Russisch-Lernen in der DDR und heute

von Katja Leyhausen

Lesedauer 4 Minuten
Frontispiz Briefe an Freunde – Verlag Volk und Wissen 1987

Als Mitglied der ehemaligen DDR-Jugendorganisation “Freie Deutsche Jugend” FDJ  möchte ich hier einen Einblick in die dortigen Inhalte des Russischunterrichts der 80er Jahre geben. Was den didaktischen Aufbau der DDR-Sprachlehrbücher für den Unterricht in Grammatik und Wortschatz angeht, habe ich eine große Nostalgie. Denn diese Lehrbücher waren viel systematischer aufgebaut und für das Fremdsprachenlernen weitaus besser geeignet als die Lehrbücher von heute. Doch hier soll es um den kommunikativen Inhalt gehen: Jedes Lehrbuch spiegelt seine Zeit. Ich zitiere dazu (meine deutsche Übersetzung) aus dem damals üblichen, dem landesweit einzigen Russischlehrbuch für die 8. Klasse, also für 13- bis 14-Jährige. Es kostete einen “Schulpreis” von DDR-Mark 1, 80 und trägt den Titel:

“Wir sprechen Russisch”

Мы говорйм по-русскй. Russisches Lehrbuch für Klasse 8. Volk und Wissen. Volkseigener Verlag Berlin. 1984. 

Auf einer Zeichnung sieht man dort, auf Seite 28, Bernd aus der DDR und Tanja aus der Sowjetunion: einen jungen Mann, über den zu lernen ist, dass junger Mann auf Russisch junoscha/юноша heißt (mit grammatisch weiblicher Endung), und ein heranwachsendes Mädchen, dewuschka/девушка. Die beiden unterhalten sich, während sie es sich im Grünen, unter Bäumen, am Rande eines Sees bequem gemacht haben. Der Zeichner hat für die Begegnung der beiden das künstlerische Motiv eines locus amoenus gewählt: Am idyllischen, weltabgewandten Ort sitzen sich die beiden jungen Menschen neugierig gegenüber und wollen über das sprechen, was ihnen in ihrem Alter wichtig ist. Man spürt die Schwingungen zwischen ihnen. Die dazugehörige Übung für die heranwachsende DDR-Jugend trägt die Überschrift: 

“Lesen Sie/lest, worüber Tanja und Bernd sich unterhalten!”

  • Bernd, bist du Mitglied der FDJ?
  • Ja, ich wurde in der 8. Klasse in die FDJ aufgenommen.
  • Wie viele FDJ-Mitglieder gibt es jetzt in deiner Klasse? 
  • Alle Schüler unserer Klasse sind FDJ-Mitglieder. Wir sind alle am selben Tag eingetreten. 
  • Aber wie habt ihr euch auf die Aufnahme vorbereitet?
  • Wir haben uns in einem Arbeitszirkel darauf vorbereitet, der hieß: “Unter der blauen Fahne”. 
  • Warum “Unter der blauen Fahne”?
  • Weil die Farbe unserer Organisation blau ist, nicht rot wie bei euch. Weißt du, wann unsere Organisation gegründet wurde?
  • Ich denke, im Jahre 1946. Ist das richtig?
  • Richtig.
  • Und wie viele Mitglieder hat die FDJ in der DDR?
  • Fast 2 Millionen Mitglieder.
  • Und kommen Sowjetische Komsomolzen zu euch zu Besuch?
  • Ja, vor kurzem fand bei uns ein Freundschaftsabend statt, an dem sich auch Soldaten der Sowjetischen Armee beteiligten. 

Die Aktualisierung der Methode 

Ich lese diesen Dialog für Lernende im Freundeskreis vor, und wir beschließen, dass die Übersetzung modernisiert werden muss. Wir übersetzen: 

  • Bernd, bist du geimpft?
  • Ja, ich wurde im August 2021 geimpft.
  • Wie viele Geimpfte gibt es jetzt in deiner Klasse? 
  • Alle Schüler unserer Klasse sind geimpft. Wir wurden alle am selben Tag auf dem Schulhof geimpft.
  • Aber wie habt ihr euch darauf vorbereitet?
  • Der Schulelternbeirat hat ein Impfkommando eingerichtet, unter dem Motto: “Impfen hilft!” 
  • Und warum “Impfen hilft”?
  • Weil das der Slogan ist, den die Bundesregierung für die nationale Impfkampagne geprägt hat.
  • Weißt du, seit wann in Deutschland geimpft wird?
  • Ich denke, seit Ende Dezember 2020. Ist das richtig?
  • Das ist richtig.
  • Und wie hoch ist die Impfquote jetzt? 
  • Sie liegt bei 85 %. 
  • Und seid ihr im Austausch mit der globalen Impfkampagne? 
  • Ja, in unserer Stadt fand vor kurzem ein Abend für wissenschaftliche Impfaufklärung statt. Dazu waren namhafte Experten von BioNTech/Pfizer, der EMA und der Berliner Charité eingeladen.  

Eine Diskussion gab es noch darüber, ob man, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, statt Impfen ein anderes Thema einsetzen müsste: Gendern vielleicht, Veganleben oder das Vorzeigen der Ukraine-Fahne, nach dem Muster:

  • Wie viele Lernende*r*inn*en gendern in deiner Klasse? 
  • Alle Lernende*r*inn*en unserer Klasse gendern. Wir haben alle am selben Tag damit begonnen … 

Ein Geständnis

Ich will an dieser Stelle des effektiven und zeitlosen Russischunterrichts noch ein Geständnis ablegen. An meiner Erweiterten Oberschule EOS (im heutigen Sachsen-Anhalt) gab es einen Arbeitskreis “Philosophie”, den wir regelmäßig damit begannen, dass wir das sozialistische Jugendlied “Bau auf, bau auf” sangen. Ich sang gerne, und der Leiter des Zirkels war unser Lehrer für Staatsbürgerkunde, der sich freute, wenn er von ideologischen zu philosophischen Themen übergehen konnte. Die Frage nach der Logik des historischen Zufalls beispielsweise hat uns lange beschäftigt. 

Nichtsdestoweniger war diese Arbeitsgemeinschaft gebildet worden als eine Art Vorhut der Schul-FDJ. Jeder konnte eintreten, und jeder, der eingetreten war, durfte an organisierten Treffen mit westdeutschen Jugendlichen teilnehmen. Ich erinnere mich an zwei sehr engagierte Mitschülerinnen bzw. Mitgliederinnen der 2-Millionen-FDJ, die eines Abends tapfer die vom Lehrer vorgegebene These verteidigten, dass es in der DDR keinen Schießbefehl an Mauer und Grenze gäbe, dass folglich die Mauertoten westdeutsche Propaganda wären. Ich sah die beiden aus der Ferne gestikulieren. Sie gaben sich große Mühe, die westdeutsche Jugend auf den Weg der Wahrheit zurückzubringen. 

Darauf bezieht sich mein Geständnis: Meine Freundin und ich, 16 Jahre alt, gingen damals mit unseren Biergläsern und ein paar Jungs lieber raus vor die Tür, dorthin, wo wir einen locus amoenus vermuteten. Wir rauchten, was wir sonst nicht taten, eine Zigarette, um coolness zu verbreiten. Wir machten uns über die großzügig gemeinten Angeber-Geschenke der Jungs aus dem Westen lustig. Schogetten waren dabei, und die frische Fa-Seife. Später, nach der Wende, fand ich die Marken alle in den ALDI-Regalen wieder und machte mir ein Bild von der westdeutschen Angeber-Großzügigkeit. Doch die Jungs waren gut gekleidet und gut gelaunt. Sie rochen exotisch. Zügig und wortlos gingen wir deshalb zu einem Freundschaftsabend unter Experten über. 

Natürlich war die Knutscherei in jeder Hinsicht unverantwortlich, denn ich kannte weder die Zahl der FDJ-Mitglieder noch die der Mauertoten. Wäre ich heute 16 Jahre alt, wüsste ich mit Sicherheit weder die Höhe der Impfquote noch die der Impfschäden. Als Erwachsene habe ich aber im Rückblick den Eindruck, mit diesem unverantwortlichen Verhalten auf dem Weg einer nicht instrumentalisierbaren, universellen Wahrheit gewesen zu sein. Ich würde sie gerne unseren Kindern mitgeben, damit sie altersgerecht gegen offizielle Propaganda und Fake-News geschützt sind, egal in welcher Sprache und an welchem Ort. 

Mui goworim po russki. Russisches Lehrbuch für die Klasse 8 Wir sprechen russisch
“Wir sprechen Russisch”
Мы говорйм по-русскй.
Russisches Lehrbuch für Klasse 8.
Volk und Wissen.
Volkseigener Verlag Berlin. 1984.
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