eine Rezension von Eugen Zentner
Lesedauer 4 MinutenDie Corona-Politik hat das demokratisch geprägte Weltbild westlicher Staaten auf den Kopf gestellt. Seit zwei Jahren werden Grundrechte auf Basis von Modellrechnungen eingeschränkt. Wer für sie auf die Straße geht, erhält den Stempel «Verschwörungstheoretiker», «Schwurbler» oder «Covidiot». Die Meinungsfreiheit steht nur noch auf dem Papier. Die Zensur grassiert genauso schnell wie die Überzeugung, dass die Menschen gegen ihren Willen zu einer Impfung gezwungen werden dürfen. Liberalität und Rechtsstaatlichkeit erodieren in Windeseile. Der Staat agiert zunehmend autoritär. Was früher als selbstverständlich galt, steht heute auf wackeligen Füßen, auch weil Regierung und Medien die Umwertung der Werte mit einer Agenda betreiben, die höchst manipulativ ist. Das Unrecht offenbart sich in jeder Pore des gesellschaftlichen Lebens. Und dennoch bleibt der ganz große Aufschrei aus. Im Gegenteil: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung lässt sich für die drakonische Politik einspannen.
Warum werden so viele Menschen zu fügsamen Dienern des Unrechts? Wieso rebellieren sie nicht, wenn ihnen die Freiheit genommen wird? Diesen Fragen geht Gunnar Kaiser in seinem neuen Buch «Der Kult» nach. Der Philosoph setzt sich darin mit der Viralität des Bösen auseinander, indem er die These aufstellt, dass nicht SARS-CoV-2 den größten Schaden anrichtet, sondern ein Virus des Geistes – einer, der die Menschen zu Anhängern eines Weltuntergangskultes macht. Er verwandelt sie in ängstliche Sklaven und verkehrt ihre Werte ins Lebensfeindliche. Er lässt sie einer Ideologie folgen, bei der die gleichen Mechanismen wirksam werden wie im Falle kleinerer Religionen oder Sekten.
Grundelemente des Kults
Zu den wichtigsten, so Kaiser, gehöre eine gemeinschaftsstiftende Erzählung. Von ihr gehe eine so große Faszination aus, dass die Ideologieanhänger für jegliche Irrationalität empfänglich werden: „Reale Erkenntnisse spielen dann keine Rolle mehr. Die Erzählung bezieht sich nur noch auf sich selbst. Sie ist selbstreferentiell und es kommt nur noch darauf an, dass sie in sich selbst Bestand hat und «dem Ganzen», der Welt, dem Weltgeschehen einen Sinn verleiht und somit den Einzelnen auffängt in seiner Vereinzelung, seiner Orientierungslosigkeit, ihn einordnet und ihm eine Funktion und damit eine Identität verleiht, an die er sich klammern kann.“
Das Tückische daran, schreibt Kaiser weiter, bestehe darin, dass die Anhänger dieser Erzählung einen enormen Aufwand zu ihrer Verteidigung betreiben müssen. Mit jeder ihrer Aussagen stießen nämlich auf Gegenargumente, in denen auf Widersprüche, logische Fehler und reale Gegebenheiten außerhalb des Kult-Narrativs verwiesen wird. Je mehr psychische Energie man aber zu dessen Verteidigung aufwende, je vehementer man das eigene Weltbild gegen die Fakten zu behaupten versuche, „desto mehr identifiziert man sich mit dem, dem man sich einmal verschrieben hat.“ Die Bemühungen gingen sogar so weit, das Irrationale rational erscheinen zu lassen. Die Glaubenssätze bekämen dann den Anstrich der Wissenschaftlichkeit, jedoch nicht mittels Argumentation, sondern mit Slogans wie «Trust Science» oder «Follow the Science».
Philosophische Reise durch das Dickicht der Kultideologie
Es sind solche Definitionen, mit denen Kaiser zu erklären versucht, wie die Kultideologie nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen konnte. Sein Buch ist eine philosophische Reise durch das Dickicht einer Geisteshaltung, die ins Verderben führt. In ihr zeigen sich krankhafte Symptome, psychische Neurosen und Elemente des Größenwahns. Um sie plastisch zu machen, arbeitet der Autor mit Analogien und Sinnbildern aus Literatur- und Philosophieklassikern. Er greift auf traditionelle Denkfiguren zurück und zitiert Intellektuelle wie Hannah Arendt, Herbert Marcuse oder Ivan Illich. Es ist ein Parcours durch die Ideengeschichte mit Deutungen aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Viele von ihnen kennt man bereits aus Kaisers Videos, mit denen er während der Corona-Krise ein großes Publikum erreicht hat. In dem Buch führt der Philosoph seine Thesen ausführlicher aus, verleiht ihnen noch mehr Tiefe und ordnet sie religions- bzw. sektenkritisch ein, sodass der Kultcharakter der Corona-Ideologie noch deutlicher zum Vorschein kommt.
Nebenbei arbeitet sich Kaiser an den gegenwärtigen Intellektuellen ab. Die Auseinandersetzung mit ihnen zieht sich durch das Buch wie ein roter Faden. Immer wieder kommt der Autor auf dieses Thema zurück. Mal wundert er sich über ihre Passivität, mal prangert er ihre Willfährigkeit an: „Intellektuelle machen sich in einer Mischung aus Feigheit, geistiger Trägheit, überheblicher Arroganz, Opportunismus und ideologischer Blindheit ein weiteres Mal in der Geschichte zu Handlangern eines ebenso utopistischen wie gefährlichen Gesellschaftsumbaus, der nichts weniger als eine zentralistische, dirigistische, planwirtschaftliche, illiberale und entdemokratisierte Weltordnung zum Ziel hat.“ In solchen Aussagen schimmert Kaisers Enttäuschung durch, die oftmals mit Emotionen von Irritation bis Fassungslosigkeit einhergeht.
Eine pathologische Ordnung
Warum auch Intellektuelle der Kult-Erzählung auf den Leim gehen, kann er sich nur damit erklären, dass das Umdrehen und dauernde Wechseln ihrer Bestandteile zu einem „Kurzschluss im Verstand“ führten. Das komme gewissermaßen einer Einweihung in den Kult gleich, einer notwendigen Voraussetzung. Wer dann zum illustren Kreis gehöre, bediene sich einer „Sektensprache“, die kein Verständnis herstellen wolle. Im Gegenteil, schreibt Kaiser: „Die Gruppe soll gerade nicht verstanden werden, sie soll nicht mit anderen kommunizieren, die das eigene geschlossene Welt potenziell bedrohen könnten.“ So werde ihre Stabilisierung genauso gewährleistet wie die Abgrenzung von dem Außen. Auf diese Weise entstehe eine pathologische Ordnung, weil die Mitglieder sie nur aufgrund kulthafter Realitätsverleugnung aufrechterhalten können.
Was den Kult so gefährlich macht, erklärt Kaiser damit, dass die Demokratie zugunsten einer Wissenschaftsdiktatur abgeschafft werde. Um Legitimität zu erlangen, tarne sich diese mit dem verharmlosenden Begriff der «Expertokratie». Das führe schließlich dazu, dass die Technik zum Souverän avanciere, während das Volk an Bedeutung verliere. Es zähle nicht mehr dessen Wille, sondern das, was die Technologie an Möglichkeiten bereitstelle. Der technische Staat stelle daher die perfekte Ausrede für die Entmündigung der Bürger dar. Sie würden abhängig „von seinen Nothilfen, Subventionen, einem digitalen bedingungslosen Grundeinkommen sowie den massenhaft eingesetzten «Gesundheitstechnologien» und Ausnahmezustandsimperativen“.
Argumentationsstark und geistreich
Kaisers «Der Kult» kommt nicht unbedingt als systematisch aufgebautes Werk daher, sondern eher essayistisch, allerdings ohne das Hauptthema aus dem Blick zu verlieren. Der Philosoph zeigt sich gewohnt argumentationsstark, geistreich und gelegentlich sehr ironisch. Es bleibt jedoch fraglich, ob seine Erklärungs- und Deutungsversuche bis zu denen durchdringen, um die es in dem Buch eigentlich geht. Am ehesten werden es die «Ungläubigen» lesen. Mit seiner Analyse will Kaiser ihnen zum Verständnis beitragen, warum dieser Kult in einer vermeintlich zivilisierten, aufgeklärten Gesellschaft überhaupt erst entstehen konnte.
Er will aber auch ein wenig Hoffnung geben, indem er einige Strategien entwickelt, mit denen man sich gegen den Kult und deren Ideologie behaupten kann. Neben dem Aufbau paralleler Strukturen schlägt er vor, das Miteinander in Lebendigkeit und Geselligkeit zu feiern. Das funktioniere nur, wenn man den Mitmenschen nicht so begegne, als wären sie Objekte: „Der andere ist nicht mein Feind, er ist keine Gefahr für mich, sondern die Quelle meiner Freude und meines Lebenssinns.“