Sachbuch: «Cancel Culture (2021)»

Von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten

Um die Meinungsfreiheit ist es momentan schlecht bestellt. Wer zu bestimmten Themen das «Falsche» sagt, wird von Veranstaltungen ausgeladen, verliert Aufträge oder den Job. In einigen Fällen droht sogar körperliche Gewalt. Dafür reichen alberne Witze genauso aus wie unüberlegte «Likes», ja selbst vernünftige Kritik an der Regierungspolitik. Umschrieben wird dieses Phänomen mit dem Begriff «Cancel Culture». Der Publizist Kolja Zydatiss beschäftigt sich damit seit mehreren Jahren und hat nun ein Buch vorgelegt, in dem er dieses Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Für ihn ist «Cancel Culture» ein Begriff, den man analog zu «Biedermeier» oder «Goldene Zwanziger» durchaus als Epochenbezeichnung verwenden könnte.

Bevor Zydatiss auf die Entstehungsgeschichte eingeht und seine Ausführungen theoretisch untermauert, zeigt er anhand ausgewählter Beispiele aus dem deutschen und angloamerikanischen Raum, wie sich die «Cancel Culture» konkret äußert. Die Betroffenen wurden wegen ihrer Meinung sozial ausgestoßen, materiell entrechtet oder in existentielle Not gebracht. Andere kamen mehr oder weniger glimpflich davon, mussten jedoch erheblichem Druck standhalten. Als besonders heikel bezeichnet der Autor solche Themen wie (Trans)-Gender, Islam, Migration, Klimawandel oder Corona. Zydatiss belegt dies mit glaubhaften Quellen, die sich unter anderem aus Zeitungsartikeln oder offenen Briefen zusammensetzen. Man merkt dem Buch an, dass es sich um Objektivität bemüht. Die Ausführungen wirken weder populistisch noch polemisch. Der Ton ist eher sachlich, lässt aber erkennen, dass der Autor das neue Phänomen sehr problematisch findet.

Beklagt wird eine Debattenkultur, in der Meinungen zunehmend nicht kritisiert, sondern unterdrückt werden. „Die vielleicht maßgeblichsten Aspekte des heutigen gesellschaftlichen Klimas“, schreibt Zydatiss, „sind die Tatsache, dass immer mehr Menschen fürchten müssen, mundtot gemacht zu werden, und die damit einhergehende zunehmende Verarmung des Meinungs- und kulturellen Angebots.“ Dazu habe auch das 2017 beschlossene Netzwerkdurchsuchungsgesetz beigetragen, das die Betreiber von Internet-Plattformen zwingt, unter hohem Zeitdruck eigentlich ausschließlich Richtern vorbehaltene Entscheidungen über die Rechtswidrigkeit von Äußerungen zu fällen und Löschungen vorzunehmen.

Wurzeln der Cancel Culture

Die wahren Treiber der «Cancel Culture» sieht Zydatiss aber in der «Neuen Linken». Sie verstehe sich als «progressiv» und verfolge eine Politik, der es nicht mehr um Klassenfragen gehe, sondern darum, die Durchschnittsbürger vom Entscheidungsprozess fernzuhalten. Als Grund dafür, so die Argumentation, werde eine Anfälligkeit für Manipulation von Demagogen angeführt. Der Autor spricht von einer Akademikerklasse mit relativ homogenen Vorstellungen und Werten: „Diese Menschen bezeichnen sich selbst als weltoffen, intelligent und qualifiziert (und oft auch als kreativ), sind aufgrund ihrer Karriere oft hoch mobil und stehen bodenständigeren Werten wie Patriotismus, Religion und Tradition skeptisch bis feindselig gegenüber.“

Die Wurzeln dieser neuen Klasse lägen in der 68er-Bewegung. Mit ihr habe das heutige Establishment gemein, dass es sich vom historischen Erbe des Westens entfremde. Die Darstellung dieser Zusammenhänge fällt sehr theoretisch aus, wobei Zydatiss häufig Anleihen bei diversen Wissenschaftlern macht. Mit ihrer Hilfe soll gezeigt werden, inwiefern die 68er traditionelle Werte wie Familie, Heimat oder Religion als präfaschistisch betrachteten. Nicht jede dieser Ausführungen wirkt überzeugend, regt jedoch an, sich mit den Bruchstellen der politischen Linken genauer zu beschäftigen. Dass es sie gibt, kann der Autor plausibel begründen, vor allem an Stellen, die sich auf die Allianz mit dem Großkapital beziehen. „Die neue Klasse ist zweigeteilt“, lautet eine markante Passage. „Ihre Angehörigen bekleiden Führungspositionen teils in der Unternehmenswelt und teils im staatlichen und Non-Profit-Sektor. Sie bleibt dennoch eine Klasse.“

Gefahr für die Demokratie

In seinem Schlusskapitel stellt Zydatiss eine düstere Diagnose: Die «Cancel Culture» sei eine Gefahr für die Demokratie. Sie erzeuge ein Klima der Angst, in dem eine Mehrheit der Bürger sich nicht mehr traut, offen ihre Meinung zu bestimmten Themen zu sagen. Schon heute zeichne sich die gesellschaftliche Situation dadurch aus, dass die Demokratie zwar ständig rhetorisch beschworen, aber praktisch immer mehr ausgehöhlt werde. Aus diesem Grund plädiert der Autor dafür, den Mund aufzumachen und sich der «Cancel Culture» entgegenzustellen. Besonders wichtig sei es, dass die Betroffenen „niemals in vorauseilendem Gehorsam irgendwelche Rückzieher machen oder öffentlich Buße tun.“

Hoffnungsschimmer gebe es durchaus. Zydatiss verweist auf Entwicklungen, die sich positiv bewerten lassen. Wurde die Debatte um Ausladungen, Einschränkungen und Kündigungen früher ausschließlich in den alternativen Medien geführt, findet sie mittlerweile auch in den Mainstream-Medien statt. Der Autor liefert auch dazu einige Beispiele und erwähnt Initiativen, die die «Cancel Culture» dokumentieren. „Die neue Offenheit“, so die Vermutung, „hängt wohl auch damit zusammen, dass zunehmend auch Menschen betroffen sind, die nicht liberal-konservativ, wertkonservativ usw. sind.“ Wie groß das Interesse an dem Phänomen ist, lasse sich anhand zunehmender Suchanfragen im Internet zeigen.

Zydatiss’ Werk ist eine gelungene Arbeit zu einem Thema, das vor allem in der Corona-Krise an Brisanz gewonnen hat. Das Buch bietet einen guten Überblick über die Mienenfelder der aktuellen Debattenkultur und beschreibt in einer klaren Sprache, welche Mechanismen sie in die falsche Richtung bewegen. Es ist eine gute Einführung für alle, die mit dem Begriff «Cancel Culture» wenig vertraut sind. Wer das Phänomen bereits kennt, wird jedoch ebenfalls Passagen finden, die eine Vertiefung ermöglichen. Und besonders besorgte Leser dürfte es freuen, dass es mittlerweile deutliche Gegentendenzen gibt. Das ist ein gutes Zeichen. Denn „je mehr Menschen sich offen äußern, desto weniger können Cancel Culture, diffamierende Etiketten oder andere ausgrenzende, diskursfeindliche Strategien in der Debatte wirken.“

Kolja Zydatiss Cancel Culture Buchcover
Cancel Culture – Demokratie in Gefahr von Kolja Zydatiss, Solibro Verlag Münster, 2021
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