Roman Polanskis «J‘accuse» – Die Dreyfus-Affäre und die Bedeutung von Verschwörungstheorien

ein Beitrag von Eugen Zentner

Lesedauer 4 Minuten

1bis19 - Roman Polanskis «J‘accuse» – Die Dreyfus-Affäre und die Bedeutung von Verschwörungstheorien
Alfred Dreyfus 1899 –  Portrait von Jean Baptiste Guth (1855-1922)

Der Begriff «Verschwörungstheorie» ist in aller Munde. Am liebsten greifen ihn regierungstreue Leitmedien auf, um unliebsame Kritiker zu diskreditieren. Genau zu diesem Zweck wurde er einst geprägt und immer dann als Kampfbegriff eingesetzt, wenn in der Öffentlichkeit zu viel Wahrheit kursierte, als es den Mächtigen lieb war. Nicht anders geschieht es seit Beginn der Corona-Krise, in deren Zuge so ziemlich alle das Etikett «Verschwörungstheoretiker» bekommen, die auf die vielen Widersprüche, Ungereimtheiten und möglichen Verstrickungen zwischen Politik und Pharmaindustrie verweisen. Allein die häufige Verwendung des Begriffs suggeriert, dass diese Kritiker nur Hirngespinsten nachgehen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Dabei tut man so, als gäbe es keine Intrigen und Verschwörungen. Doch die Geschichte ist voll von ihnen. Deshalb sei an den Film «J’accuse (2019)» des Meisterregisseurs Roman Polanski erinnert, der sich darin eines brisanten Falles aus dem 19. Jahrhundert annimmt – der Dreyfus-Affäre.

Was war passiert? Alfred Dreyfus, ein jüdischer Artillerie-Hauptmann der französischen Armee, wurde 1894 von einem nicht öffentlichen Kriegsgericht in Paris wegen Landesverrats zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Er soll mit dem deutschen Geheimdienst kooperiert und Spionage betrieben haben. Nach seiner Degradierung wurde Dreyfus schließlich vom Parlament auf die Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guyana verbannt. Dort saß er mehrere Jahre unter unmenschlichen Bedingungen in Isolationshaft, während der eigentliche Täter, ein gewisser Major Ferdinand Walsin-Esterhàzy, weiter in Freiheit leben durfte – bis sich herausstellte, dass der Verurteilte Opfer eines antisemitischen Komplotts im Generalstab geworden war.

Rechtsgefühl steht über Ressentiments

Aufgedeckt hat ihn der damals frisch beförderte Leiter des französischen Auslandsnachrichtendienstes, Marie-Georges Picquart. In «J‘accuse» spielt ihn Jean Dujardin mit stetiger Härte und Zielstrebigkeit, die sich mehr am Rechtsgefühl orientiert als an Ressentiments. Denn auch Picquart, das will der Film gar nicht verschweigen, ist ein Kind des latenten Antisemitismus, der zu jener Zeit unter der Oberfläche der französischen Gesellschaft gärt. Er kann Dreyfus nicht leiden, setzt sich aber für die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens ein, als die Ungereimtheiten und Verstrickungen hoher Militärs im Verlauf seiner Recherchen zunehmend offensichtlicher werden. Polanski inszeniert diesen Feldzug als eine Mischung aus Gerichtsdrama und Detektivkrimi, in dem der Nachrichtendienstchef trotz heftiger Widerstände teilweise auf eigene Faust handelt.

Die Verschwörung gegen Dreyfus war zunächst also auch eine „Theorie“, bestätigte sich dann aber, weil ein hoher Staatsbeamter lange genug ermittelte. Es ist gar nicht so abwegig, auf Grundlage von Ungereimtheiten und Verdachtsmomenten Vermutungen anzustellen. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft sollte es zur eigenen DNA gehören, nach der Wahrheit zu suchen – und sei es per trial and error. Das ist schon deswegen notwendig, damit die Mächtigen erst gar nicht auf die Idee kommen, Intrigen zu spinnen. Dass sie heutzutage so oft „Verschwörungstheorie“ schreien, wenn jemand tief gräbt, klingt daher eher wie ein Eingeständnis: Es gibt etwas, was nicht an die Öffentlichkeit darf. Davon soll der Gebrauch des Kampfbegriffs ablenken. Und ein großer Teil der Gesellschaft macht dabei mit. Er lässt sich für Vorverurteilungen einspannen, ohne nach der Wahrheit suchen zu wollen.

Parallelen zur Gegenwart

Polanski führt diese Mechanismen in seinem Film vor, indem er den Hang zur Verlogenheit thematisiert. Wie heute einige profilierte Kritiker der Corona-Politik stößt auch sein Protagonist Picquart bei den Recherchen zum Fall Dreyfus auf ein Geflecht aus Lügen und Intrigen. Es wurden, wie sich herausstellt, nicht nur Beweismittel gefälscht, sondern auch Indizien bewusst in eine bestimmte Richtung gelenkt. Die Wahrheit spielt für die Verantwortlichen eher eine untergeordnete Rolle. Sie glaubten lieber Gerüchten, die ihre Hierarchien festigten und ihr Weltbild bestätigten. Nicht anders handeln in der Corona-Krise so manche Politiker, Verbandsbosse oder Vertreter aus der Kulturbranche. Sie tragen das offizielle Narrativ mit, ohne den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Das gilt auch für Schriftsteller und Intellektuelle.

Mutige Vertreter dieser Zunft gibt es heute nicht mehr – zu Dreyfus’ Zeit jedoch schon. Émile Zola schrieb dem Präsidenten einen offenen Brief, der dem Film seinen Titel gibt. „J’accuse“, ließ der bekannte Schriftsteller wissen – „ich klage an“. Wen Zola anklagt, führt der Film anhand einer Montage vor, in der die Adressaten aus den höchsten Kreisen jeweils die Zeitung lesen, wo ihnen Manipulation, Rechtsbruch, „Mittäterschaft an einer der größten Ungerechtigkeiten“ sowie ein „Verbrechen an der Menschlichkeit“ vorgeworfen wird. Dafür wurde Zola wegen Verleumdung verklagt. Eine solche Reaktion dürfte bekannt vorkommen. Wenn man die Corona-Krise Revue passieren lässt, offenbart sich ein Muster. Wer die Maßnahmen-Politik kritisiert und auf staatliche Verfehlungen aufmerksam macht, dem droht immer häufiger juristische Verfolgung.

Solche Parallelen machen Polanskis «J‘accuse» zu einem sehr aktuellen Film. Obwohl 2019 erschienen, verweist er noch vor der Corona-Krise darauf, was die westlichen Gesellschaften in wenigen Monaten erwarten wird. Er skizziert ein von Innen verrottetes System, in dem Vertuschung und Verdrehung von Fakten genauso salonfähig sind wie Hass und Verleumdung durch manchen Medien. Die Dreyfus-Affäre spaltete damals Politik und Gesellschaft. Höchste Kreise im Militär wollten die Rehabilitierung des verurteilten Artillerie-Hauptmanns verhindern. Antisemitische und konservative Zeitungen hetzten Teile der Bevölkerung auf. Menschen, die Dreyfus unterstützen wollten, wurden bedroht, verurteilt oder aus der Armee entlassen. Ähnliche Zustände hat die Corona-Politik gezeitigt. Ob die heutige Krise genauso positiv endet wie damals, wird sich zeigen. Der Fall Dreyfus vergegenwärtigt zumindest, wie wichtig Verschwörungstheorien sind. Polanskis Film unterstreicht das mit einem ästhetischen Schliff, der die pejorative Bedeutung dieses Kampfbegriffs verblassen lässt.

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