eine Rezension von Eugen Zentner
Lesedauer 4 MinutenDie soziale Plattform Twitter ist zu einem wirkmächtigen Medium geworden. Wer heutzutage Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen möchte, muss dort aktiv sein und sich am Diskurs beteiligen, auch wenn dieser bisweilen mit harten Bandagen geführt wird. Oftmals geht es eher unzivilisiert zu, infantil und derbe. Doch es gibt Ausnahmen wie den Wissenschaftler Stefan Homburg, der sich im Mai 2020 auf Twitter anmeldete, um dort Zahlen, Daten und Fakten zur Corona-Krise zu veröffentlichen. Mit seinen Beiträgen stieß er schnell auf hohes Interesse. Sie wurden mehrfacht geteilt und kommentiert, womit Homburg es tatsächlich schaffte, die Diskussion rund um Themen wie Lockdown, Maskenpflicht, Impfung oder Grundrechte zu prägen. Die wichtigsten Tweets sind nun in sein neues Buch eingegangen, in dem der mittlerweile emeritierte Professor aus Hannover sie mithilfe eines Begleittextes erläutert und kontextualisiert.
In «Corona-Getwitter» spricht Homburg quasi das aus, was er auf der Social-Media-Plattform aufgrund der Zeichenbegrenzung nicht sagen konnte. Hier nimmt er die Gelegenheit wahr, die Corona-Krise in all ihren Facetten zu beleuchten. Der Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler macht es ganz chronologisch seit Beginn der Maßnahmen, bleibt an den wichtigsten Stationen stehen und liefert im sachlichen Stil diverse Hintergrundinformationen, die es den Lesern ermöglichen, die Ereignisse richtig zu beurteilen. Wer sich auf die Lektüre einlässt, erlebt einer Reise durch die letzten zwei Jahre Corona-Politik im Schnelldurchlauf. Viele der beschriebenen Episoden dürften bekannt sein, und die ein oder andere könnte wieder das ins Gedächtnis rufen, was aufgrund der Materialfülle, ständig neuer Kampagnen und politischer Ablenkungsmanöver in Vergessenheit geraten ist.
Viel Lob, aber auch Morddrohungen
In seinen Tweets, die jeweils als Screenshot abgebildet sind, verweist Homburg überwiegend auf die amtlichen Daten und Zeitungsmeldungen. Sie enthalten viele mathematische Formeln, Statistiken und Diagramme. Mit solchen Beiträgen hat es der Wissenschaftler geschafft, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Doch die Reaktionen, erfahren die Leser aus dem Begleittext, divergierten teilweise sehr stark. Einige Follower versorgten ihn mit Informationen, sprachen Lob aus oder eröffneten in seinem Namen und ohne sein Wissen einen Telegram-Kanal. Andere diffamierten ihn oder riefen sogar zum Mord auf. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, inwieweit die Anonymität im Internet die Menschen verleitet, ihren niedersten Instinkten zu folgen. Homburgs Erfahrungen sind ein Beweis dafür, dass die gegenwärtige Diskussionskultur inhumane Züge trägt.
Aber warum hat sich der gestandene Wissenschaftler das angetan? Warum begab er sich in eine Arena, die sich als virtuelle Form des römischen Kolosseums beschreiben lässt? Er habe aus der Not eine Tugend gemacht, schreibt Homburg gleich zu Beginn seines Buches. Den Anstoß soll der Ausschluss aus den Leitmedien gegeben haben. Dort trat Homburg vor der Corona-Krise noch als gerngesehener Experte auf, der in Talkrunden oder Interviews über Wirtschafts- und Finanzthemen sprach. Als er schließlich anfing, die Maßnahmen zu kritisieren, wurden die Redaktionen immer unruhiger und die Meinungsmacher in den sozialen Medien immer diskreditierender. Nach einem Interview mit der Journalistin Milena Preradovic wurden schließlich alle Brücken abgerissen. Weil die ehemalige RTL-Moderatorin für die woken Meinungsführer als „Verschwörungstheoretikerin“ gilt, wurde Homburg kurzerhand in Beugehaft genommen. Fortan war er im Mainstream verbrannt. Doch der Wissenschaftler ließ sich nicht den Mund verbieten. „Als glückliches und dankbares Kind der Bonner Republik“, schreibt er, „wollte ich nicht passiv zusehen, wie Deutschland wieder einmal in Irrationalität und Inhumanität versinkt. So startete ich auf Twitter.“
Bewährte Diffamierungstechniken
Seine im Buch aufgeführten Beiträge erinnern an die vielen erhitzten Diskussionen, die sich um die Entscheidungen staatlicher Institutionen drehten oder sich auf die alarmierenden Meldungen oder Behauptungen bezogen, der Anstieg der Infektionen verliefe „exponentiell“. Sie nehmen Stellung zu Demonstrationen und Polizeigewalt, zu den Diskreditierungskampagnen und dem Vorgehen der Sicherheitsbehörden, die Homburg bisweilen köstlich entlarvt. Im Schlussteil etwa präsentiert er ein Foto aus dem Jahr 1989, auf dem folgendes geschrieben steht: „Wir lassen uns von den Roten nicht zu Neonazis abstempeln, nur weil wir für die Wiedervereinigung sind.“ Das Bild soll verdeutlichen, dass in der Corona-Krise die gleichen Diffamierungstechniken angewendet wurden, die schon in der Protestzeit vor dem Mauerfall zum Einsatz gekommen waren.
«Corona-Getwitter» dokumentiert jedoch nicht nur die markanten Ereignisse der Maßnahmen-Politik, sondern auch Homburgs persönlichen Schlagabtausch mit solchen Pandemie-Protagonisten wie Karl Lauterbach oder Christian Drosten. Diese haben dem Wissenschaftler aus Hannover argumentativ nur wenig entgegensetzen können, wie die Tweets und Reaktionen zeigen. Viele Vertreter aus der Politik-Prominenz hätten ihn geblockt, um unliebsamen Debatten aus dem Weg zu gehen. Andere seien zu Kompromittierungskampagnen übergegangen. Doch das soll nur dazu geführt haben, dass seine Followerschaft auf Twitter stieg. Homburg sieht darin ein gutes Beispiel des Streisand-Effekts, der ein soziologisches Phänomen bezeichnet, bei dem ein Versuch, eine unliebsame Information oder Person zu unterdrücken, genau das Gegenteil bewirkt.
Psychologische Erkenntnisse
Neben diesem Effekt führt der Autor vier weitere an, um die gesellschaftlichen Ereignisse während der Corona-Krise begreifbar zu machen. Eine Antwort darauf, wie all das passieren konnte, liefert für Homburg unter anderem das Milgram-Experiment. Dabei quälen Menschen andere Menschen mit Stromstößen sogar bis zum Tod, wenn Wissenschaftler das als wichtig bezeichnen. Der Autor nimmt hier Bezug auf die Impfkampagne und unterstreicht die Rolle des Ethikrats, der STIKO oder des Robert Koch-Instituts. Als nicht minder wichtig bezeichnet er das sogenannte Stockholm-Syndrom, bei dem sich Geiseln aus einem Schutzreflex heraus mit ihren Geiselnehmern solidarisieren. Die gleiche Sympathie brachten viele Menschen Politikern entgegen, die teils drakonische Zwangsmaßnahmen durchzusetzten.
Den Erfolg der Lockdown-Politik beschreibt Homburg hingegen mit dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: „Menschen nennen Gesunde krank oder machen sie sogar krank, um ihnen danach zu helfen. Mindestens genauso skurril muten die Ergebnisse des Asch-Experiments an: „Wenn eingeweihte Mitglieder einer Gruppe ständig falsche Behauptungen aufstellen, stimmen viele Testpersonen infolge Gruppenzwangs zu.“ Eine bessere Erklärung für die gesellschaftlichen Prozesse in Deutschland während der Corona-Zeit lässt sich nur schwer finden. Die Narrative über eine „gefährliche Pandemie“ oder eine „Überlastung des Gesundheitssystems“ haben vielen Menschen den Kopf verdreht und zu absurdem Verhalten animiert. Homburgs Buch erinnert daran so schonungslos wie unterhaltsam.