Demokratischer und Christlich-Sozialer Union auf der anderen Seite ist es gelungen, den Anschein zu erwecken, dass das Land von der Mitte aus regiert wird.“

Was diese Politik so «extrem» mache, sei die Absicht, nicht „vielfältige Positionen in eine Form kreativer Zusammenarbeit zu bringen“, sondern eine „ungerechte Doktrin als notwendige und alternativlose Entscheidung zu verherrlichen“. Eine bessere Beschreibung für die deutsche Regierungslinie während der Corona-Krise lässt sich kaum finden. Deneault sah die demokratische Verzerrung aber schon vorher. In Deutschland könne man schon länger beobachten, „dass sich die extreme Mitte im klassischen Links-rechts-Spektrum nicht verorten lässt, sondern dessen Abschaffung zugunsten einer extremistischen Ideologie vorantreibt, der es auf diese Weise gelingt, als notwendig, rational, ausgewogen und daher allein möglich darzustellen.“

Mentalität und Herrschaft der Experten und Funktionäre

Das ideologische Programm sehe immer gleich aus. Sein Inhalt beschränke sich immer darauf, den Sozialstaat abzubauen, die Gewinnmaximierung großer Unternehmen zu fördern, den Zugang zu Steueroasen im Ausland zu ermöglichen und die Dividenden-Zahlungen an Großaktionäre nicht anzutasten. „Es spielt überhaupt keine Rolle, ob man sich dann als sozialdemokratisch, sozialliberal, neoliberal oder christdemokratisch bezeichnet, solange derlei Orthodoxie unangetastet bleibt“, so Deneault. Es handelt sich um eine treffende Charakterisierung einer politischen Mentalität, die in der Corona-Krise deutlich zum Vorschein gekommen ist. Unterschiede zwischen den Parteien lassen sich nur schwer feststellen. Fast alle unterstützen den einzig «richtigen» Kurs, von dem nicht die Bürger profitieren, sondern die großen Konzerne.

Den Ton geben sogenannte «Experten» an. Sie sitzen in den Talkshows, geben Interviews und reden auf Pressekonferenzen. Sie mahnen, fordern und teilen kräftig aus. Dass ihre Aussagen den Tatsachen widersprechen, logische Fehler enthalten und keinen Sinn ergeben, wird gerne unter den Teppich gekehrt. Wer sie zu widerlegen versucht, muss mit einer Hetzkampagne rechnen. Nicht scharfsinnige Köpfe finden Gehör, sondern diejenigen, die das ideologische Programm stützen. Sie bekommen den Titel «Experte» verliehen und dürfen „über Teilgebiete der Wahrheit schwadronieren“. Genau darin zeigt sich für Deneault die Herrschaft der Mittelmäßigen. „Die systeminternen Prozesse“, schreibt er, „begünstigen die Besetzung von Machtpositionen mit durchschnittlich begabten Akteuren und drängen sowohl die «Hochbegabten» als auch die vollkommen Unbegabten an den Rand“.

Korrumpierter Wissenschaftsbetrieb und Mediokratie

Das sind deutliche Worte. Und sie werden noch deutlicher, wenn der Autor die Bedingungen im Wissenschaftsbetrieb beschreibt: „Der «Experte», worunter heutzutage die Mehrheit der Akademiker zählt, gilt selbstredend als zentrale Gestalt der Mediokratie“, heißt es an einer Stelle. „Sein Denken ist niemals ganz das seine, sondern Teil einer Denkordnung, die, obwohl durch ihn verkörpert, durch Eigeninteressen motiviert ist.“ In anderen Worten: Die Akademiker verkaufen sich. Der «Experte» mache sich daran, die „ideologischen Aussagen und Scheinargumente“ jener Eigeninteressen „zu vermeintlich reinen Wissensobjekten umzugestalten“. Er darf kritisch sein, aber nicht zu kritisch. Sein Erfolg bemisst sich nicht nach den Forschungsergebnissen, sondern nach dem Volumen der eingeworbenen Drittmitteln.

Deneault schreibt im essayistischen Stil, spritzig und kurzweilig. Er verzichtet auf eine systematische Darstellung und folgt den Assoziationen seiner Gedanken. Seine Sätze sind elegant, aber unverblümt. Sie kommen wuchtig daher und zeugen von einem Esprit, der es ermöglicht, komplexe Zusammenhänge wortgewandt auf den Punkt zu bringen. Die Lektüre ist nicht immer einfach. Der Autor springt von einem Thema zum anderen und zieht Beispiele aus dem franko-kanadischen Raum heran, die nicht allen deutschen Lesern vertraut sein dürften. Das macht es an einigen Stellen schwer, der Argumentation zu folgen. Dennoch gibt es sehr viele einleuchtende Ausführungen, die zwar allgemeine Entwicklungen beschreiben, aber wie ein Brennglas wirken, wenn man sich die Vorgänge in der Corona-Krise vergegenwärtigt.

Die Kulturbranche als willfähriger Sozialarbeiter des Kollektivs

Besonders offenkundig wird das dort, wo sich Deneault der Kulturbranche annimmt. Wie die Wissenschaftler folgen auch Künstler immer mehr dem Imperativ, weniger nach dem eigenen schöpferischen Ansatz zu arbeiten als den Zwecken des Marktes zu dienen: „Es ist an ihnen, sich anzupassen. Und dies nicht zuletzt, weil sich die Geldgeber, indem sie Kunst und Künstler zum Besten unterhalten, als die wahren Schöpfer hinstellen, denn sie allein machen die Kunst überhaupt erst möglich.“ Diese Aussage spiegelt sich im Verhalten namhafter Kulturschaffenden wider, die sich mit Kritik an den Corona-Maßnahmen zurückhalten, um ihre potentiellen Geldgeber nicht zu verärgern. Wie sie reagieren können, haben Werbepartner und der Fernsehsender RTL demonstriert, als der Sänger Michael Wendler sowohl die mediale Berichterstattung als auch die Politik rügte. In nur wenigen Stunden wurden sämtliche Verträge gekündigt.

Die karrierebewussten Künstler wollen in der Corona-Krise nicht anecken, sondern passen sich lieber an. Doch nicht nur das: Einige von ihnen nehmen sogar eine aktive Rolle ein. Auch dazu finden sich in Deneaults Werk passende Worte. „Wie der Experte“, schreibt der Soziologie-Professor, „so lässt sich in Krisenzeiten auch der den Parametern des Verwaltungswesens unterworfene Künstler mobilisieren.“ Er werde „ans Krankenbett der Opfer gerufen, um das Ereignis mittels unzähliger Benefizkonzerte und Unterstützungserklärungen zu entpolitisieren. Damit soll er zum Sozialarbeiter des kollektiven Lebens avancieren. Durch den Zwang, den die Erpressung der Mächtigen auf ihn ausübt, ist er in hohem Maße dazu angehalten, sich bei der kleinsten Katastrophe, deren Darstellung in den Medien ihm vielleicht als Eigenwerbung dienen kann, zu zeigen“.

Das erinnert doch sehr stark an die heutigen Stars, die derzeit mit Elan an der Impfkampagne teilnehmen und im letzten Herbst dafür warben, doch bitte zu Hause zu bleiben. Noch einmal: In der Originalsprache stammen Deneaults Zeilen aus der Zeit vor Corona. An Aktualität haben sie aber nicht verloren. Ihr Wahrheitsgehalt kommt erst jetzt vollends zur Geltung, in einer Krise, die deutlich vor Augen führt, wes Geistes Kind Experten und Künstler sind. Beide Typen verkörpern das Mittelmaß an den Hebeln der Macht, den schwachen, aber autoritären Charakter, der sich mit viel Pathos als moralische Stimme der Nation aufspielt.

Buchcover "Herrschaft der extremen Mitte", Alain Deneault
Die Herrschaft der extremen Mitte von Alain Deneault (Übersetzung v. Christian Driesen), Verlag Westend, Frankfurt 2021
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